Читать книгу Der Schritt in den Abgrund: Redlight Street #173 - G. S. Friebel - Страница 6

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Spüren sie denn nicht, dass sie mich quälen? Ich kann doch nicht mehr, ich bin am Ende, meine Kräfte sind aufgebraucht. Warum sehen sie das nicht? Warum lassen sie mich nicht endlich in Frieden. Ich will nicht, ich will doch nicht mehr...

Der Drang zu schreien wurde übermächtig. Es war furchtbar, noch wehrte sie sich verzweifelt dagegen, aber ihr Körper bäumte sich auf. Er tat einfach, was er wollte, er reagierte nicht mehr.

Der Mund öffnete sich zu einem urgewaltigen Schrei. Und alles brach sich Bahn. Sie schlug mit den Händen gegen die raue Wand, aber das brachte ihr keine Erleichterung. Sie schrie und begann jetzt auch noch zu toben. Und dann schlug sie mit dem Kopf gegen die eisenharte Tür. Der Schrei erfüllte den Raum und hüllte sie ein.

Die Tür wurde aufgerissen. Das junge Mädchen sah zwei große Frauen auf sich zukommen. Es kroch bis ans Ende des Zimmers schrie aber weiter.

»Das ist ja nicht zum Aushalten«, sagte die eine. »Da wird einem ja ganz komisch zumute.«

»Man gewöhnt sich an alles.«

»Und was machen wir jetzt?«

Die Aufseherin bückte sich nach dem Mädchen.

»Nein, lasst mich, nein!« Noch einmal bäumte sich der schwache Körper auf. Er schien Riesenkräfte zu besitzen.

»Ich will nicht...«

»Lass sie doch toben, dann wird sie schon ruhig werden.«

»Wenn ich nicht aufpasse, zerschlägt sie sich an der Tür noch den Schädel.«

»Armes Ding!«

»Los, jetzt ist der Augenblick gekommen. Pack sie, und dann auf das Bett, schnell!«

Sie legten sie auf die schmale Pritsche, man hatte schon vorgesorgt. Es war ja nicht das erste Mal, dass sie sich so benahm. Ehe sich das junge Mädchen versah, waren seine Hände und Füße angeschnallt. Jetzt konnte es nur noch den Kopf bewegen.

»Na, geschafft. Da kann ich ja wohl wieder gehen?«

»Ja, jetzt werde ich schon allein mit ihr fertig.«

Schritte entfernten sich.

Das Mädchen schrie noch immer. Aber die Stimme wurde immer leiser und wehklagender.

Die Wärterin Loni Schnepper hatte sich auf den Bettrand gesetzt und strich ihm die Haare aus der Stirn. Dabei sprach sie ruhig auf das Mädchen ein.

»So ist es gut. Ja, ja, ja, jetzt geht es uns wieder besser. Nun werden wir ganz ruhig sein, und gleich werden wir schlafen. Sicher, nun ist alles überstanden. Nun braucht man keine Angst mehr zu haben. Am Ende ist man müde, so müde.«

Das junge Mädchen hatte die Augen geschlossen, aber die Worte drangen bis zu seinem Herzen. Es fühlte den Balsam, der von ihnen ausging. Langsam quollen die Tränen unter den geschlossenen Lidern hervor. Es schrie nicht mehr, mit verzerrtem Gesicht lag es da und weinte.

»Werden wir jetzt schlafen?«

»Lassen Sie mich allein, bitte.«

»Ich bleibe gern noch ein wenig, wenn es hilft. Ich kann gut noch ein wenig bleiben«, sagte Loni in ihrer gutmütigen Art.

»Bitte, gehen Sie!«

Sie war dem jungen Mädchen nicht böse. Noch einmal tätschelte sie seine Wange und sagte: »Ich komme später wieder, dann löse ich die Fesseln, ja?«

Leise ging sie aus dem Raum. Die schwere Eisentür fiel ins Schloss, der Schlüssel wurde umgedreht, dann war Stille.

Angelika Weiß lag wie tot da, die Tränen nässten weiter ihr schmales, eingefallenes Gesicht. Der Kampf war noch nicht ausgestanden, sie fühlte es. Aber sie war jetzt stark genug, um denen Herr zu werden. Sie wollte die heißen Tränen fortwischen, aber die Hände waren gefesselt. So lag sie da und weinte.

Aber das brachte ihr auch keine Erlösung. Sie öffnete die Augen und sah über sich die raue Decke, die weißen Wände, das vergitterte Fenster, die kleine Luke in der Tür. Alles war so schrecklich, und wieder machte sich die Angst breit. Sie war nie allein gewesen. Davor fürchtete sie sich am meisten. Allein, allein, allein ...

Sie hatte es ihnen gesagt, sie auf Knien angefleht und gebettelt: »Lasst mich nicht allein.«

Aber dann war sie wieder einzeln gelegt worden. Die anderen hielten ihre Schreikrämpfe nicht aus. Die ganze Abteilung wurde nervös und drehte durch. Und so hatte man sie hier in den Krankenflügel gelegt. Allein!

Sie wollte ja nicht schreien, aber sie musste. Sonst konnte sie die Träume nicht mehr ertragen. Sie kamen doch immer wieder! Immer! Wenn sie glaubte, es überstanden zu haben, dann waren sie wieder da, packten sie, hielten sie fest; und dann war alles wieder da, dann sah sie es ganz deutlich, so wie jetzt...

Da waren die Leiter, der Apfelbaum, sie sah es, zum Greifen nah und dann sah sie Philip!

»Philip.« Sie merkte gar nicht, dass sie diesen Namen immer wieder vor sich hin flüsterte: »Philip!«

Wieder begannen die Tränen zu laufen.

»Oh, Philip, Philip!«

Der gemarterte Körper suchte sein Recht. Er war am Ende. Und so dauerte es nicht mehr lange, bis sie eingeschlafen war.

Friedlich wie ein Kind lag sie da und schlief.

Über eine halbe Stunde war inzwischen vergangen, als sich wieder vorsichtig die Tür öffnete. Fast lautlos. Die beiden Frauen standen auf der Schwelle.

»Nicht möglich«, flüsterte die eine, »wie friedlich sie jetzt daliegt. Glaubst du nicht, wir sollten sie so lassen? Ich meine, wenn wir sie von den Fesseln lösen... Glaubst du nicht, das alte Theater wird wieder von vorn losgehen, wenn sie aufwacht?

»Vorläufig nicht. Wenn wir Glück haben, gibt sie jetzt eine Woche Ruhe.«

»Das verstehe ich nicht, so tobt sie nicht immer?«

»Nein.«

»Warum heute?«

»Ihr Anwalt war da. Immer wenn er dagewesen ist, bekommt sie anschließend einen Schreikrampf.«

»Warum?«

Loni hatte schon die Fesseln gelöst und ging zur Tür zurück.

»Komm, in der Wachstube reden wir weiter. Ich will nicht, dass sie jetzt aufwacht.«

»Du bist wie eine Mutter zu ihr.«

»Sie tut mir verdammt leid.«

Die Tür wurde wieder geschlossen. Sie gingen über den langen Flur davon. In der Wachstube stand noch der Kaffee und die angerauchten Zigaretten.

»Dies ist also dein erster Dienst?«, wollte Loni wissen.

»Ja«, sagte Frau Lang. »Einmal muss man immer anfangen.«

»Es ist nicht einfach!«

»Man hat mir gesagt, Untersuchungshaft ginge noch. In einer wirklichen Anstalt würden erst die Probleme auftreten. Wenn sie schon ziemlich lange einsitzen, könnte es entnervend sein.«

»Ach, das glaube ich nicht. Hier haben wir auch unsere Probleme. Zwar nicht immer so ausfallende wie bei dieser Kleinen, aber es ist nicht einfach.«

»Ich hoffe, ich lerne es, so zu werden wie du!«

»Danke«, sagte Loni. Und nach einer kleinen Weile: »Ich glaube, sie mögen mich auch ganz gern, die Frauen.«

»Wie alt ist sie eigentlich?«

»Sie wird wohl gerade erst neunzehn geworden sein.«

»Sie ist ja fast noch ein Kind? So sieht sie auch aus, unfertig und kindlich.«

»Ja, das kann man wohl sagen.«

Die beiden Frauen gossen sich Kaffee nach, gaben Zucker und Sahne in die Tasse.

»Und weswegen ist sie jetzt hier?«

»Wegen Mord.«

Maria Lang riss die Augen auf.

»Die Kleine?«

»Ja!«

»Eine Mörderin?« Sie sah in die Tasse.

Loni sagte ärgerlich: »Sie ist noch nicht verurteilt, in unseren Augen ist sie noch gar nichts.«

Maria sah ihr Gegenüber an. »Du hast es also nicht gern, wenn man sie Mörderin nennt?«

»Nein.«

»Ist das nicht Sand in die Augen streuen? Wenn ich mich nicht irre, fängt in fünf Tagen ihr Prozess an.«

»Ja!«

Maria nahm sich eine neue Zigarette.

»Ich habe damals keine Zeit gehabt, Zeitungen zu lesen. Ich war ja in der Ausbildung und hatte noch meinen Haushalt nebenher. Weswegen, ich meine, wen hat sie denn umgebracht, die Kleine.«

»Ihr eigenes Kind!«

Maria ließ die Zigarette fallen.

»Eine Kindesmörderin! Du kennst doch die Richter und Geschworenen, die lassen dann doch kein gutes Haar an ihr, und volljährig ist sie auch. Du meine Güte, ich versteh einfach nicht, warum du noch Mitleid mit ihr hast. Dann ist sie ja gar nicht so unschuldig, wie sie scheint, dann ist das ja eine ganz gerissene Person. Sie hat dich eingelullt, aber das wird jetzt auch nichts mehr helfen. Man wird sie rechtskräftig verurteilen, ob sie will oder nicht«

Loni sagte: »Ich wünschte, sie würde nicht verurteilt werden. Ich habe das Gefühl, dass sie unschuldig ist. Aber komisch ist das schon: Die Kleine will selbst verurteilt werden. Sie sieht im Leben keinen Sinn mehr. Sie will nicht mehr in die Freiheit zurück.

Gestern habe ich mit ihrem Anwalt gesprochen. Sie macht es ihm sehr schwer. Ja, sie betont immer wieder, sie habe Philip umgebracht. Sie hätte ihn wissentlich ermordet.«

Maria fühlte, wie es ihr kalt über den Rücken lief.

»Tatsächlich?«

»Ja, sie steckt voller Merkwürdigkeit. Ich versuche, sie zu verstehen; aber sie lässt niemanden an sich heran. Sie ist wie versteinert.«

»Hat sie denn keine Eltern mehr?«

»Doch, auch Geschwister. Aber die wollen von ihr natürlich nichts mehr wissen. Sie halten sie für schlecht, bodenlos schlecht und trauen ihr die Tat zu. Sie sind nicht ein einziges Mal hiergewesen und haben sich nach ihr erkundigt.«

»Vielleicht leidet sie deswegen so?«

»Nein, ich glaube, sie hat sie vergessen. Nein, wenn ihr Anwalt kommt, dann muss er ja von dem Fall sprechen und ich habe das Gefühl, dann steigen die Erinnerungen in ihr auf, und sie sieht alles wieder vor sich. Das kann sie einfach nicht verkraften.«

»Jeder Mörder soll ja hin und wieder Gewissensbisse haben.«

»Nein, das meine ich nicht. Bei ihr ist das anders. Sie hat ihn bestimmt nicht töten wollen. Ich glaube es nicht, es ist alles so widersprüchlich.«

Aber jetzt konnten sich die beiden Frauen nicht mehr über den Fall Weiß unterhalten. Die Essenszeit war herangerückt, und sie hatten alle Hände voll zu tun.

Der Schritt in den Abgrund: Redlight Street #173

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