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Sonja, Kalb und die Nacht

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Die tägliche abendliche Versammlung um 18 Uhr steht auf unseren individuellen Wochenplänen gelb angestrichen, markiert als eine Pflichtveranstaltung, vor der wir uns nicht drücken dürfen.

Ich setze mich mit bebendem Herzen und zugeschnürtem Hals im gleichen Saal wie zum Mittag an der äußersten Ecke des offenen Vierecks von Tischen. Rechts von mir lungern auf den schwarzen Ledersofas ein paar Patienten, lässig wie Mitglieder eines vornehmen Clubs mit exklusiven Rechten. Ich kämme über sie hindurch und meide einen direkten Blickkontakt. Für eine Auseinandersetzung – egal welcher Art - bin ich nicht gerüstet. Meine Augen kleben die meiste Zeit an der Tischplatte. Währenddessen wünsche ich mir innig, dass ich woanders wäre, egal wo das undefinierte Woanders sich befindet. In dieser Klinik gibt es keinen Platz für mich, das fühle ich von Kopf bis Fuß. Ich passe hier nicht hinein!

Der verglaste Saal, getaucht im künstlich kühlen Licht, strahlt in den stockdunklen Abend um uns herum wie eine Laterne für die Verwirrten. Drinnen wirkt er für mich wie ein Gefängnis. Ich bin in ihm und in mir gefangen.

„Da wir heute neue Patienten haben, bitte ich Euch um eine Vorstellungsrunde“, ordert Schwester Tina. Sie lässt sich an der Säule unter einer bahnhofsgroßen Uhr nieder; ihre Augen springen von Person zu Person, mit der Absicht die Stimmungen auszuloten.

Ihre Ankündigung erschreckt mich gewaltig. Ich soll mich vorstellen? Mich selbst zum Abschuss freigeben? Vor allen die Hose herunterlassen und einen seelischen Striptease veranstalten? Momentan bestehe ich doch nur aus den Schwächen. Soll ich meine Wunden zeigen? Das will ich nicht! Nicht jetzt, nicht an diesem Ort, nicht vor diesen Menschen, obwohl ich nichts gegen sie habe. Ich kenne sie doch alle nicht! Da beginnt schon die erste Frau und nennt ausschließlich ihren Namen. Das reicht. Ich bin wahrhaft erleichtert. Meine Stimme versagt dennoch und ich krächze, räuspere mich und huste. Angestrengt nicht aufzufallen, erreiche ich das Gegenteil. Neugierige Augen richten sich auf mich. Ich fühle mich wie ein Affe im Zoo zur Schau gestellt. Ein armes Wesen. Meine Wangen glühen knallrot. Ich muss mich nicht im Spiegel anschauen, um zu wissen, wie es aussieht, wenn ich das Feuer auf meiner Haut spüre. An der Stirn bilden sich Schweißtropfen. Ich würde sie am liebsten abwischen. Dafür müsste ich nach einem Taschentuch suchen, mich unter beobachtenden Augen beugen und drehen. Schon der Gedanke fühlt sich felsenschwer an. Meine Hände liegen wie Steine auf dem Tisch. Mir gelingt es nicht, sie zu bewegen.

„Ich bin Sonja Munz“, stellt sich eine vor, die in der Mitte wie eine Königin thront, mit windiger Frisur und einem harten Glanz in den Augen.

Sonja fragt in die Runde, ob man sich an den hiesigen Brauch halten könnte, wie sie es kennt – sie eiert herum und findet Spaß daran –, dass sich alle mit dem Gesicht dem Kreis zuwenden, und nicht mit dem… Sie spricht den Satz nicht zu Ende und grinst zufrieden, weil die Versammelten kichern. Sonja meint mich. Als einzige falle ich aus der Reihe. Wie habe ich mich denn hingesetzt? Zwar nicht ganz mit dem Arsch zu den anderen, eher seitlich wie eine Nichtbeteiligte. Trotzdem doof! Ich stelle meinen Stuhl um und wünsche mir, dass sich die Erde auftut und mich samt Hocker aufnimmt. Zeitgleich stehen die gesamten Patienten auf. In der Aufregung überhörte ich die Aufforderung von Schwester Tina.

Sie schlägt ein Spiel vor: In Paaren solle man die Partnerin oder den Partner genau beobachten, sich dann umdrehen, drei Sachen verändern und gegenseitig die Veränderungen erraten. Ich bin dankbar für das Spiel wie für jede Ablenkung, die die Aufmerksamkeit von mir wegleitet. Der allgemeine Aufruhr rettet mich aus meiner Starre. Ich springe hoch.

Die Paare bilden sich flugs. Ich traue mich nicht, auf jemanden zuzugehen, und verharre abseits wie ein gescholtenes Kind, das seinen Platz nur in der Ecke weiß.

Jemandes Blick zieht meinen Kopf zur Seite. Sonja! Sie steht allein und fixiert mich. Mein Blut kühlt sofort ab. Bitte, nein, flüstere ich in mir. Sie lässt aber von mir nicht ab und starrt mich weiter an. Es bleibt mir nichts anderes übrig: Wie ein Kalb zum Schlachter schwanke ich zu ihr. Ein Kalb, das sich auf seinem letzten Weg nicht Mal traut, nach Mutter zu winseln.

Sie nickt von weitem zustimmend und lächelt einladend und oberflächlich wie in einer Werbung, die viel verspricht und wenig einhält. Mein Blick tastet sich vorsichtig über ihre durchschnittliche Figur, von ihren Haaren bis zu den Schuhen. Sie mustert mich genauso. Wir nehmen die Aufgabe ernst.

Anlässlich dieses Abends habe ich ein buntes Tuch um meinen Hals gewickelt. Jetzt will ich es ausziehen und versage an dem einfachsten Vorhaben. Wie mit einer Schlange kämpfe ich mit dem Stück Stoff, probiere es aufzubinden, ziehe und zerre daran. Das kann nicht wahr sein! Ich verzweifle an diesem widerspenstigen Fetzen, gebe aber nicht auf und erwürge mich beinahe. Egal, was ich unternehme, meine Bemühungen bleiben erfolglos. Ich erkläre mich für geschlagen. Das Tuch hat gewonnen und umschlingt meinen Hals nach wie vor.

Was soll ich sonst an mir verändern? Meine Hände zittern wie bei einer Säuferin. Ich öffne hastig den Reißverschluss meiner Hose, danach fahre ich über meine Haare und stecke sie nach hinten. Eine dritte Sache fällt mir nicht ein! Mein Kopf ist leergefegt. Ich kann nur fühlen und leiden.

„Rate du zuerst“, diktiert Sonja.

Mein Blick richtet sich auf ihre Frisur; sie hat ihre Haare hinter die Ohren geschoben. Der Volltreffer.

„Ich habe das gleiche gemacht“, freue ich mich kindisch.

Ihre Augen sprühen Blitze, sie zischt verärgert: „Das darfst du doch nicht sagen!“.

Der Lärm und die Gelächter erlöschen, nachdem sich alle wieder hinsetzen. In der Stille höre ich mein Herz laut und deutlich. Ich komme nicht zur Ruhe. Es bebt in mir und erschüttert mich etwas, wofür ich keinen Namen weiß und was für die anderen eine Depression oder eine psychische Krankheit heißt. Bin ich die einzige Verrückte hier? Ich sehe lauter ruhige selbstsichere Gesichter, von außen zumindest. Mein eigenes muss sich wahrscheinlich wirr und verzweifelt vom Rest abheben.

Hintereinander berichten jetzt Patienten, was an diesem Tag für sie wichtig war, welche Erfahrungen sie gesammelt haben und ob sie ihren Therapiezielen näher gekommen sind. Isabell, die sich auf dem Sofa ausstreckt, mit frecher Frisur und aufgeregten Augen, hält einen Zettel in der Hand und referiert pedantisch über jede Gruppe, die sie besuchte, und über ihre damit verbundenen Gefühle. Sie wirkt auf mich sehr souverän, ihre Stimme klingt klar und deutlich. Ich schaue zu ihr hinüber und bewundere ihren Mut. Zugleich denke ich, dass ich mich nie derart seelisch entblößen will. Meine eigene Stimme hört sich danach fremd an. Ich murmele, dass das mein erster Tag sei und ich keine Ziele wisse. Ich gebe wieder ein peinliches Geständnis der Verwirrtheit ab.

Beim Abendbrot meide ich Blicke und Gespräche, die auf mich aufprallen und mich unbeabsichtigt verletzen. Ich ziehe mich schnell ins Zimmer zurück und verstecke hinter einem alten im Antiquariat erworbenen Buch mit vergilbten Seiten und einem Titel, der zu mir passt, „Angst vorm Fliegen“. Das Lesen gelingt mir nicht. Die Sätze und Wörter, die ich anstarre, fallen auseinander. Mein Kopf versagt bei dem Versuch, eine Bedeutung im Buchstabensalat zu erkennen.

Derweil telefoniert Beata mit ihrem Mann und erzählt ihm – ihre Stimme ist laut und deutlich, sodass ich zuhören muss –, dass das Zimmer sehr hoch und die Betten sehr niedrig sind.

„Kannst du dir diese Perspektive vorstellen? Wenn ich mich hinlege, fühle ich mich wie ein Zwerg aus dem Märchen. Das ist eine Zumutung!“

Seine Antwort kommt nicht durch, ein Rauschen drängt lediglich zu mir. Sie hört lange zu. „Ich dich auch“, antwortet sie letztendlich, diesmal weich und warm.

Ich schaue durch das Fenster auf die Felder. Sie sind weiß! Im Licht der Laterne wirbeln die Flocken. Es schneit mitten im November! Mein Herz hüpft, als ob der Schnee eine Veränderung zum Guten ankündigte.

Beata schluckt eine Schlaftablette und wundert sich, dass ich mit niemandem telefoniere, um Gute Nacht zu sagen.

„Bist du verheiratet?“, bohrt sie nach.

„Ich bin geschieden“, flüstere ich und knipse die Nachtlampe am Regal neben dem Bett aus. Ich lausche, wie Beata sich dreht und seufzt und gleich beruhigt. Stundenlang wälze ich mich, wartend auf den Schlaf.

Die Nacht erlöst mich von den Herausforderungen hinter der Tür. In der Dunkelheit kriechen indes aus allen Ecken die Ängste. Vor der Zukunft. Vor dem morgigen Tag. Vor mir selbst. Und vor Beata. Ihre Anwesenheit drängt zu mir mit einer Schärfe, die mich höchst aufregt. Wie sie da liegt und den Raum zwischen uns in Besitz nimmt. Sie erfüllt die Nacht um mich herum, als ob sie sich in Wellen ausgebreitet hätte. Meine letzten Gedanken sind ihr gewidmet.


Der Schrei eines Untieres

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