Читать книгу An trüben Wassern - G. T. Selzer - Страница 5
Freitag
ОглавлениеDaniel Skipanski stieg aus der Straßenbahn und ging langsam über die Straße. Eine lange, weiße Mauer, die einen riesigen Komplex aus zum größten Teil hässlichen Backsteingebäuden umschloss, ragte vor ihm empor; unzählige Meter Stacheldraht rollten sich oben auf dem Sims. In Abständen waren erhöhte Wachtürme angebracht. Langsam ging er weiter und blieb in Sichtweite eines großen, abweisenden Tores stehen. Er wartete. Er war zu früh.
Nach einer guten Stunde, in der er immer öfter auf die Uhr geschaut und unruhiger geworden war, näherte er sich zögernd dem Tor. In diesem Moment hielt ein dunkler BMW an der Straße und hupte kurz. Die Scheibe sank geräuschlos herunter.
„Daniel komm, steig ein!“
Skipanski drehte sich um. „Klaus, hallo! Du kommst spät!“
„Entschuldige, Daniel. Bin bei Gericht aufgehalten worden.“
Skipanski sah wieder zum Tor hin. „Egal, offensichtlich ist es nicht zu spät.“ Er hatte den Wagen erreicht und gab dem Fahrer die Hand. „Ich verstehe das nicht, eigentlich sollte er schon seit einer Stunde entlassen sein.“ Wieder warf er einen Blick auf das Gebäude hinter sich.
Klaus Breuer deutete mit dem Kopf auf den Beifahrersitz. „Nun steig schon ein, ich kann hier nicht so lange stehen bleiben. Ausgerechnet vor dem Knast will ich keinen Strafzettel bekommen.“
„Aber Ben wird uns nicht sehen, wenn er herauskommt“, gab Skipanski zu bedenken, ging aber auf die andere Seite und stieg ein.
„Ben kommt heute nicht.“ Breuer schielte zu ihm hinüber. „Er ist schon am Mittwoch entlassen worden.“ Langsam wendete er und hielt auf die B3 zu, die ihn zum Alleenring bringen sollte.
„Wie bitte? Schon vorgestern?“ Ruckartig setzte sich Skipanski auf. „Nein, du irrst dich. Er hat mir ausdrücklich gesagt, am Freitag.“
„Ich war hier, als er entlassen wurde; dann ist er mit der Straßenbahn weggefahren.“ Der Anwalt schien sich höllisch auf den Verkehr konzentrieren zu müssen.
„Du warst ...“ Sprachlos starrte Daniel ihn an. „Warum hat er mir dann gesagt, dass er heute …?“
Breuer zuckte die Schulter. „Wenn er will, wird er es dir schon sagen.“
„Du hättest mich wenigstens sofort anrufen können!“
„Mein Lieber, dann hätte er dir auch gleich selber das richtige Datum nennen können. Nein, ich musste ihm versprechen, dir nichts davon zu sagen.“ Wieder warf Breuer einen kritischen Blick nach rechts. „Nun reg dich nicht auf; die zwei Tage!“
„Verdammt Klaus, das ist doch nicht dein Ernst! Du weißt genau, dass es nicht um ‚die zwei Tage‘ geht! Ich soll mich nicht aufregen, wenn mein Sohn mich anlügt, nachdem er fünf Jahre im Bau war und nach Hause kommen soll? Du hättest es mir sagen müssen“, wiederholte Daniel. „Hast du vergessen, wie lange wir schon befreundet sind?“
„Ich habe durchaus nicht vergessen, wie lange wir schon befreundet sind, mein Lieber. Aber zum einen bin ich in dieser Angelegenheit in erster Linie Bens Anwalt, erst in zweiter Linie dein Freund. Mein Mandant geht vor, verstehst du? Und zweitens ist dein Sohn erwachsen; also mach gefälligst nicht so ein Theater.“
Daniel machte den Mund auf, schwieg dann aber. „Und wo war er die letzten beiden Tage? Und Nächte?“, fragte er nach einer Weile.
Breuer hielt vor einer roten Ampel und hob resigniert die Hände. „Ich weiß es nicht! Und es geht mich auch nichts an. Und dich übrigens auch nicht.“ Über das Steuer gebeugt, sah er Daniel Skipanski besorgt an. „Hör zu, Daniel, er wird jetzt wahrscheinlich schon auf dem Hausboot sein; ich habe ihm gesagt wo der Schlüssel liegt. Und“, er hob die Hand, „tu uns allen einen Gefallen und mach keine Szene, wenn du nach Hause kommst. Du wirst ihn nach fünf Jahren wohl kaum mit einer Standpauke empfangen wollen, oder?“ Er wandte sich wieder der Straße zu und fuhr weiter stadtauswärts.
„Aber warum?“, murmelte Daniel Skipanski und schüttelte den Kopf. „Warum nur?“
„Er wird seine Gründe haben.“
Eine Weile blieb es still. „Du hast mir mal gesagt, ich klammere zu viel“, sagte Daniel leise und blickte aus dem Fenster, wo rechts der Riesenkomplex des Polizeipräsidiums auftauchte und langsam wieder verschwand. „Aber weißt du ...“
„Ja, ich weiß, Danny.“ Klaus Breuer legte ihm kurz die Hand auf den Arm. „Ich weiß.“
Vom Nachbarschreibtisch aus beobachtete Langer unauffällig seinen jüngeren Kollegen, wie dieser seit nunmehr vier Minuten verträumt und – bis auf seine rechte Hand – nahezu bewegungslos in seiner Espressotasse rührte. Korp bemerkte es nicht. Kurz bevor Langer nicht mehr an sich halten konnte und zu explodieren drohte, rettete seinen Mitarbeiter das Läuten des Telefons.
„Guten Morgen, Herr Dr. Eilers“, sagte Korp, als der Rechtsmediziner sich meldete.
Langer fuchtelte mit den Armen, was bedeutete, den Lautsprecher anzustellen.
„... Morgen. Was sollte das mit dem Finger, den ich gestern noch bekommen habe – ohne Kommentar und Papiere oder sonst was?“
„Nun, wir dachten, damit Sie alles beisammen haben, die komplette Leiche sozusagen.“
„Welche Leiche? Eure Brentanoleiche, die bei mir auf dem Tisch liegt?“
Korp sagte langsam: „Das ist keine Brentanoleiche. Das ist eine Leiche, die gestern im Brentanopark gefunden wurde. Eine Brentanoleiche wären die sterblichen Überreste eines Mitglieds jener hoch angesehenen, alteingesessenen Frankfurter Familie, deren Namen dieser Park trägt, weil sie ...“
Langer schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Nun reißen Sie sich mal zusammen, Korp, ja?“, zischte er leise. Dann sprach er in den Lautsprecher hinein: „Also, Doktor, was ist mit dem Finger?“
„Der Finger gehört nicht zu der bislang unbekannten männlichen Leiche, die gestern im Brentanopark gefunden wurde“, kam es steif durch den Lautsprecher.
„Wie denn – haben Sie etwa bereits eine DNS-Analyse machen können?“
„Quatsch DNS! Ich sehe auch so, dass der Finger nicht zu der Brentano... ähm, Leiche gehört, die gestern im Brentanopark gefunden wurde.“
„Wie …?“ Langer runzelte die Stirn.
„Ach …?“ sagte Korp gleichzeitig.
„Kinder, Kinder.“ Seufzen und Kopfschütteln wurden gleichermaßen akustisch übertragen. „Eure Brentano... ähm, die Leiche, die gestern – und so weiter – hat noch alle zehn Finger! So einfach kann es sein!“
„Scheiße!“, entfuhr es Korp.
„Wenn Sie es so sehen wollen. Ich habe aber auch gute Nachrichten, was diesen toten Herrn mit den zehn Fingern anbelangt.“ Dr. Eilers liebte Kunstpausen und wusste, dass sich die beiden Kriminalbeamten jetzt gespannt über das Telefon beugten, um kein Wort zu verpassen.
„Der unbekannte Tote ist nicht mehr unbekannt. Die DNS des Mannes war in unserer Datenbank.“
„Aha, also ein Kunde von uns?“
„Das wissen Sie besser als ich, wenn Sie in Ihrer Datenbank wühlen. Ich schicke Ihnen die Einzelheiten gleich rüber.“
„Und der Finger?“
„Tja, bringen Sie mir eine Leiche dazu.“
„Er wurde also keinem Lebenden abgehackt?“
„Nein, postmortal entfernt. Auch männlich, nach erster Einschätzung ebenfalls zwischen Vierzig und Fünfzig.“
„Und diese DNS ist nicht zufällig auch in der Datenbank?“
Dr. Eilers lachte. „Sie sind wohl nie zufrieden! Möglichst alles auf dem Silbertablett, wie? Nein, nach dem Schnelltest – der ausführliche dauert noch – gibt es keine Übereinstimmungen.“ Dr. Eilers machte eine Pause. „Obduktionsüberblick der kompletten Leiche kommt gleich per Mail. Der Finger dauert noch bis Montag. Einen schönen Tag noch!“
„Können Sie uns recht bald den Ring ...“
„Klar, schon unterwegs.“
Es klickte in der Leitung. Den Hörer noch in der Hand, sah Korp seinen Chef an, leichter Vorwurf im Blick.
„Was denn, ich habe die Leiche nur da im Dickicht gesehen und auch da war sie noch halb verdeckt. Die Hände habe ich mir nicht angesehen!“ Langer ruderte mit den Armen.
Korp legte nachdenklich den Hörer hin, stand auf und holte sich noch einen Kaffee.
Wenn er jetzt wieder anfängt zu rühren, dachte Langer, dreh ich durch. Doch Korp schien seine Geistesabwesenheit überwunden zu haben, checkte seine E-Mails und nahm den Drucker in Betrieb.
„Trommeln Sie die Mannschaft in Gottes Namen also noch mal zusammen und“, Langer stand auf und ging zu dem großformatigen Stadtplan hinüber, während er weiter sprach, „lassen Sie das Gebiet rund um die erste Fundstelle und natürlich besonders da auf dem kleinen Inselchen absuchen. Ordern Sie den Leichenspürhund.“ Er dachte an das undurchdringliche Gelände und zuckte die Schultern. „Hoffen wir, dass wir dort Glück haben, sonst … .“
Korp kam mit den Ausdrucken von Eilers‘ Bericht zu den Schreibtischen zurück.
Langer beugte sich darüber. „Todeszeitpunkt vorgestern, Mittwoch, zwischen 19.30 und 21.00 Uhr. – Da war es in dieser Ecke schon ziemlich dunkel. Die KTU ist doch der Meinung, dass die Tat in unmittelbarer Nähe stattgefunden hat?“
Korp nickte. „Sie haben außerhalb der Büsche noch Schleifspuren entdeckt. Sind zwar nachlässig verwischt worden, waren aber noch erkennbar.“ Obwohl dieses Hundevieh Edelgard van der Wieauchimmer auch noch darüber gestiebt ist, dachte er flüchtig und fuhr fort: „Cems Truppe hat auch zwei Blätter mit Blutanhaftungen des Toten direkt vor dem Gestrüpp gefunden. Was wahnsinniges Glück oder das Ergebnis ihrer akribischen Arbeit war, weil bei dieser Todesart fast kein Blut fließt. – Keine Tatwaffe gefunden.“
„Kampf? Abwehrspuren?“ Langer sah suchend über den Text.
„Nein.“
Langer brummte und las weiter: „Todesursächlich war der Stich ins Herz mit einer etwa fünfzehn Zentimeter langen und zwei Zentimeter breiten Klinge. Der Mann war sofort tot; der Stich ging von vorne direkt ins Herz; Todesursache Perikardtamponade.“ Er sah auf. „Der Täter ist kleiner als der Tote, höchstens einsfünfundsiebzig und Rechtshänder.“ Langer blätterte. „Na ja, der Tote war knapp ein Meter neunzig groß. – Ansonsten ...“ Er blätterte wieder. „Gute Kondition, regelmäßig Sport, Nichtraucher, wenig Alkohol, hätte hundert werden können.“
„Was das Messer betrifft: Könnte ein ordinäres Küchenmesser sein.“
„Im Park?“
Korp zuckte die Schultern. „Vielleicht ein Picknick, das aus dem Ruder gelaufen ist?“
„Hm.“ Langer nickte. „Checken Sie, ob die KTU womöglich Anzeichen für ein Picknick gefunden hat. Und Schmidtbauer soll ein paar Mann rausschicken, Zeugen suchen.“ Er sah Korps zweifelnden Blick. „Ja, ich weiß, aber versuchen müssen wir es.“ Er setzte sich gerade hin. „Und wer ist nun unser Toter?“
Korp klickte, scrollte. „Rolf Suttner, geboren am 12. Juni 1971“, antwortete er dann. „Wohnhaft in Kronberg, war CEO der deutschen Niederlassung der TransAt Corp., ebenfalls Kronberg, Hauptsitz Boston, Massachusetts, USA. Suttner wurde vor sechs Jahren wegen fahrlässiger Tötung zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, ohne Bewährung.“
„Hm.“ Langer grunzte wieder. „Nicht unser Bereich. Schauen Sie mal in die schlaue Kiste nach dem Vorgang. – Familie?“
„Ehefrau Betty und zwei Töchter. Und einen Bruder Oliver Suttner. Kennen Sie vielleicht.“
„Sollte ich?“
„SUTTNER IMMOBILIEN – Wir finden Ihr Zuhause! Schreit einem aus jedem Anzeigenteil entgegen.“
Langer, langjähriger Besitzer eines Einfamilienhauses in Schwanheim, schüttelte nur den Kopf. Korp begann, in seinem Terminal nach der Akte Suttner von vor sechs Jahren zu wühlen, als ihn das Telefon wieder unterbrach.
„Hallo, Herr Kommissar.“ Die fröhliche Stimme von Helene Hohenstein quäkte respektlos aus dem Hörer. „Wollte mich mal melden, bevor Sie die Fahndung nach mir rausgeben und mir den Streifenwagen vors Haus stellen.“
Korp räusperte sich. „Hallo, Frau Hohenstein. Was gibt’s denn?“
„Na, ich sollte doch heute zu Ihnen kommen wegen der Aussage, aber heute klappt‘s leider nicht mehr.“
„Ach, wie schade – ähm, ich meine, das macht nichts. Aber heute wäre es ohnehin schlecht. Passt es Ihnen am Montag? Sagen wir, gegen zehn?“
„Ja, okay. Und sonst? Haben Sie schon Ihren Mörder?“
„Nein, das ist noch etwas früh. Wir arbeiten daran.“
„Also dann bis Montag. Tschüss, Herr Kommissar!“
Langer war indessen in den Türrahmen zum Nachbarbüro getreten, wo der junge Obermeister seinen Schreibtisch hatte. „Schmidtbauer, geh mal die Vermisstenmeldungen der letzten zwei Wochen durch. Männlich, circa ...“
„Ja, ich hab‘s hier auf dem Bildschirm, Herr Langer.“
„Ok, und wühl auch gleich mal in deinem Kasten, ob bei den umliegenden Präsidien eine Leiche ohne rechten Ringfinger aufgetaucht ist.“
„Geht klar.“
Korp war immer noch dabei, gedankenverloren auf den Hörer in seiner Hand zu starren, als Langer an seinen Schreibtisch zurückkam und durch das Tuten aufmerksam wurde.
„Sagen Sie mal, Herr Korp, was ist denn heute mit Ihnen los?“
Korp hörte es nicht und schrak auf, als Langer ungeduldig auf den Tisch klopfte.
„Menschenskind, Herr Korp, nun kommen Sie doch mal zu sich!“ Fast so etwas wie väterliche Sorge hatte sich in seine Stimme eingeschlichen. „Wir müssen nach Kronberg. Und am besten lassen Sie mich reden. Sie scheinen mir heute nicht in der Verfassung zu sein, Todesnachrichten zu überbringen.“
Aber wann ist man das schon, dachte er.
Cora Friedemann, die Mutter des kleinen Luca, schloss den Deckel des Laptops und lehnte sich in ihrem Schreibtischsessel zurück. Die Arme über dem Kopf gedehnt, schaute sie gedankenverloren aus dem Fenster und gähnte. Ein paar Kinder spielten schreiend in der Anlage, die den Uferweg von der Straße trennte. Ein weißes Ausflugsschiff glitt langsam und geräuschlos stadteinwärts über den Main. Vom Vorgarten schickte die Sonne ihre Strahlen direkt auf die Fensterbank und ließ die blutroten Geranien leuchten. Und nebenan schlief das Baby in seiner Wiege.
Das Leben war schön.
Auch ohne Tobias. Er hatte eine kurze SMS geschickt, dass er bei seinen Eltern in Hannover Zwischenstop machen würde und danach noch für ein paar Tage an die Nordsee weiterfahren wolle. Sollte er. Sie hatte nachzudenken.
Nachzudenken über die Fotos, die Sonja ihr geschickt hatte. Fotos mit Tobias und einer anderen Frau, versteckt auf einer Bank im Grüneburgpark in unzweideutiger Situation. Ein Foto, das keine sechs Monate alt war, denn er hatte das T-Shirt an, das sie ihm im März zum Geburtstag geschenkt hatte. Damals war sie im neunten Monat gewesen ...
Vielleicht war es nicht fair, ihm nicht den eigentlichen Grund gesagt zu haben, der den Streit kurz vor seiner Abreise ausgelöst hatte. Aber warum sollte sie fair sein?
Und jetzt, nach zwei Tagen, waren ihre Wut und ihr Zorn verraucht und zurückgeblieben war lediglich ein vages Gefühl der Demütigung und ein leichtes Bedauern.
Tatsächlich – nichts weiter.
Dies war die erste verblüffende Erkenntnis, die sie aus ihrem Nachdenken gezogen hatte. Kein Herzschmerz, kein Liebeskummer, keine Seelenqual.
Die zweite, womöglich noch erstaunlichere: Sie fühlte sich sogar besser als vorher. Sie hatte wieder einen Auftrag hereinbekommen, ein französisches Manuskript, ein Vortrag für die Industrie- und Handelskammer, der bis Anfang der nächsten Woche fertig übersetzt sein musste. Kein Problem, auch wenn ihr ein lustiges Kinderbuch oder ein spannender Krimi lieber gewesen wäre.
Sie stand auf und ging leise ins Kinderzimmer hinüber. Luca schlief noch tief und fest. Vorsichtig zog sie die Vorhänge wieder zurück, die sie wegen der Sonne mittags zugezogen hatte. Den Vorhang noch in der Hand, hielt sie inne und blieb am Fenster stehen. Der ‚Skipper‘ schien Besuch zu haben. Bereits vorher waren ihr die Bewegungen auf dem Schiff aufgefallen; die Tür stand fast den ganzen Nachmittag schon offen; ein Mann, der nicht der ‚Skipper‘ war, jünger als er, energischer in Schritt und Auftreten, war auf das Vorderdeck gekommen und wieder in die Kajüte hinein gegangen. Vom ‚Skipper‘ selber hatte sie noch nichts sehen können. Sinnend blieb sie stehen und beobachtete die Szene, bis ihr auf einmal schlagartig klar wurde, was sie tat.
Ach du lieber Gott, war es schon so weit? Hinter der Gardine stehen und Nachbarn beobachten? Schnell trat sie ins Zimmer zurück.
Da hörte sie das unverkennbare Brummen und Röhren eines alten VW Käfer, und gleich darauf kam ein knallrotes offenes Cabrio um die Ecke geschossen, passierte eine Parklücke dem Haus gegenüber, bremste kurz und schlüpfte rückwärts hinein. Das alles in einer einzigen zügigen Bewegung, gleichsam in einem Atemzug. Dem Wagen entstieg eine Frau mittleren Alters in Jeans, bunt-grüner Bluse und mit kupferfarbenen, üppigen Locken, die ihr über die Schultern fielen und von einem Band in den Farben der Bluse nur mühsam gebändigt wurden. Schwungvoll knallte sie die Autotür zu, überquerte die Straße, während sie sich eine riesige, unförmige Handtasche um die Schulter hängte. Ihre Absätze klapperten auf dem Asphalt. Sie trat durch die Gartenpforte, die ebenfalls mit einem Knall hinter ihr zuschlug, und marschierte auf die Haustür zu.
Mutter.
Cora warf einen raschen, wenig bedauernden Blick auf das Laptop und sprintete zur Haustür, bevor ihre Mutter Sturm klingeln konnte.
„Hallo, mein Schatz. Er schläft wohl gerade? Dann will ich mal leise sein. Aber gucken darf ich doch schon, oder? Ich verspreche, ich sag kein Wort. Wo ist er? Im Kinderzimmer? Ist doch schon wieder eine Woche her, dass ich ihn gesehen habe! Nun lass mich doch mal! Nein, ich mache keinen Lärm! Tobias nicht da?“
Damit hatte sie die Handtasche auf den Garderobenschrank geschleudert, ihrer Tochter einen herzlichen Kuss auf die Wange gedrückt, sich suchend umgeschaut und die Kinderzimmertür ins Visier genommen. Das Attribut ‚leise‘ in Verbindung mit ihrer Mutter war für Cora ungefähr so vorstellbar wie ein Eisbär in der Sahara, und so beobachtete sie lächelnd die rührenden, weitgehend vergeblichen Versuche ihrer Mutter, ihre Energie zu drosseln, während sie die Tür aufmachte und auf Zehenspitzen das Kinderzimmer betrat. Das gleiche selige, ein wenig einfältige Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus wie auf allen Gesichtern aller Großmütter dieser Welt, wenn sie ihren ersten Enkel betrachten.
Sie packte ihre Tochter und drückte sie fest an sich. „Das habt ihr so toll gemacht! Ich bin so stolz!“, flüsterte sie in einer Lautstärke, die Cora veranlasste, sie sanft aus dem Zimmer zu schieben.
„Nun komm mal wieder zu dir, Mama“, sagte sie leise lachend. Cora schlug zweifelsohne nach ihrem stets besonnenen, zu früh verstorbenen Vater – einer der Gründe, warum sich Mutter und Tochter so gut verstanden. „Lass uns einen Kaffee trinken. Ich habe noch etwas Apfelstrudel.“
Ein paar Minuten später saßen sie vor der offenen Terrassentür, die zu dem kleinen Vorgarten hinausführte.
„Erzähl. Wie war‘s in München?“
Annette Friedemann ließ die Kuchengabel sinken. „Du bist gemein. Als ob du das nicht genau wüsstest!“
Cora grinste. Natürlich wusste sie es genau. Ihre Mutter, eine renommierte Kulturjournalistin, die Musik- und Opernkritiken für ihre Zeitung und den Hessischen Rundfunk schrieb, hatte sich am Wochenende seufzend in die bayrische Hauptstadt verabschiedet mit den Worten: „Also, bis Donnerstag oder Freitag, wenn Richard mich bis dahin nicht umgebracht hat.“ Der dergestalt respektlos Angesprochene war kein Geringerer als Richard Wagner: Annette hatte sich in München den kompletten Ring ansehen müssen, weil sie für einen Kollegen eingesprungen war.
„Ich werde es nicht mehr lernen, diese Musik zu mögen“, meinte sie jetzt ernsthaft. „Muss ich auch nicht. Und das war das letzte Mal, dass ich mich habe breitschlagen lassen. Wer wohnt denn da auf dem Hausboot?“, setzte sie übergangslos hinzu. „Ich dachte immer, das steht leer.“
„War schon immer bewohnt, man sah ihn nur fast nie. Skipanski heißt der Mann.“ Cora erzählte ihrer Mutter von ihrem Nachbarn, der so geheimnisvoll tat.
„Ein Aussteiger? – Midlife Crises? Heute ist man ja schnell bei Burned out und was weiß ich – warte mal … Wie sagtest du, heißt er?“, fragte sie.
„Skipanski. David Skipanski. Nein, – Daniel.“
„Kein häufiger Name. Da klingelt was bei mir.“
„Er war ein bekannter Architekt. Wir habe ihn im Internet gefunden.“
„Architekt?“ Annette Friedemann schüttelte nachdenklich die Locken. „Nein, da war was anderes.“ Jetzt blitzten ihre grünen Augen. „Ich werde mal im Archiv wühlen, wenn ich wieder in der Redaktion bin.“
Sie sah ihre Tochter prüfend an, die nur die Schultern zuckte. „Sag mal, Schatz, alles in Ordnung? Wo ist eigentlich Tobias?“
„Ist weggefahren.“ Cora stand auf und räumte das Geschirr ab. „Wollte ein paar Tage alleine sein, bevor er wieder in die Schule muss.“
„Aha.“ Annette sagte nichts, sondern beobachtete ihre Tochter.
Cora ging mit dem Geschirr in die Küche, stellte es ab und stützte die Arme an der Arbeitsplatte ab. Sie seufzte tief auf.
Ganz so einfach war es denn doch nicht.
Der Wohnsitz des Toten aus dem Park, Rolf Suttner, entpuppte sich erwartungsgemäß als eine Villa für Inhaber der höchsten Steuerklasse – die nach Korps Dafürhalten für Eigentümer eines solchen Anwesens ruhig noch höher hätte sein können – mit dem entsprechenden Grundstück rundherum.
Langer und Korp hatten der Firma des Ermordeten einen kurzen, im großen und ganzen eher unergiebigen Besuch abgestattet. Der europäische Hauptsitz der TransAt Corporation befand sich nur wenige Autominuten von der Villa entfernt.
Dort wurden sie von der Empfangsdame in Gestalt und Kleidung eines Topmodels begrüßt – ihr Namensschild wies sie als Frau Engel aus, was Korp ungemein passend fand – und zu einem Dreigestirn von hochrangigen Führungskräften geleitet, deren Betroffenheit über die Nachricht von Suttners Ermordung sich in engen Grenzen hielt. Ihre Sorge galt in erster Linie der Art und Weise, wie man diese Nachricht am geschicktesten nach Boston kommunizieren könnte. Von Feindschaften innerhalb des Managements sei ihnen nichts bekannt; Suttner sei die ideale Führungspersönlichkeit, dazu Teamplayer durch und durch; seit acht Jahren wurden jährliche Umsatzsteigerungen erwirtschaftet, die Gewinne seien kontinuierlich gestiegen; Boston sei hoch zufrieden gewesen – alles super, alles bestens. Im dem vergleichsweise kleinen Marktsegment …
„Was machen Sie eigentlich?“
Der Sprecher der Drei drehte sich überrascht zu Langer um. Man hatte ihn nicht gerade ignoriert, doch als Gesprächspartner eher benachteiligt, wobei sowohl der Zuschnitt seines alten Jacketts als auch die Tatsache, dass ein winziger Rest Eigelb auf seiner dunkelblauen Krawatte funkelte, eine Rolle gespielt haben mochten. Der elegante Korp schien eher ihre Kragenweite zu sein.
„Turbinen. Dampfturbinen. Weltweiter Vertrieb, Produktionsstätten in Brasilien und Indien, außerdem ...“
Langer stand auf. „Danke. Wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns. Jetzt würden wir gerne Herrn Suttners Büro sehen.“
Dem großen, steril anmutenden Raum war, das sahen beide sofort, kein Geheimnis zu entlocken. Aktenschränke gab es so gut wie keine; lediglich ein kleines Sideboard an der Seite des riesigen Schreibtischs schien etwas hergeben zu wollen, doch es war abgeschlossen.
Langer drehte sich fragend zu dem Mann um, der sie hergeführt hatte.
Der schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Schlüssel. Den hat nur Herr Suttner. Und Sie können den Schrank nicht öffnen, das ist nämlich eine Art Safe.“ Er strich mit der Hand über die Oberfläche. „Das Holz ist nur Fassade; der Schrank selber ist aus Stahl.“
Langer seufzte.
Jetzt standen sie vor Suttners Villa, die etwas außerhalb von Kronberg an einem Hang lag und einen fantastischen Blick auf die Mainmetropole bot. Am schmiedeeisernen Tor, wo sowohl sie als auch ihre Dienstausweise zunächst durch ein Kameraauge begutachtet wurden, erfuhren Langer und Korp, dass die Dame des Hauses nicht anwesend sei.
Ob man wisse, wann sie wiederkäme? – Das sei schwer zu sagen, sie sei weggefahren. – Seit wann sei sie weg? – Ungefähr seit einer Woche. – Und wohin sei sie gefahren? – Man sei sich nicht sicher, ob man das so ohne weiteres … – Könne man sie erreichen? – Nun ja, es gebe natürlich eine Handynummer, aber man denke nicht, dass man sie jedem weitergeben könne. Guten Tag.
Das war der Moment, in dem Langers Stimme nach neuerlichem Sturmklingeln eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der eines knurrenden Hundes bekam. Der Tag, grollte er in die Gegensprechanlage, werde verflucht noch eins alles andere als gut werden, wenn nicht allerschnellstens dieses gottverdammte Eisentor geöffnet und die Beamten hereinlassen werden würden.
Es wirkte.
Sie fuhren langsam auf einem breiten Weg durch gepflegten Rasen die nicht enden wollende Auffahrt hinauf, wo ein distinguierter Herr im schwarzen Anzug eben eine große weiße Tür öffnete und mit todernster, unbewegter Miene auf einer halbrunden Freitreppe stehen blieb.
Nachdem er noch einmal die Ausweise eingehend studiert hatte, sagte er: „Ich habe die gnädige Frau eben verständigt und ihre Erlaubnis eingeholt.“ Er brachte es fertig, unterwürfig, vorwurfsvoll und majestätisch zugleich zu wirken. Besonders Langer mit seinem gewohnheitsmäßig nachlässigen Äußeren wurde blitzschnell, unauffällig, doch gründlich gemustert und in eine Schublade gesteckt. „Trotz verständlicher Irritation ihrerseits spricht wohl nichts dagegen, Ihnen die Nummer auszuhändigen.“ Mit diesen Worten zauberte er ein kleines silbernes Tablett hervor, auf dem ein Zettel lag.
Korp grapschte nach dem Stück Papier und steckte es ein. Ein unverständliches „Danke“ murmelnd, flüchtete er sich in den Wagen. Die ganze Szene samt dem fleischgewordenen Klischee eines Butlers reizten seine Lachmuskeln auf unbezwingbare Weise.
„Na so was“, Langer krabbelte ebenfalls ins Auto. „Dass es so was wirklich noch gibt!“
„Der verdient womöglich mehr als Sie und ich zusammen, Chef.“
Langer grunzte. „Endlich hat mir mal jemand etwas auf dem Silbertablett serviert. Wurde auch mal Zeit, wie? Was meinen Sie, Herr Korp?“
Korp meinte in diesem Moment gar nichts, sondern musste erst einmal mit der Tatsache fertig werden, dass sein Vorgesetzter offensichtlich gerade versucht hatte, witzig zu sein.
Da fuhr Langer hoch. „Wo ist der Zettel?“
„Hier.“ Korp klopfte auf die Brusttasche seines Sakkos.
Während sich das Tor langsam und geräuschlos wieder hinter ihnen schloss, bremste Korp an der Ausfahrt zur Straße.
„Zurück ins Präsidium?“
„Nein, jetzt ...“, Langer kramte in sämtlichen Taschen seines Jacketts.
„Ich sagte doch, ich habe ihn hier.“
„Nein, den meine ich nicht.“ Endlich brachte er einen zerknüllten Zettel zum Vorschein und gab ihn Korp. „Jetzt dort hin. Ich erklär‘s Ihnen auf der Fahrt.“
Korp las: „Kartoffeln, Mehl, Fisch, Eier, Zwieback …“
„Quatsch.“ Der Zettel wurde ihm aus der Hand gerissen. Neuerliches Wühlen. „Hier ist der richtige.“
„Zwieback? Haben Sie es am Magen, Herr Langer?“ Korp schaute kurz auf die Adresse und startete den Wagen.
„Blödsinn, wie kommen Sie denn darauf?“
„Na ja, Zwieback ...“
„Na und? Ich mag Zwieback gern.“
„Echt jetzt?“
„Korp, klappen Sie den Mund zu und machen Sie, dass Sie weiterkommen!“
Ben Skipanski, sechsundzwanzig Jahre alt und gerade aus der Haft entlassen, trat aus der offenen Kajütentür des Hausbootes auf die kleine Gangway hinaus, ging seinem Vater entgegen und umarmte ihn.
„Hallo Papa.“
„Ben!“ Daniel presste den jungen Mann fest an sich. „Mein Junge, wie bin ich froh, dass das vorbei ist!“
Der graue Hund war aus seinem Korb aufgestanden und wedelte heftig mit dem Schwanz. Langsam löste sich Ben aus der Umarmung und lachte verlegen. „Laika hat mich sofort wiedererkannt.“
Mit der rechten Hand strubbelte er der Hündin über den Kopf, während er die Kabine betrat. Daniel wischte sich hastig über die Augen und folgte ihm.
„Du hast es hier wirklich gemütlich, Papa. Meinst du, ich kann erst mal ...“, fragte er zweifelnd.
„Natürlich kannst du hier bleiben.“ Daniels Blick blieb auf einem Rucksack hängen, der in einer Ecke stand. „Das war doch so besprochen.“ Er zeigte nach unten. „Es ist doch genug Platz.“ Er wandte sich der Kombüse zu. „Ich hatte gedacht, wir gehen heute Abend etwas Leckeres essen; jetzt mache ich uns erst einmal einen Tee.“
Ben nickte geistesabwesend und sah nachdenklich aus den offenen Fenstern zum anderen Ufer hinüber. „Entschuldige, dass ich dich angelogen habe, Papa.“ Langsam drehte er sich herum, beobachtete seinen Vater, der mit Kessel, Kanne und Tassen zugange war, und setzte sich schließlich auf die Couch. „Es tut mir leid, dass du umsonst nach Preungesheim gefahren bist. Aber … aber es ging nicht anders.“
Daniel setzte das Tablett auf dem kleinen Tisch ab und nickte stumm, ohne seinen Sohn anzusehen; er hatte sich vorgenommen, nicht zu fragen. Nicht nach den vergangenen zwei Tagen, nicht nach den zurückliegenden fünf Jahren und nicht nach Plänen und Zukunft. Ben würde selber anfangen müssen zu reden; Klaus hatte Recht.
„Arbeitest du wieder?“ Ben zeigte auf die halb offene Tür, hinter der man den Schreibtisch sehen konnte.
„Na ja, arbeiten.“ Daniel setzte sich, nahm seine Tasse und zuckte leicht mit der Schulter. „Richtig arbeiten ist das nicht, eher Zeit totschlagen, Ideen ausbrüten ...“ Er winkte ab.
„Ich dachte ...“ Ben zögerte. „Ich dachte, vielleicht mache ich etwas in deiner Richtung.“ Fast ängstlich sah er seinen Vater an, ohne zu ahnen, welche Erleichterung er mit dieser Äußerung bei ihm auslöste – zeigte sie doch, dass Ben gewillt war, nach vorne zu schauen, eine Einstellung, die Daniel bei seinem Sohn bislang eher vermisst hatte. Entsprechend überrascht sah er ihn an.
„Ich meine, in mein Studium kann ich ja wohl schlecht zurück. Ein vorbestrafter Jurist ...“ Der junge Mann lachte bitter. „Ich habe diese Fernausbildung im Technischen Zeichnen fertig gemacht.“
Daniel nickte. „Das ist gut.“
„Ich habe viel nachgedacht.“ Plötzlich fixierte Ben seinen Vater scharf, sein Gesichtsausdruck wurde mürrisch. „Und das solltest du auch.“ Er ließ seinen Vater nicht aus den Augen, als dieser aufstand und begann, in der kleinen Kombüse zu hantieren. Seine Stimme wurde lauter. „Zeit totschlagen! Was fällt dir eigentlich ein, dich in deinem Alter mit deinen Möglichkeiten derart gehen zu lassen!“
Verwundert drehte sich Daniel zu ihm um.
„Ja, guck nur! Geh mal fünf Jahre ins Gefängnis, dann weißt du, was es heißt, die Zeit totzuschlagen!“ Jäh sprang Ben auf und begann, aufgeregt in der kleinen Kajüte auf und abzuwandern. „So eine Verschwendung! So ein … Je länger ich darüber nachdenke, desto wütender werde ich.“
Verblüfft und sprachlos ließ sich Daniel auf die Couch fallen und folgte seinem Sohn mit den Augen, bis dieser schließlich vor ihm stehen blieb und auf ihn herabsah.
„Was hast du gemacht in den letzten fünf Jahren? Sag!“ Sein Blick maß den Vater von oben bis unten, blieb an dem alten grauen Mantel hängen, den Daniel immer noch anhatte, ging wieder zurück zu den unordentlichen Haaren. „Und wie du aussiehst! Schämst du dich nicht, so auf die Straße zu gehen?“
Zorn im Gesicht, die Fäuste geballt, Enttäuschung, die in Sekundenschnelle zur Wut wird - plötzlich sah Daniel den kleinen sechsjährigen Ben vor sich, wie er vor seinem Vater stand und schrie: „Du bist gemein, Papa, so gemein!“
Bens drohende, leicht vorgebeugte Haltung indes war neu und zeugte – genauso wie die Tatsache, dass es nun der Vater war, der zu seinem Sohn hochschaute – von der Zeit, die vergangen war. Wie die Worte. Es waren Sätze eines Vaters zu seinem Sohn. Daniel unterdrückte den Ärger und eine leichte Scham. Es sind die Schuldgefühle, sagte er sich. Er gibt sich die Schuld dafür, dass ich nichts mehr auf die Reihe bringe ...
Ben fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, eine Geste, wie sie für seinen Vater typisch war. So schnell ihn der Zorn übermannt hatte, so schnell war er wieder verraucht. Er ließ sich in einen der Sessel sinken.
„Entschuldige“, sagte er leise. „Aber es ist doch wahr.“
Daniel nickte stumm, während er darüber nachdachte, wie diese unkontrollierten Wutanfälle bei den übrigen Gefangenen und den Wärtern angekommen sein mochten. „Es wird anders, versprochen“, sagte er dann.
„Natürlich ist es schön hier“, murmelte sein Sohn. „Aber … ich meine … du willst doch nicht für immer hier bleiben, oder?“
„Nein. Das Haus ist noch vermietet, aber ich habe den Vertrag befristet. Zum Oktober wird es frei, dann können wir erst mal ...“
Er unterbrach sich; beide schauten zur Tür. Schritte waren zu hören auf dem leichten Steg, der als Gangway diente, schwere Schritte. Dann ein Klopfen.
Daniel sah kurz zu Ben hinüber, stand auf und öffnete die Tür. Er sah sich zwei fremden Männern gegenüber.
„Guten Tag. Herr Skipanski? Daniel Skipanski?“
Daniel nickte.
„Ich bin Kriminalhauptkommissar Paul Langer, mein Kollege Johannes Korp. Mordkommission Frankfurt. Ist Ihr Sohn bei Ihnen?“
Leicht irritiert ging Daniels Blick von dem kleinen dicken Hauptkommissar zu seinem schlaksigen jüngeren Kollegen. Er nickte. Ben war hinter seinen Vater getreten und sah die beiden Beamten fragend an.
„Herr Ben Skipanski? Wir müssen Sie bitten, mit uns aufs Präsidium zu kommen.“
„Warum denn?“
„Gestern Vormittag wurde die Leiche von Herrn Rolf Suttner gefunden. In diesem Zusammenhang haben wir einige Fragen an Sie.“ Der Polizist machte eine Pause. „Er ist ermordet worden.“
Daniel stieß einen Schrei aus und schlug sich mit der Hand auf den Mund.