Читать книгу Im Reich der Träume - Gabriel Lopez Monica - Страница 6

Kapitel 3 Eine beharrliche Frau

Оглавление

Die Alpen. Ein weißer Januartag. Himmel und Erde bestehen aus Schnee. Es ist kalt, weit unter dem Gefrierpunkt. Ein Sturm wütet. Jennifer Brel hört nichts davon, sie spricht beim Gehen mit sich selbst, isoliert, unter der wärmenden Maske des Helms.

>> Ist es hier immer so? Hört das nie auf? <<

Hans Peter Kraft, ihr Führer, vor ihr, hört ihre Worte. Er schweigt, ihre Stimme ist schöner als eine Antwort wäre. Er kennt diese Gegend auch anders. Er weiß wie eindrucksvoll, majestätisch, es hier sein kann. Die trockene, klirrende Kälte macht dann munter. Der blaue Himmel – ein Hochgenuß. Die dünne Luft – gefährlich berauschend. Er schaut hinauf, in das Weiße der Wirklichkeit und sieht es, seine Erinnerung: Die Bergkette der Viertausender lockt mit einem unbeschreiblichen Zauber; kaum ist der Blick oben, erkennt er dahinter noch höhere, ehrfurchtgebietendere Berge. Demütig senkt er den Blick, in das Weiße, und sieht es, die Vergangenheit: Das Tal! Der Gletscher dort ist nicht minder imposant.

Diese Welten machen winzig. Er steigt hinab, zu sich selbst und erkennt, dass er dennoch zählt. Hier herrscht eine Stille die Frieden bringt. Sie wird untermalt von der gegenwärtigen Erinnerung an seltsame, knackende Geräusche. Das war (ist) die Bewegung der Eismasse des Gletschers, dieses geheimnisvollen, scheinbar erstarrten Titanen, übersät mit Spalten die in unbekannte Tiefen führen. Wer dort hineinstürzt den erwartet eine Eiswelt – die blaue Fee, eine Geschichte: Es war einmal Uranos, und Gaia, sie hatten sechs Söhne und sechs Töchter...

Das Ende.

Vergangenheit: Schon im Tal war der Himmel bedeckt gewesen, mit grauen schnellen Wolken. Auf dem Weg wurde das ganze Firmament grau. Jennifer Brel ließ sich davon nicht beirren, sie hatte ihre Gründe für das Wagnis: Liebe und Zeitmangel. Mitten auf einen Firnfeld fing es an zu schneien. Der Gletscher lag fast hinter ihnen, ein Zurück gab es nicht mehr. Vor ihnen erstreckte sich nun die Hochebene, mit Schnee, dass auf Geröll fiel. Aus dem Schneefall wurde ein Sturm. Der Horizont verschwand.

Gegenwart: Dichtes Schneetreiben, seit Stunden, aus Pulverschnee, dessen Kristalle auf der Haut des Gesichts stechen, wie Nadeln, wenn man es wagt sich ihnen auszusetzen. Der lockere Neuschnee türmt sich auf. Trotz Schneeschuhen sinken die Beine, bei jedem Schritt, bis zu den Knien, knirschend ein. Es geht nur langsam voran. Ab und zu unterbricht ein klagendes Heulen die Stille hinter dem Visier. Draußen ist alles in Bewegung. Der Wind zerrt an ihr.

In ihrer Schutzkleidung, passend für die arktischen Verhältnisse, weiß die von der endlosen Wanderung müde Frau gar nicht mehr, warum sie all diese Mühen auf sich nimmt, aber sie vertraut ihrem Führer, diesen seltsamen Mann, mit dem seltsamen Namen: Kraft – ein Freund. Sie ist nur hier weil Kraft ihrer Hoffnung, Adrian zu finden, neue Nahrung gegeben hat. Eigentlich hatte sie aufgegeben, alle geben auf – es ist nur eine Frage der Zeit.

Sie ist müde, aber sie will noch nicht rasten. Ihr Wille treibt sie voran. Wo sollte sie auch in dieser öden Gegend einen geschützten Rastplatz finden. Hier gibt es nur lockeren Schnee, Kraft, der immer so distanziert ist und aufkommende Verzweiflung kurz vor dem Ziel zu scheitern. Sie spürt die Verführung einfach stehenzubleiben und sich in den Schnee sinken zu lassen, nur um kurz die Augen zu schließen, denkt sie, während es Schritt für Schritt weitergeht, schwer atmend. Eine leise Stimme in ihren Kopf argumentiert: Es ist sowieso zu spät, wahrscheinlich findest du nur noch ein Grab. Jennifer Brel schüttelt den Kopf. Die Hoffnung obsiegt. Es geht weiter.

Der Ort, von dem Kraft sprach, kommt in Sicht.

Die schwarzen Mauern trotzen mühelos den Sturm. Sie sind mit dem Berg verwachsen. Vulkanisches Gestein, aufgestiegen aus dem Bauch der Erde, vor Äonen. Sie ragen hoch empor und wirken wie aus einem Guss. Als ob von Titanenhand aus dem Bergmassiv gemeißelt. Ihre Botschaft ist widersprüchlich. Der kalte Stein sagt: Niemand ist willkommen! Doch als die Wanderer sich nähern erkennen sie ein Leuchten am Boden, als ob ein Teil der Mauer glühen würde, und darüber ist der warme Schein mehrerer Fenster zu sehen. Jennifer hebt die Hand zum Gesicht, öffnet das Visier, atmet die kalte Luft und schreit munter gegen den Sturm an.

>> Hans! Wo ist der Eingang? <<

Hans Peter Kraft hört es überlaut, er dreht die Lautstärke herunter und bleibt stehen. Er deutet mit den klobigen Zwei-Finger-Handschuh, an dem der Skistock nach unten hängt, nach links. Er winkt ihr ihm zu folgen, wechselt die Richtung und geht nun an der Mauer entlang. Jennifer folgt ihm, schließt das Visier und spricht wieder mit sich selbst.

>> Ist er hier? Was ist das eigentlich? <<

Dieses Mal antwortet Kraft.

>> Das ist Okeanos, ein uralter Monolith. Ja, sie leben hier: Adrian, seine Frau und ihre Kinder. <<

Jennifer bleibt stehen, ihr schießen die Tränen in die Augen. Kraft hört einen Schluchzer, und versucht daraufhin sie zu beschwichtigen.

>> Keine Angst; es sind ihre Kinder, nicht seine. Du bist es, der in seinem Kopf ist. <<

Sie glaubt ihm, aber ein leiser, bohrender Zweifel bleibt – zum Teufel mit ihr und ihren Kindern!

>> Hans! Manchmal ist es besser zu schweigen. <<

Er schweigt, sie geht weiter.

Nach einiger Zeit taucht im Schneesturm, an der grob behauenen Mauer, ein gelbschwarz schraffierter Bereich auf, darin ein rotes Schott, dass langsam zur Seite fährt, als Kraft die Stelle erreicht. Er winkt ihr und wartet. Jennifer beeilt sich.

Das Licht flammt mit einem kurzen Summen auf. Neonröhren, die in Reihen von der Flugzeughangarhohen Decke herabhängen, erleuchten den riesigen Raum taghell. Die Besucher bleiben stehen und betrachten das Panorama. Das Schott gleitet wieder zurück und schließt. Kraft nimmt mit beiden Händen den Helm ab, Jennifer tut es ihm gleich, erleichtert, dass der Sturm nicht mehr an ihr zerrt. Die kühle Luft riecht nach Schnee, und ein wenig nach Benzin. An den weit entfernten Wänden, links und rechts, stapeln sich mattsilberne, metallene Kisten deren Beschriftungen, Konbinationen aus großen schwarzen Buchstaben und Zahlen nichtssagend sind. Dazwischen, auf gelb markierten Stellplätzen parken akkurat vier Schneemobile und ein großes Raupenfahrzeug, in dessen Kabine vier Personen, vielleicht auch fünf Platz finden. Der graue Boden ist überall trocken, es war wohl schon lange niemand mehr draußen. Vor ihnen, weit entfernt, erkennen sie eine quadratische rote Fläche und, rechts daneben, einen schwarzen Punkt der, als sie sich nähern, zu einem Bildschirm wird. Die rote Fläche entpuppt sich als ein weiteres Schott, dass sich allerdings nicht öffnet.

Die zwei wenden sich dem, in die Wand eingefügten, Bildschirm zu. Über der deutlich nach außen gewölbten Mattscheibe, sind zwei schwarze Kameras angebracht, große Dinger, mit schwarzen Metallarmen an der Wand befestigt. In der Mitte des Bildschirms erscheint ein weißer Punkt der schnell größer wird, bis er den ganzen Bildschirm ausfüllt. Jennifer schaut Hans fragend an, er nickt ihr zu und deutet mit dem Finger auf den Bildschirm, auf dem schwarze Schrift erschienen ist.

Bitte anmelden!

Kraft geht hin und drückt auf die Schrift, die bei der Berührung erlischt. Die Kameras bewegen sich. Sie erfassen dominierend die Besucher; während ihre stechend blaue Kontrollleuchten anfangen gebieterisch zu blinken. Sofort spürt Jennifer die abwehrende Reaktion ihres Körpers. Der leere Magen zieht sich zusammen, die Augen weiten sich, die Umgebung entfernt sich scheinbar. Ihre Muskeln sind angespannt, zum Sprung bereit, bis sie anfängt zu denken: Das ist so trivial, wie in einem billigen Science-Fiction-Film, so abgedroschen banal. Sie beruhigt sich, aber das Bewusstsein um den großen Augenblick des Wiedersehens macht sie nervös: Zweiundzwanzig Jahre lang habe ich ihn gesucht, an ihn gedacht, ihn aufgegeben, wieder gehofft, weiter gesucht, wieder aufgegeben, und nun bin ich hier – kaum zu glauben! Alles ist so anders, als ich es mir vorgestellt habe. Auf einmal überkommt sie Trauer: Ist es nicht schon zu spät? Vielleicht sollte ich mir wünschen, dass er nicht hier ist. Kraft hat sie beobachtet, mustert sie weiterhin: Sie ist zweiundzwanzig Jahre älter. Die einst schwarzen Haare haben graue Strähnen bekommen. Die Falten um die Nasenwurzel, entlang den Wangen, an den Augen, zeugen von Schwermut, Stärke und einen leisen Triumph des Willens – sie ist eine betörende Frau geworden, mit den Augen eines Mädchens; für einen Augenblick ist er darin, empfindet den Wunsch sie zu küssen, er schüttelt das ab und beneidet Adrian. Es befriedigt ihn, dass sie nicht aufgegeben hat. Sie hatte viele Fragen, er keine Antworten.

Hans Peter Kraft weiß auch nicht was das alles ist, die Welt, oder was das alles soll, dass er nicht stirbt zum Beispiel. in seinem endlos langen Leben gab es bereits einige Jennifer Brels und Adrian Weißhaars. Solche Menschen finden sich immer wieder; bei denen es sich lohnt, weil sie etwas haben, dass ihn stärkt; sie schenken ihm Sinn. Und er, der weiterhin lebt, nachdem sie gegangen sind, trauert, akzeptiert den Verlust und geht.

Jennifer hat seine Blicke bemerkt. Dieser Mann erstaunt sie, weil er sich nicht verändert. Sie versteht es nicht, warum er nicht altert und fragt sich welche Verbindung zwischen ihm und Adrian besteht. Im Grunde ist sie nicht aus Liebe zu Adrian hier, keine Liebe hält zweiundzwanzig Jahre Abwesenheit aus – das ist alles romantischer Quatsch –, sondern aus Neugier: Wer ist dieser seltsame Mann Hans Peter Kraft? Weiß Adrian es?

Jetzt mustert sie ihn. Er ist einen Kopf kleiner und sehr unansehnlich: Ein hageres Gesicht; ein kleiner Mund, welches einen harten Zug trägt, mit einer Spur Verachtung darin. Kräftige rote Haare, die ihm über die Ohren reichen, schwarze Augen, glitzernd hinter halbgeschlossenen Lidern, in den Mundwinkeln stets den Anflug eines provozierenden, aristokratischen Lächelns – Wissen um Geheimnisse? oder ist es lediglich Arroganz?

Auf dem Bildschirm erscheint das Gesicht einer reifen Frau, deren Schönheit der Jennifers übertrifft. Beide wenden sich ihr zu. Kraft grüßt sie höflich, mit Süffisanz in der Stimme.

>> Meine Liebe, wir sind einen langen Weg gegangen ihm wiederzusehen, eine alte Freundin... Sie, wissen es schon, nicht wahr Claire? <<

Claire Weißhaar nickt, sie kennt die Irrwege der Liebe, die Labyrinthe, aus der es kein Entkommen gibt. Ihre Augen fixieren Jennifer Brel.

>> Madame, was macht Sie glauben willkommen zu sein? Werden Sie seinen Schmerz lindern? Gehen Sie! Gehen Sie! <<

Der Bildschirm wird dunkel. Kraft nickt Jennifer hoffnungsvoll zu.

>> Keine Sorge, ich kenne Claire, sie ist ein herzensguter Mensch. Das wird schon. Sie spricht mit ihm. Nur noch ein wenig Geduld. <<

Jennifers Gedanken rasen: Diese Frau! Das ist nicht gut! Was soll ich ihm sagen? Kraft lenkt sie ab, er entfernt sich.

>> Hans? Wohin gehts du? <<

Er reagiert nicht, geht weiter, immer weiter, bis zum Ausgang und hinaus. Jennifer rennt ihm hinterher, aber nur bis zum Schott. Sie sieht ihm nach, erschrocken, bis er im Schneegestöber verschwindet. Sie bleibt. Das Schott schließt. Sie schüttelt ungläubig den Kopf. Ihre Geschichte, weswegen sie bis zu diesem Ort gelangt ist, ist alles was ihr nun bleibt: Wyatt – Writerboy – Adrian. Auf halbem Wege, zurück zum Bildschirm, setzt sie sich auf den Boden. Okeanos verwandelt sich in einen einsamen Ort. Sie löst sich von Hans und wartet auf ein Lebenszeichen von Adrian.

Der Bildschirm leuchtet!

Das Bild zeigt einen Mann. Sie bemerkt es, steht auf und geht hin. Er setzt sich auf einen Stuhl. Sie fühlt sich wie auf einem Catwalk, dem Zuschauer ausgeliefert, und ihr Körper spricht anmutig, unter der Kleidung.

>>>>Ja<<<<

Hyperion! als wäre es gestern gewesen. Ein Lächeln erscheint auf ihrem Antlitz. Sie ist da! Er ist ganz nah! Und ihr Ja eilt ihr, wie auf Flügeln, voraus.

Zweiundzwanzig Jahre zerrinnen zu Nichts.

Sie mustern sich. Die Augen treffen sich noch nicht,

>> Was hast du gesagt? <<,

erst jetzt.

>> Nichts. Ich sehe dich an, deine Haare sind grau, wie seltsam, ganz anders als in meiner Erinnerung – du bist eine alte Frau geworden. <<

>> Nicht so alt wie du! <<

>> Nein, nicht so alt wie ich. Ist dir das wichtig? <<

>> Nein, und dir? <<

>> Nein. Ich habe ein Buch über dich geschrieben, aber fast alles ist erfunden. Es enthält alles was ich mir ausmalte; wie du warst, bevor wir uns begegneten, und danach. Die paar Tage die ich mit dir hatte sind zu einem ganzen Leben angewachsen, Fantasien; eine Welt habe ich erfunden; dass du jetzt hier bist? Unglaublich! Nach so langer Zeit sehe ich dich wieder, Papergirl – Jennifer; für mich bist du das Mädchen aus der Wüste; der einzige, wirkliche Mensch. Woher kommst du? Wer bist du? Das wollte ich dich schon damals fragen. Wie war dein Leben wirklich? <<

Er spricht weiter, fast weint er. Mit sanfter Stimme leert er seine Seele, sagt ihr Dinge die ihm gerade in den Sinn kommen, und sie, sie schweigt dazu und weint. Er ist da, mehr muss nicht sein. Gedanken überlagern die Melodie seiner Poesie: Er liebt mich. Er war die ganze Zeit über mit mir beschäftigt. Ist das ein Zauber? Bin ich am Ende hier weil er mich gerufen hat? Hat Hans es auch gespürt und mich darum hergeführt? Nein, so etwas gibt es nicht; ich will ihn, ich war es, ich ganz allein. In ihren Augen blitzt es auf: Eine Erinnerung! Mit dem Herzen in der Kehle sprudelt es aus ihr heraus.

>> Mach auf Writerboy! <<

Der alte Name wirkt wie ein Code. Er hört auf, drückt auf einen Knopf, und geht.

Das rote Schott öffnet mit einem Summen, und gibt den Blick auf einen breiten Flur frei. Einige Meter vulkanisches Gestein, schwarz, wie der Fußabtreter, dann folgt ein gelber Teppich, ein Läufer mit blauen Streifen an den Seiten. Stehlampen mit grünen Schirmen an weißen Wänden, in regelmäßigen Abständen. Warme Luft strömt ihr entgegen, sie tritt ein.

Im Reich der Träume

Подняться наверх