Читать книгу An trüben Wassern - G. T. Selzer - Страница 4
Donnerstag
Оглавление„Sie können das Jackett gleich anlassen, Korp, wir haben einen Leichenfund.“ Langer angelte sich seine Jacke und strebte an dem Kollegen vorbei zur Tür.
„Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen, Herr Langer“, murmelte Korp, drehte auf dem Absatz um und folgte seinem Vorgesetzten auf den Flur hinaus, nicht ohne einen wehmütigen Blick auf seinen Kaffeeautomaten zu werfen, der in den nächsten Stunden nicht zum Einsatz kommen würde. Er hasste Tage, die in Hetze und ohne den ersten Büro-Espresso anfingen, ohne all die beruhigenden Rituale, die in angemessener Weise auf den Tag vorbereiteten.
„Wohin?“, fragte er wenig später, als sie sich in dem schon etwas älteren Opel Vectra anschnallten, den man ihnen gegeben hatte.
„Das war im Brentanopark … Moment.“ Langer fasste in seine rechte Jackentasche, fischte einen Zettel hervor, verwarf ihn wieder und kramte in der linken Tasche. Korp trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und versuchte, ruhig zu bleiben.
„Hier.“ Langer war fündig geworden. „Brentanopark, direkt an der Nidda. Am südlichen Ende des Bades. Fahren Sie über die Thudichumstraße und dann links irgendwo rein.“
Es war wieder ein schöner Augusttag gew0rden, nicht mehr zu heiß – die leichte Ahnung des Herbstes, die man frühmorgens noch wahrgenommen hatte, war einer angenehmen sommerlichen Wärme gewichen, jedenfalls warm genug, um Menschenmassen ins Grüne zu locken. Korp lenkte den Wagen über den Alleenring Richtung Rödelheim und malte sich in düsteren Bildern aus, wie die vielen Spaziergänger des Parks und die Gäste des Brentanobads auf die Anwesenheit von Spurensicherung, Rechtsmedizin, Kriminalpolizei, Absperrband und weißen Overalls reagieren würden. Sicher fanden sie es spannend. Sicher würden sie wieder stören.
Das Brentanobad, nicht nur das größte Freibad der Stadt, sondern mit seinen zweihundertzwanzig Metern Länge auch das größte Beckenbad Deutschlands, war in den Neunzehnhundertzwanziger Jahren aus einem Altarm der Nidda entstanden. Die riesige Liegewiese mit dem alten Baumbestand scheint – obwohl durch einen Zaun von ihm getrennt – nahtlos in den benachbarten gleichnamigen Park überzugehen. Jenen Park übrigens, in dem Goethe unter dem mächtigen alten Ginkgo sein berühmtes Gedicht über diesen Baum geschrieben haben soll - eine Legende, an der die Frankfurter beharrlich festhalten.
Die Kollegen von der Kriminaltechnik und Dr. Eilers waren bereits vor Ort. Ebenfalls die erwartete Zuschauermenge, für die ein Kollege in Uniform abgestellt war, um sie außerhalb der Absperrung zu halten.
Korp parkte an einer Gaststätte in unmittelbarer Nähe des Flusses. Zusammen gingen sie über eine kleine Brücke ans andere Ufer hinüber, wo Büsche und Sträucher so dicht unter den alten Laubbäumen standen, dass die Kollegen, nach entsprechender Sicherung der Spuren, eine kleine Schneise durch das Unterholz hatten schlagen müssen, um zu der Leiche zu gelangen.
„Wer um Himmels Willen hat den denn da gefunden?“, brummte Langer in einem Ton, der deutlich machte, dass er es vorgezogen hätte, wenn der Tote nie entdeckt worden wäre.
Cem Özil, der Chef der KTU, deutete stumm auf eine junge Frau mit einem schneeweißen Labrador, die etwas abseits der Schaulustigen stand.
Langer nickte. „Der Klassiker.“ Er winkte Korp zu, der sich daraufhin langsam auf die junge Frau zubewegte, dann schaute er Özil fragend an: „Kann ich schon?“
Der nickte ebenfalls. Langer bückte sich ächzend und ging geduckt in die schmale Öffnung hinein.
Dr. Eilers blickte auf, als er ihn sah, und trat einen Schritt beiseite, musste aber gebeugt stehen bleiben, weil die Höhle nicht hoch genug war. Er gab den Blick frei auf einen menschlichen Körper, der auf dem Rücken lag, noch halb von fauligem Laub, Zweigen und Gestrüpp bedeckt. Die Leiche war vollkommen nackt.
„Männlich, etwa Mitte bis Ende Vierzig. Nach erster Einschätzung etwa zwölf bis dreizehn Stunden tot, also gestern Abend zwischen neun und zehn Uhr; Liegezeit hier etwa genauso lange. Todesursache war höchstwahrscheinlich dieser Messerstich“, Eilers bückte sich und zeigte auf eine schmale, offensichtlich tiefe Wunde im linken Brustkorb. „Direkt ins Herz. Sicherheit natürlich erst nach der Obduktion. Kampf- oder Abwehrspuren auf den ersten Blick keine.“
Es war ein gut aussehender Mann mit braunem, leicht welligem Haar und sportlich durchtrainiertem Körper.
„Mit der Identifizierung könnte es schwierig werden“, fuhr Eilers fort. „Keine Papiere, kein Ausweis, kein Handy, keine Schlüssel.“
„Das heißt, Ihr Hund war nicht angeleint hier im Park?“
Korp steckte seinen Ausweis wieder ein, den er der Zeugin kurz unter die Nase gehalten hatte, und versuchte, ein strenges Bullengesicht zu machen. Was ihm angesichts der kecken Endzwanzigerin, die brav darauf gewartet hatte, ihrer Bürgerpflicht nachzukommen, nicht recht gelingen wollte. Ihre langen, gebräunten Beine steckten in engen Shorts, das knappe Top ließ kaum Wünsche offen.
„Das müssen Sie mir erst mal beweisen, Herr Kommissar!“ Sie lachte ihm fröhlich ins Gesicht und warf mit einem gekonnten Schwung die langen blonden Haare über die Schulter. Der Fund einer Leiche beim morgendlichen Gassigehen im Park schien ihr nicht das Geringste ausgemacht zu haben.
„Na, hören Sie mal, wie sollte der Hund denn sonst da hinten ...“ Korp merkte, wie ihm allmählich wärmer wurde, was nicht nur an der steigenden Hitze des Vormittags lag. Er winkte ab. „Lassen wir das. Ihre Personalien, bitte.“
Die junge Frau verzog das Gesicht zu einer krampfhaft ernsthaften Miene, während ihr weiterhin der Schalk aus den Augen sprühte, stand still, legte kurz die Hand an eine imaginäre Uniformmütze und ratterte: „Jawoll, Herr Kommissar, zu Befehl. Helene Hohenstein, siebenundzwanzig Jahre alt, Studentin der Medizin, wohnhaft in Frankfurt-Rödelheim.“
Das erklärt zumindest, dass sie die Nerven nicht verloren hat, dachte Korp.
Sie machte eine Pause, doch nicht wegen Korps warnendem Blick, sondern um triumphierend hinzuzufügen: „Und das ist Edelgard van der Grooten, genannt Elsie, Herr Kommissar.“
Er schaute irritiert von seinen Notizen auf. Helene Hohenstein zeigte stumm neben sich. Er folgte ihrem Zeigefinger, der auf den Labrador wies, holte tief Luft – und gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass Zuchthunde tatsächlich solche merkwürdige Namen trugen, die auf ihren Stammbaum verwiesen. Trotzdem – dieses junge Luder sollte es nicht auf die Spitze treiben. Außerdem hätte er sein Jackett im Büro lassen oder wenigstens auf die Weste verzichten sollen …
Das junge Luder hatte inzwischen recht umständlich und auf wunderbare Weise eine Börse und ein Smartphone aus der engen Gesäßtasche hervorgezerrt – nie im Leben hätte Korp einen Cent darauf verwettet, dass dies im Bereich des Möglichen gelegen hätte, so knapp, wie der Stoff bemessen war. Aus der Börse zog sie ihren Personalausweis. Korp warf einen Blick darauf, nickte und gab ihn ihr wieder zurück.
„Soll ich jetzt erzählen, wie es war, Herr Komm...“
„Korp, Oberkommissar Korp“, fiel er ihr rasch ins Wort.
„... Herr Korp?“ Ihr Ton sagte: Na, geht doch!
„Ja, bitte, Frau Hohenstein.“
„Aaalso.“ Wieder warf Helene Hohenstein kokett ihre Haare zurück und zeigte in Richtung des schmiedeeisernen Tors am Eingang des Parks. „Wir kamen von da und gingen dann rechts durch den Rosengarten in einem Bogen auf die Nidda zu. Elsie war angeleint, wie immer.“ Sie sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „In dem kleinen Gebüsch hier habe ich sie los gelassen, sie geht so gerne ins Wasser, Sie wissen doch – Labradore lieben Wasser über all...!“
„Weiter!“
„Also wirklich, Herr Korp. Lassen Sie mich doch mal … Na ja, jedenfalls ging sie dieses Mal nicht in den Fluss, sondern verschwand da im Unterholz. Ich hörte sie knurren, kam aber selber nicht rein. Ich duckte mich, konnte sehen, wie sie aufgeregt buddelte ...“
„Sie buddelte!?“
Genervt von seinen Unterbrechungen, verdrehte sie die Augen. „Na, was glauben Sie denn, was ein Hund macht, wenn er unter Erde und Laub etwas riecht, was ihn interessiert?“ Er fing sich einen spöttischen Blick ein, während er sich vorstellte, welche Spuren die Dame Edelgard van der Grooten wohl vernichtet haben könnte.
„Immer weiter ist sie in das Dickicht vorgedrungen; schließlich habe ich sie gar nicht mehr gesehen, Allerdings sah ich vor mir etwas Helles, Weißes liegen. Ein Bein war zu erkennen … Ich bin ziemlich erschrocken ...“
Korp sah Helene Hohenstein an. Nein, sie gehörte nicht zu den Menschen, die beim Anblick einer Leiche laut aufschrien.
„Plötzlich hörte ich etwas ins Wasser platschen. Ich bekam Angst, weil sie eigentlich nie weit weg geht, und weil ich nicht folgen konnte durch das Gestrüpp. Wenn ich sie nicht mehr sehe, werde ich ziemlich unruhig. Ich rief und rief ...“ Die junge Frau, jetzt ernst geworden, machte eine Pause. „Als sie endlich wiederkam, war sie nass.“
Korp sah sich um. Die Nidda bildete hier mit einen Nebenarm eine winzige Insel. Der Hund könnte durch das Dickicht, durch diesen Nebenarm und wieder zurück gekommen sein.
„Und?“, fragte er ungeduldig.
„Und das hat sie angebracht!“ Helene strahlte wieder, bückte sich und löste den Knoten, mit dem eine kleine schwarze Plastiktüte an der Hundeleine festgemacht war – eine von jener Art, die Hundebesitzer tunlichst mit sich führen sollten, um die Hinterlassenschaften ihrer vierbeinigen Lieblinge in den Parks wieder einzusammeln.
Entsetzt wich Korp einen Schritt zurück. „Sie haben da doch etwa nicht …!“
Sie sah zu ihm hoch. „Liebes Bisschen, Kommissar, nun haben Sie sich doch nicht so!“ Dieses Mal lag offene Verachtung in ihrem Blick. Korp schwitzte. „Glauben Sie wirklich, ich würde Ihnen eine Tüte Hundescheiße präsentieren?“ Sie reichte ihm die Plastiktüte, zog sie wieder zurück und sah sich um.
„Ich glaube, ich werde sie den weißen Fährtenlesern da drüben bringen; die sind nicht so zimperlich.“
„Nun geben Sie schon her!“
Er griff nach dem Tütchen; sie hielt es kurz fest, während sie ihn provokant fixierte, dann ließ sie los. Selten war er sich so behämmert vorgekommen. Mit einer Zeugin um ein potenzielles Beweisstück rangeln! Nein, das war nicht sein Tag heute.
Er lugte in die kleine Tüte hinein.
„Rechter männlicher digitus anularis“, dozierte sie und sah ihn abwartend an. „Ringfinger. Sauberer Schnitt, post mortem. Aber der anulus ist noch dran.“ Ihre Augen blitzten. „Nicht das, was Sie denken. Anulus heißt Ring auf Lateinisch.“
Er hatte es inzwischen selber gesehen, blickte von der Tüte auf zu der Frau, von dort zu der Hündin, die drei Schritte abseits auf dem Rasen lag, den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet, und ihn nicht aus den Augen ließ.
Ohne Leine.
Was Korp nicht bemerkte.
„Tja, also, Frau Hohenstein, das dürfte ziemlich wichtig sein. Wir danken Ihnen.“ Er blätterte wie geistesabwesend in seinem Notizblock. „Sie kommen morgen bitte im Laufe des Tages zum Protokoll ins Präsidium, ja?“
Helene Hohenstein stand stramm und salutierte. „Jawoll, Herr Kommissar!“
Ganz gegen seine Gewohnheit pfiff Paul Langer durch seine Zähne, als er in die Plastiktüte sah, die Korp ihm gereicht hatte. Mangels Übung ging der Pfiff gründlich daneben.
„Mit dem Ring können wir vielleicht etwas anfangen.“
Korp nickte. „Der Täter hat den Finger abgehackt, weil der Ring sich nicht abziehen ließ. Mit Sicherheit bringt er uns weiter.“
„Hat ihn dann aber nur weggeworfen. Ziemlich blöd von ihm, einfach nur über die Nidda auf das kleine Inselchen drüben – nicht weit genug weg. Den hätten wir doch ganz schnell gefunden! Hunde haben wir auch. – Was ist denn?“, fragte er, als Korp sich zum wiederholten Male suchend umsah. „Die Leiche ist schon weg.“
„Ja, ich weiß. Ich dachte nur … Ich wollte ...“ Sollte er dem Chef etwa erzählen, dass er eigentlich nur noch einmal einen Blick auf Helene Hohenstein werfen wollte? Doch weder sie noch Elsie waren zu sehen. Er schwenkte die Tüte, ging auf einen Uniformierten zu und bat ihn, sie ebenfalls in die Rechtsmedizin bringen zu lassen.
Tobias Kirchner saß auf dem Schulparkplatz des Wieland-Gymnasiums in seinem Wagen und konnte sich nicht entscheiden auszusteigen. Es war eine kurze Besprechung mit der Schulleiterin angesetzt, bevor er in der übernächsten Woche wieder seinen Dienst antreten würde. Davor, genauer, ab morgen, wollte er sich noch einige freie Tage gönnen, allein – ohne Cora. Und ohne den Kleinen.
Den Jungen würde er vermissen. Ob das auf Cora auch zutreffen würde – daran hatte er seine Zweifel. Nein, eher nicht. Nicht nach dem fürchterlichen Streit heute Morgen ...
Aber erst Frau Dr. Rimbacher-Stöckelmann. Er seufzte tief und stieg aus.
Dann stand er nach Wochen wieder auf dem Schulhof; um ihn herum wuselten, schrien und rannten die Kinder und Jugendlichen – letztere legten in dem Versuch, sich erwachsen zu geben, mit ihrer rüpelhaften Art lediglich unglückliches Zeugnis für ihre pubertären Miseren ab – und Tobias hatte alle Mühe, sich durch das Gewühl einen Weg in den ersten Stock zu bahnen, wo die Verwaltung lag.
„Guten Tag, Herr Kirchner“, begrüßte ihn Brigitte Zimmermann kühl.
„Guten Morgen“, antwortete Tobias steif.
Blöde Kuh, dachte er im Vorbeigehen. Lächerlich, wie sie sich aufführte. Wozu die kindische Siezerei? Was vorbei ist, ist vorbei; kapier das doch endlich. Zumal ohnehin alle Kollegen damals Bescheid gewusst hatten. Als Cora schwanger wurde, musste die Trennung von Brigitte – na ja, eben etwas hastig über die Bühne gehen.
Er ging zielstrebig auf das Chefbüro zu.
„Moment! Sie können da jetzt nicht rein!“
„Wieso nicht? Ich habe einen Termin mit der Alten, und zwar“, er sah auf seine Armbanduhr, „genau jetzt!“
„Sie telefoniert noch!“
„Dann soll sie aufhören!“ Er konnte auch kindisch sein, wenn es sein musste.
Er riss die Tür auf, sah kurz Frau Dr. Rimbacher-Stöckelmann mit dem Telefon am Ohr und ihn mit ungeduldiger Geste nach draußen winken – wie eine lästige Fliege, die man verscheucht. Da war Brigitte schon hinter ihm und knallte die Tür unsanft wieder zu.
„Mit der Polizei.“ Deutlich war ihr das Dilemma anzusehen zwischen ihrem Widerwillen, ihn mit Neuigkeiten zu versorgen und dem Drang, sich wichtig zu machen.
„Polizei? Warum das denn?“
Aber Brigittes Mitteilungsbedürfnis war versiegt. Stumm saß sie an ihrem Schreibtisch und widmete sich ihren Plänen und Listen.
„Na gut. Ich bin im Lehrerzimmer II. Ruf mich bitte, wenn sie wieder Zeit hat – Frau Zimmermann“, setzte er schnippisch hinzu. Damit machte er kehrt und ging den Flur hinunter.
Im Lehrerzimmer wurde er von den meisten freundlich, wenn auch nicht überschwänglich, begrüßt, musste sich mehr oder weniger intelligente Sprüche über seinen Stammhalter und die Tatsache, dass er jetzt Vater war, anhören, wurde aber dann schnell in das Gesprächsthema Nummer eins der letzten Tage eingeweiht.
Und erfuhr so dann doch noch den Grund für das Telefonat der Chefin mit der Polizei: Kollege Beck war seit Montag nicht mehr aufgetaucht. Da er alleinstehend war, hatte man nicht gewusst, wo und wie man anknüpfen konnte; schließlich hatte man entschieden, sich an die Polizei zu wenden.
Peter Schubert, Physik und Chemie, warf sich vor Tobias in Positur; den Körper leicht zurückgelehnt und den nicht unbedeutenden Bauch vorgestreckt, stand er da, fuchtelte mit den Armen und ließ seinen Staccato-Bericht auf den Neuankömmling niederprasseln. Er schien seine Geschichte schon mehrfach erzählt zu haben; da er in unmittelbarer Nähe des Kollegen Beck in Nied wohnte, schien er sich als unentbehrlichen Augenzeugen anzusehen. „Einfach wie vom Erdboden verschluckt. Am Montag noch nachmittags normal von der Schule nach Hause gegangen, gestern nicht wieder gekommen, und heute auch nicht. Und keiner weiß, wo er ist.“ Nach diesen Offenbarungen machte er eine kleine Pause und ließ den Knüller vom Stapel: „Montagabend habe ich noch Licht bei ihm im Keller gesehen!“
„Dabei ist Beck doch immer einer von den zuverlässigsten gewesen.“ Renate Müller, Musik und Ethik, war stets geneigt, das Beste von ihren Mitmenschen anzunehmen.
„Wieso gewesen? Der ist doch nicht tot, nur verschwunden!“ Maria Thaler – jeder wusste, dass sie heimlich für den Kollegen schwärmte – sagte dies mit großem, leicht wässrigem Mädchenblick, den sie ungeachtet ihrer fünfundfünfzig Jahre sorgsam kultivierte.
„Sie hat gerade telefoniert, als ich kam – mit der Polizei!“ – Sich wichtigtun konnte Tobias auch. „Womöglich muss eine Vermisstenanzeige aufgegeben werden.“
„Er hat ja sonst niemanden.“ Maria Thaler schickte einen stummen Vorwurf in die Welt. „Oder?“, hakte sie unsicher nach.
Allgemeines Achselzucken. Man wusste ohnehin recht wenig voneinander in diesem Lehrerkollegium, und über die privaten Angelegenheiten des Kollegen Beck war so gut wie nichts bekannt.
„Na ja, hoffen wir, dass er wieder auftaucht“, sagte Tobias, mit den Gedanken schon wieder weiter. „Die Chefin wird ja jetzt fertig sein mit Telefonieren. Hab ja schließlich noch was anderes zu tun als hier zu warten.“ Er wandte sich zur Tür. „In zwei Wochen geht’s wieder los für mich. Bis dann!“
Man winkte und nickte ihm vage und ohne rechtes Interesse zu und er verschwand.