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Schneewittchen auf Hawaii
ОглавлениеDie Tür fällt ins Schloss. Mein Herz rutscht zugleich in die Tiefe. Ich will flüchten und tue es doch nicht. Es gibt kein Zurück, sage ich mir, beiße meine Lippen und blicke hinaus auf die Gegend hinter dem Fenster. Kahl und trist. Menschenverlassen. Ich realisiere im Nu, dass ich mich fortan auf der anderen, der dunklen, der von der Mehrheit abgelehnten Seite der Welt bewege. Der Gedanke fühlt sich kalt an. Ich friere davon und würde am liebsten weinen. Die Tränen spüre ich in mir, meine Augen bleiben dennoch trocken.
Im noch unbewohnten Zimmer stehen zwei Betten. Ich wähle das linke, etwas versteckt, gepresst zwischen dem Fenster und der Wand, die das Zimmer vom seitlich eingerückten Bad trennt; erst danach schaue ich mich um und staune über die Einrichtung: schwarze Möbel, schwarze Schiebetür zum Bad und drinnen schwarze Wände in Marmoroptik. Gestaltete diese Klinik ein völlig ausgeflippter Patient? Ich protestiere in der ersten Reaktion gegen das unerwartete Ambiente, um mich kurz danach damit anzufreunden und es gleichzeitig originell und verrückt zu finden. Es passt zu meiner Stimmung.
Ich richte mich ein auf dem Platz meiner zukünftigen Bleibe für eine ungewisse Zeit, hole aus dem Gepäck eine Zahnbürste und Latschen heraus und nehme diesen Ort in Besitz. Danach muss ich mich ausruhen; das Neue um mich herum überfordert mich. Es ist fremd und gefährlich, wie eine Felswand, von der man leicht in den Abgrund stürzen kann.
Auf dem Bett liegend erfasse ich die weiße Decke in der Höhe und fühle mich von dem Raum dazwischen erdrückt. Ich drehe mich um und glotze auf die Mauer. Eine breite Lamperie im gedämpften Grün wie die Bettüberwürfe glänzt mit den kühlen Spiegelungen; ein untröstliche Anblick, den ich nicht ertragen kann.
Über dem anderen Bett hängt ein großes Gemälde, ein Portrait. Das idealisierte Gesicht – es könnte das Schneewittchen sein - mit geschlossenen Augen, umrahmt von rötlichen übergroßen Hawaiiblumen. Schneewittchen auf Hawaii, flüstere ich und stehe auf, weil meine innerliche Unruhe im Liegen wächst; es schwingt alles um mich, wie auf einem Schiff. Das Schaukeln hört auf, nachdem ich aufgestanden bin. Die Unruhe nicht.
Ich erforsche das Gemälde aus der Nähe und kann mich nicht entschließen, ob es mich anspricht. Wenigstens drängt es sich nicht auf, trotz seiner Größe. Unerträglich fände ich, wenn Schneewittchen mich angeglotzt hätte. Ihre Augen sind erfreulicherweise geschlossen. Sie schläft oder träumt. Auch wenn sie von keinem großen Künstler erschaffen wurde, nehme ich ihre Existenz wahr. Ich ahne ihren Blick, vor dem ich mich fürchte. Ihre Lider spannen sich, als ob sie ihre Augen öffnen wollte. Damit sie jede meine Bewegung verfolgen könnte. Von ihrem Platz an der Wand fiele ihr leicht mich intensiv zu observieren. Sie wird es aber nicht tun; diese Linie zwischen uns schafft sie nie zu passieren. Ihre Augen sind entkräftet; sie bleiben für immer geschlossen.
Woher kommt meine Furcht vor den auf mich gerichteten Augen? Sie steckt in mir wie angeboren. Womöglich wurzelt sie noch tiefer. Über meine Existenz weit hinaus. Überall auf der Welt schreiben doch Menschen den Augen eine magische Macht zu. Jene Kräfte jagten früher und jagen den Menschen noch heute einen Schreck ein. Wieso eigentlich? Weil Augen mehr verraten, als Masken und Worte? Spiegelt sich in ihnen unsere Seele wider? Sie ziehen uns an oder lehnen uns ab, sie lassen uns erfrieren oder wärmen uns auf. Ihr Feuer zündet unsere Herzen an. Sie versprühen Liebe oder Hass. Auch töten?
Der Glaube, dass sie uns wirklich physisch zerstören können, wie echte Waffen, geht mir zu weit. Die Märchen über die erschreckende vernichtende Energie des bösen Blicks bleiben für mich das, was sie sind, Märchen eben. Gleichzeitig meide ich dennoch Portraits an meinen Wänden und kann mir selbst jene irrationale Vorsichtsmaßnahme nicht erklären. Etwas in mir krallt sich an dem archaischen Aberglaube fest und fürchtet jene Magie, die ebenso die Bilder ausstrahlen, aufgefangen von den Künstlern, der Verrücktheit seit eh und je verdächtigt. Sie fließt mit den Farben in die Darstellung hinein und lässt die gemalten Augen aufleben.
Mein Koffer steht immer noch dort, wo ich ihn hingeworfen habe, vor dem Schrank, als ein Hindernis im Weg. Ich starre ihn an und denke widerwillig, dass ich meine Kleider aufräumen muss, jedes Stück in die Hände nehmen und damit die Ströme der Gedanken lostreten, dieser Gedanken, die doch an den Sachen hängen, wie eine Verwünschung, verwoben mit den Zeiten und Umständen unter deren sie in meinen Besitz gelangten. Jeder Fetzen erzählt alte Geschichten. Das sind mitnichten lustige Erzählungen. Allesamt triefen sie von der Verzweiflung und Traurigkeit. Was ich anfasse, verwandelt sich in Schwermut.
Ich stöhne schwer und gehe in die Hocke. Gleichzeitig öffnet sich die Tür. Eine Schwester befehlt mir die Neurologin Dr. Henze aufzusuchen.
Dr. Henze ist eine Frau um die vierzig. Sie wirkt forsch und zeichnet sich durch hastige, kantige Gesten. Ihre blonden Haare bindet sie zum Pferdeschwanz. Die glatte Frisur passt zu ihrer ganzen Erscheinung. Streng. Ablehnend?
Sie nickt mir zur Begrüßung und kommt gleich zur Sache. Ich solle meinen Oberkörper frei machen. Sie hört rasch mein Herz ab und beordert, den Platz auf dem schmalen Sofa zu nehmen, wo ich wie ein Pferd - diese Assoziation zwingt sich mir auf - mit einem winzigen Hämmerchen an meinen Knien und an den Ellenbogen abgeklopft werde. Genauso müsste die Begutachtung einer Stute ablaufen, die nicht mehr richtig spurt und die man untersuchen muss.
Vor den Pferden habe ich einen gehörigen Respekt. Es sind durchaus edle Tiere, dazu noch groß genug, um mich richtig zu erschrecken. In der Evolution bin ich dennoch weiter. Ich kann sprechen! Auch wenn diese Fähigkeit bei mir nicht selten aussetzt. Es verschlägt mir oft die Sprache aus nichtigen Gründen. Ich stehe dann stumm und gebe keinen Ton von mir. Mein Kopf fühlt sich wie leer gefegt an. Die Angst fließt durch meine Venen und bringt mein Herz zum Rasen. Es schlägt Alarm, dass ich nur schreien will. Ich ersticke an dem nicht geschrienen Schrei.
Dr. Henze weiß aber nichts davon. Wieso redet sie also nicht mit mir und schweigt beharrlich? Ich fühle mich tierisch unwohl und beschämt. Ich schäme mich, halbnackig vor ihr sitzen zu müssen, während sie mich abfertigt.
Mein Blick flüchtet aus dem Zimmer, das mir wie ein Käfig vorkommt, in den kalten Tag hinter dem Fenster. Ich zittere, vor Kälte erfasst, und versuche krampfhaft es zu verbergen. Flüchtig sehe ich sie an, ob sie bemerkt hat, was in mir vorgeht. Ihr Gesicht ist aber für mich verschlossen.
Ihr Spielzeug-Hämmerchen steigert in mir die Angst, in die Lage zu geraten, in der nicht ich selbst, sondern andere über mich entscheiden. Was mit dem Hämmerchen beginnt, endet womöglich in einem Zimmer ohne eine Türklinke. Zuerst Abklopfen, dann rein in die Zwangsjacke! Das Klischee verbildlicht sich in einem Blitz der vorgetäuschten Erkenntnis: So ist es und so kann auch in meinem Fall werden. Einen ersten Schritt zu diesem Szenario habe ich bereits getan, indem ich mich einweisen ließ. In dieser Sekunde begreife ich geschockt die möglichen Konsequenzen meiner Entscheidung. Ich habe mich selbst ausgeliefert!
Ihre Lippen krümmen sich zum Grinsen. Über mich? Mein Verstand sagt: Nein, das würde sie nie tun. Mein Gefühl aber spricht eine andere Sprache. Ihr Grinsen ist für mich ätzend wie eine Schmähung.
Ich will endlich wissen, wie es um mich wirklich steht. Die Frage kann ich nicht selbst beantworten. Zu sehr habe ich mich in mir verloren! Was meinen also Dr. Henze und ihr Hämmerchen über mich?
„Ah, hier bewegt es sich auch“, sagt sie auf einmal.
Was bedeutet das, verdammt? Ist das gut oder schlecht? Ich sei gelenkig, fügt sie noch hinzu. Aus ihrem Mund klingt es wie ein Vorwurf.
Sie verzieht ihre Lippen und notiert etwas hastig auf einem Blatt. War das alles, was sie mir zu sagen hat? Mit ihrem ganzen unnahbaren Wesen grenzt sie sich von mir ab und verschüchtert mich. Sie erschafft eine unüberwindbare Distanz. Von dem anderen Ufer, wo sie steht, führt keine Brücke zu mir.
Ich sitze still und lasse ohne einen Mucks die Untersuchung über mich ergehen. Unterdessen bemerke ich, wie ein Sturm in mir aufzieht. In diesen Tagen werfen mich sogar die kleinsten Kleinigkeiten aus der Bahn. Und das hier ist keine Bagatelle! Es geht um das Ganze! Die Kugel rollt bereits im Kessel der Roulette und rattert über die Schwellen. Was springt zum Schluss für mich heraus? Finde ich meinen Weg, oder gehe ich für immer unter? Vor allem aber befürchte ich, dass Dr. Henze durch das Abklopfen und Abhören etwas wirklich Abscheuliches entdeckte, was in mir auflauert und es nun raus will. Existiert eine schlimmere Angst als die vor sich selbst? Wohin flüchtet man in diesem Fall?
Sie sei mit mir fertig, teilt sie mir knapp mit. „Melden Sie sich bei ihrer Bezugspsychotherapeutin, Frau Schirrmann. Die nächste Tür“, sie lächelt mich schmallippig an und presst ihre Zähne zusammen, dass ihr Kiefer dabei knirscht.
Als ich in das Zimmer hineinplatze, befürchte ich einen weitern Dämpfer. Ein Hauch der Hoffnung, der mich in die Klinik führte, wird jetzt gänzlich verpuffen. Diese Vorahnung schmerzt mit einem tiefen Stich.
Sie ist anders, bemerke ich ein wenig erleichtert. Anders als Frau Doktor. Mir gegenüber sitzt eine Frau in dem Körper eines Mädchens mit neugierigen altklugen Augen, die sich an mich festbeißen. Sie stützt ihre Ellenbogen auf dem Schreibtisch, der sich zwischen uns ausbreitet. In diesen Sekunden wirkt sie sehr zerbrechlich und schutzbedürftig, was sich wie eine Anforderung an mich anfühlt. Ich zucke in mir zusammen, dass ich dieser unerwarteten Aufgabe nicht gewachsen bin; das heißt eigentlich, sie sei zu schwach um meine Schwäche aufzufangen. Diesen beunruhigen Gedanken entwickele ich nicht weiter, unterbrochen von einem beinahe Verhör. Stichwortartig erfragt sie das Spektrum des gängigen Übels: traumatische Erlebnisse, Gewalterfahrungen, Missbrauch. Die kurzen Sätze hackt sie wie eine Holzhauerin, zügig und fest. Der Eindruck von der Zerbrechlichkeit, den ich in den ersten Sekunden gewonnen habe, verschwindet und kehrt nicht mehr zurück. Jetzt kommt es mir vor, als ob ihr fragiler Körper an einem stählernen Rückgrat befestigt wäre. Die Widersprüchlichkeit dieser Empfindungen verwirrt mich noch mehr. Spüre ich die wahre Kraft in ihr, oder bilde ich mir lediglich ihre Stärke ein? Sehe ich die Wirklichkeit, wie sie ist, oder projiziere ich meine Wünsche und Bedürfnisse in sie hinein?
Unbestritten erscheint mir der Unterschied zwischen den beiden Frauen. Dr. Henze und Frau Schirrmann trennen nicht nur die Wände, sondern auch die Welten. Die eine reduziert mich zu einem Mechanismus, den man reparieren muss, für die andere bin ich ein menschliches Rätsel, mit eigener Geschichte, die mich hierher führt. In den wenigen Minuten hastete ich somit von einer zur anderen Extreme. Davon wird mir schwindlig wie auf einer Achterbahn, die keine Zeit für Überlegungen lässt, stattdessen stürzt sie uns in das animalische Fühlen mit sämtlichen Sinnen. Bei aller meiner Verwirrtheit weiß jedoch mein Herz wie auch mein Kopf, dass der Ansatz von Frau Schirrmann richtig ist. Wenn mir jemand helfen soll, dann sie und nicht die Frau Doktor mit ihrem Hämmerchen.
Im Nu erkiese ich Frau Schirrmann zu meiner Retterin. Was mache ich aber, wenn sie mich ablehnt? Damit meine ich nicht eine formal ausgesprochene Abweisung. Es geht mir um eine innerliche Weigerung, an der ich wie an einer kahlen Mauer zerbreche. Ich werde spüren, wenn sie ihre Zustimmung lediglich heuchelt. In meiner Not brauche ich mehr als einen trügerischen Schein. Eine Fata Morgana wird mich nicht retten.
„Sie müssen nicht ins Detail gehen – unterbricht sie meine Ausführungen, die wenig Konkretes beinhalten, und lässt trotzdem nicht den Eindruck des Desinteresses aufkommen - dafür haben wir noch Zeit.“
Im gleichen Atemzug verkündet sie, dass sie für zwei Wochen in den Urlaub gehe und von Frau Zunge - „Sie haben sie bereits kennen gelernt“ – vertreten werde.
Ich blinzele heftig und tue mich schwer damit, die Bedeutung der Nachricht nachzuvollziehen. Was ist das für eine Bezugspsychotherapeutin, die den Bezug zu mir gleich abbricht? Zeigt sie mir eben die befürchtete Ablehnung? Ich verstumme und stelle keine Fragen. Sie schwirren in meinem Kopf; an der Schwelle zu den Lauten zerbröseln sie jedoch an meiner Unfähigkeit, die Befürchtungen auszuformulieren. Mein Dialog mit der Welt läuft auf diese Weise, indem ich mir die Fragen lediglich denke. Ist das nicht verrückt, dass ich trotzdem eine Antwort erwarte?
Mit gehängtem Kopf beobachte ich intensiv meine Schuhe unter dem Schreibtisch, als ob sich dort wichtige Hinweise für mich verbärgen. Was passiert mit mir und um mich soeben? Ich erhebe verängstigt meinen Blick, geschehe, was es wolle, und sehe sie an. Nach ihrer Äußerung vermute ich nichts Gutes, es kann nichts anderes kommen.
Sie lächelt mich aber breit an, als ob sie sagen wollte, es sei alles in Ordnung. Ich krieche aus meinem Schneckenhaus vorsichtig heraus. Im wüsten Strom der Empfindungen halte ich mich an den windigen Einbildungen fest, wie eine Ertrinkende an dem Treibholz. Ich bin zu schwach, um mich zu widersetzen, und schwimme mit. Inmitten dieses Flusses pocht klein wie ein Vogelherz meine Hoffnung.
Inzwischen quartiert sich meine Zimmernachbarin ein. Wir reichen uns die Hände wie zwei Boxerinnen vor dem Kampf und bemessen unsere Stärken in einem in Bruchteilen von Sekunden verlaufenden Test der Sinne. Die grenzenlose Angst vor jedem und allem vermischt sich mit der Neugier auf die andere.
Gelandet in diesem verfluchten Ort werden wir in einem Raum ausharren und unsere Nähe ertragen müssen. In der Enge eines Zimmers sollen wir unsere ganzen Welten unterbringen und uns irgendwie arrangieren. Boah! Zwei absolut fremde Personen, zwei Verrückte in einem Käfig! Wenn das mal gut geht!
Wir stehen mitten im Zimmer und raten, was sich hinter der Schale des Gegenübers verbirgt. Sie sieht… normal aus. Nur ihre Augen glühen zu stark, damit ich glauben kann, dass sie so ruhig ist, wie sie sich zeigt. Mein Hals fühlt sich auf einmal trocken an, meine Stimme ist eine Krähe. Ich räuspere mich und spucke meinen Namen heraus. Sie stellt sich auch vor. Sie heißt Beata, kommt hierher direkt aus einer anderen Klinik und legt einen großen Wert auf das „a“ am Ende ihres Vornamens.
„Be-a-taaa“, wiederholt sie mit Nachdruck, damit ich mir das für sie so wichtige Detail einpräge.
Es sei ein einziger Buchstabe, ein „a“ statt „e“ am Ende, da könne man doch verlangen, dass man sich ihn merke. Stets werde sie aber Beate genannt, das sei nicht ihr Name.
Ich nicke und signalisiere meine Bereitschaft, ihrem Wunsch zu folgen, den ich am liebsten mit dem Achselzucken quittiert hätte, wie andere Kleinigkeiten, die nicht der Rede wert sind. Ich frage mich, was noch nach diesem Auftakt auf mich zukommt. Ihre Vorstellung fühlt sich bereits wie eine Warnung an. Ich verspreche mir aufzupassen und die beiden Lauten nicht zu verwechseln. An dem Buchstaben „a“ scheint ihre Identität zu hängen.
Verlegen und ungelenk beharren wir in der Mitte des Zimmers und wissen beide nicht, wie wir uns von der verlängerten Begrüßung lösen. Ich fege über ihr Gesicht, das in der Wucht der dichten schwarzen Haare fast kindlich wirkt. Sie mustert mich mit ihren dunklen Augen, wo ich vor allem die Traurigkeit entdecke. Jene Traurigkeit, die in mir auch wohnt. Die Schwermut schwappt über und breitet sich im Zimmer aus.
Wir wechseln noch ein paar Worte, peinlichst bemüht, uns normal und lässig zu zeigen. Dann haben wir uns vorerst nichts mehr zu sagen. Sie dreht sich zum Schrank, macht ihn auf und freut sich überschwänglich, dass drinnen genug Platz sei, als ob sie mit dieser übertriebenen Fröhlichkeit beweisen wollte, dass es ihr wirklich gut gehe.
Ich setze mich gleich auf mein Bett und nicht auf einen der beiden Stühle am schwarzen Tisch, der mir erstens zu klein, zweitens zu sehr im Zentrum des Raums und der möglichen Beobachtung exponiert vorkommt, und blättere in einem Stapel Papier, dem Wegweiser für unsere Therapie mit allerlei wissenswerten über den Umgang mit Gefühlen. Ich kann mich nicht konzentrieren. Das Zimmer steht unter hoher Spannung. Die muss von Beata herkommen. Was mache ich, wenn sie wirklich verrückt ist?
Zum Mittagessen finden sich sämtliche Patienten in einer Art Wintergarten ein. Der verglaste Anbau lässt unsere Blicke draußen schweifen, sodass der Eindruck der Freiheit entstehen kann. Als ob uns von der Umgebung nichts trennte. Das ist eine Täuschung. Das Glas erweist sich manchmal als das härteste Hindernis überhaupt.
Patient. Was für ein Wort! Wie ein Geständnis und eine Kapitulation zugleich. Ein Bild von trister Gewohnheit zwischen weißen Wänden, Pyjamas und schlurfenden Bewegungen flackert vor meinen Augen. Nichts davon passt aber zu uns. Wir tragen normale, meist sportliche Kleider. Das Weiße reduziert sich zu kleinen Tupfern der Regalen in dem Küchenabteil - zentral und offen im Atrium eingerichtet und mit modernen Geräten und Utensilien gut ausgestattet – das Kochen und Backen versteht man hier anscheinend als Bestandteil der Therapie. Die Bezeichnung Klinik ist auch im üblichen Sinne nicht angebracht. Wer uns zufällig besucht hätte - was allerdings verboten ist -, der würde eher an einen Kurort denken. Beide Begriffe muss ich dennoch fortan ertragen: Ich befinde mich in der Klinik und ich bin eine Patientin.
Wir bedienen uns selbst aus den heißen metallenen Behältern auf der geräumigen Küchenplatte. Ich wünsche leise Guten Appetit, so leise, dass meine Stimme in dem Geklirr und dem Getuschel untergeht, dann senke ich meinen Kopf über den Teller und verschlinge hungrig das Putenragout mit Kartoffelpüree.
Das Essen bringt ein Flitzer aus der nicht weit entfernten Küche, an der man auf dem Weg zum bizarren, weiß schimmernden Berg vorbeiläuft. Ich hätte diesen Hügel in mich hineinstopfen können, so groß ist mein plötzlicher Hunger. Nichts auf der Welt kann ihn stillen, diesen Hunger oder eher eine unersättliche Sehnsucht… Wonach?
Das Geschirr stelle ich, wie die anderen es tun, in die Spülmaschine und verschwinde schleunigst im Zimmer, was nach einer Flucht aussieht. Und es ist tatsächlich eine. Zwischen dem Leid draußen und meinem eigenen zu differenzieren schaffe ich genauso wenig, wie meine Empfindungen zu verstehen. Ich löse mich im Schmerz auf und vermute, dass mein Gesicht diese Qual offenlegt. Keine dumme Maske ist so peinlich, wie der nackte Schmerz. Nackter kann man nicht sein. Der Schmerz entblößt die tiefst versteckten Schwächen. Er legt sie offen und liefert uns der Welt aus, einer Welt, die über uns herfällt und uns wie ein wildes Tier zerfetzt.
Ich verkrieche mich in meiner Zuflucht, auf dem einzigen Fleck, den ich vorübergehend als meinen betrachten darf, in meiner winzigen Sicherheitszone auf meinem Bett.
Das Klopfen an der Tür zwingt mich aufzustehen. Ich nehme einen Stapel von Formularen aus den Händen der Schwester entgegen. Sie stellt sich vor, Tina Koch, und erklärt kurz, worum es geht, ehe sie die Tür hinter sich schließt. Ich soll meine letzten zwei Wochen reflektieren, ob ich traurig war und wie sehr, ob ich an einen Selbstmord lediglich dachte, oder es auch tun wollte, und wie schlecht ich mich fühlte, wie wertlos…
Die Fragen ziehen mich herunter. Ich muss in den frischen Wunden wühlen. Das verdunkelt die Welt drinnen und draußen und drückt meine auch sonst miese Stimmung. Die schwarze Tür ist nicht schwarz genug, um meine Gemütslage widerzuspiegeln. Ich sitze im Zimmer wie in einer Falle und fühle mich eingeengt bis zum Ersticken. Es holt mich all das ein, wovor ich hierher geflüchtet bin. In einem Reflex, der von selbst passiert, schnappe ich meine Jacke und renne heraus.
„Halt! Sie müssen sich zuerst abmelden!“, ruft mir Schwester Tina aus ihrem Büro hinterher.
Ausgebremst wie ein Kind, das sich eine Erlaubnis holen muss, bevor es selbständig handeln darf, kehre ich zurück und stelle mich verdattert vor ihr.
„Sie dürfen jetzt gehen – sie schmunzelt zu meinem verängstigt scheuen Gesicht - ich habe Sie gesehen. Um 18 Uhr spätesten müssen Sie zurücksein.“
Ich laufe, ich flüchte zur Straße. Wenn ich nur dem Leid, das sich durch meine Venen im Lauffeuer verbreitet, entkommen könnte! Ich keuche nach der Luft, die nicht genug Platz in meiner Brust findet. Mein Körper ist mein Gegner; mein Geist ist ein Sklave, abhängig von den Menschen, über die ich nichts weiß und deren ich mich offenbaren muss.
An der Straße bleibe ich stehen und schaue mich dampfend und japsend um. Die Autos rollen langsam vorbei, sobald sie das große Schild passieren. Wieso habe ich es bei der Busfahrt nicht bemerkt? „Achtung! Psychiatrisches Krankenhaus!“, warnen die großen schwarzen Buchstaben darauf. Lieber Gott im Himmel, was mache ich bloß hier? Wonach suche ich unter den Bescheuerten und Abgeschobenen?
Die Scheinwerfer streifen mich und fließen fort; niemand nimmt eine Notiz von meinem Dasein. Das Leben fährt weiter und lässt mich am Rande zurück.