Читать книгу Der Schritt in den Abgrund: Redlight Street #173 - G. S. Friebel - Страница 7

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Die Sirene hatte sie aufgeweckt. Angelika öffnete die Augen. Durch das kleine Fenster fiel jetzt Dunkelheit. Die nackte Lampe unter der Decke verbreitete helles Licht Nach zweiundzwanzig Uhr würde man es löschen. Sie erhob sich.

Von dem Anfall wusste sie schon nichts mehr. Sie nahm ihr Essgeschirr und wartete, bis man die Tür öffnete. Maria tat es, und sie war erstaunt, die junge Frau so ruhig und gelassen zu sehen. Schon wollte sie sagen: »Geht es wieder besser?« Aber dann dachte sie unwillkürlich: So sieht also eine Mutter aus, die ihr Kind getötet hat. Du mein Gott, ich würde wahnsinnig, ich meine, wenn ich ...

Angelika war schmal und zerbrechlich, mit langem, dunkelbraunem Haar und sanften braunen Augen. Sie wirkte wie ein junges, verspieltes Mädchen. Aber wenn man genau hinsah, dann erkannte man den bitteren und wehen Zug um ihre schmalen Lippen. Sie kannte das Leben schon, sie war bis unten auf den Grund getaucht und kannte auch die bittere Neige.

Sie verließ ihr Zimmer. Gleichgültig reihte sie sich mit den anderen ein. Ihre Gedanken schienen weit fort zu sein. Aber im Augenblick war sie gar nicht fähig, zu denken. Nach so einem Anfall musste sie erst wieder abschalten.

Nach dem Abendbrot versuchte sie, noch ein wenig zu lesen, aber ihre Gedanken waren nicht bei der Sache. Immer wieder musste sie an den Anwalt denken. Er hatte Verschüttetes wieder aufgewühlt, hatte noch einmal den Anfang der ganzen Geschichte wissen wollen. Dinge, die sie für vergessen gehalten hatte, waren wieder an die Oberfläche gekommen.

Da war auch wieder Ulis Gesicht aufgetaucht. War er wirklich der Anlass gewesen? War er wirklich der Stein, der alles ausgelöst hatte? Aber nach Uli kamen noch so viele Gesichter. Eine ganze Straße von Gesichtern. Und dann waren da auch Zilli, Valerie und Jutta. Was sie jetzt wohl machten? Ob sie wohl alles in der Zeitung mitverfolgt hatten? Ob sie auch glaubten, dass sie eine Mörderin war?

Angelika schluckte. War es ihr nicht gleichgültig, was die anderen dachten? Jetzt war doch alles so unwichtig, so gleichgültig. Sie ließ das Buch auf das Bett fallen.

Wenn ich tot wäre, grübelte sie weiter, dann brauchte ich nicht mehr zu denken, mir mein Gehirn zu zermartern. Dann hätte ich Ruhe, für immer Ruhe!

Aber ich bin nicht tot, ich muss weiterleben. Warum ist das so? Auf der Welt sterben so viele Menschen, jede Minute. Es gibt so viele Menschen, die wollen nicht sterben und müssen doch; und ich will nicht mehr leben und maß weiterleben. Aber das Leben hat keinen Sinn mehr für mich. Wenn es wirklich einen Gott gibt, wie wir es in der Schule gelernt haben, warum sieht er nicht, dass ich nicht will, dass ich nicht mehr leben will, dass alles sinnlos für mich geworden ist? Ja, und wenn er wirklich so ist, dass er auch die Zukunft kennt, warum hat er dann das alles zugelassen? Warum hat er mich nicht daran gehindert? Warum nicht?

In dieser Sekunde sah sie auch wieder die Gesichter der Eltern. Sie war ihnen nicht böse, dass sie nicht zu ihr kamen. Sie kannte sie ja so gut! Alles wurde bei ihnen nach der Außenwelt geprägt. Man musste die Tochter verstoßen. Die Nachbarn auf der Straße sollten nicht etwa denken, man hätte mit dem verdorbenen Geschöpf auch noch Mitleid. Das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Sie hat es sich selbst zuzuschreiben. Wir haben sie ja nicht fortgejagt, sie wollte es ja besser wissen.

Angelika glaubte förmlich, die Stimmen zu hören. Sie sah das Haus vor sich, die Mutter, den Vater, den Bruder und die kleine Schwester. Sie lächelte bitter. Auch wenn sie glaubten, sich von allem zu lösen, die Presse würde schon dafür sorgen, dass sie mit in den Sog gerieten. Nichts war denen heilig.

Ob auch Uli noch an sie dachte? Vielleicht hatte er jetzt ein schlechtes Gewissen? Der Anwalt hatte ihr gesagt, dass in der Presse ihre ganze Lebensgeschichte abgedruckt würde, bis zum Prozess. Sie hatte ja alles aussagen müssen. Und man würde daraus eine Geschichte machen. Alle würden sich darin wiederfinden, auch Zilli, Valerie und Jutta. Die würden schön staunen!

Sie lächelte bitter.

In fünf Tagen würde ihr Prozess beginnen. Fünf Tage durfte sie sich hier noch verkriechen, dann wurde sie wieder an die Öffentlichkeit gezerrt. Vielleicht nur noch einmal, und dann würde sie für immer hinter Zuchthausmauern verschwinden.

Vielleicht werde ich dann bald sterben, dachte sie.

In diesem Augenblick verlöschte das Licht, ein Zeichen, dass man jetzt schlafen sollte. Sie hatte gelernt, sich im Dunkeln auszuziehen. Man lernt ja so schnell. Wenig später kroch sie unter die raue Decke. Aber der Schlaf stellte sich nicht ein. Sie hätte dann wieder für eine Weile vergessen können. Warum hatte sie sich keine Tablette geben lassen?

Angelika schloss die Augen. Wieder schwebte Philips Gesicht vor ihr. Sie stöhnte leise auf.

»Oh, Philip!«

Er war so klein gewesen, so zart, so winzig, so schön. Er war der Inbegriff ihrer Liebe gewesen. Sie hatte ihn im Arm gehalten, hatte für kurze Zeit sein Herz an dem ihren gespürt.

Erinnerungen kamen wieder. Alles nahm noch einmal seinen Anfang....

Der Schritt in den Abgrund: Redlight Street #173

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