Читать книгу Achterbahn der Hormone - Gabriele Berchter-Bohl - Страница 5
I.
Оглавление»Melli!« Anita Großmann’s Stimme klang etwas angesäuert.
»Ja Mum, ich komme ja schon.«
Melli hatte gar keine Eile. Am liebsten würde sie sich im Schrank verstecken, so als wäre sie wieder fünf Jahre alt. Wenn sie keine Lust auf Kindergarten gehabt hatte, war das eine der Möglichkeiten gewesen, zumindest etwas später in diesem Getto für Kleinkinder anzukommen.
Heute war der erste Schultag nach den großen Ferien und ihr erster Tag auf der Zweijährigen. Melli hatte im letzten Schuljahr beschlossen, ihr Abi ganz langsam anzugehen. In Folge kam nun der Schulwechsel. Melli mochte gar nicht darüber nachdenken. Sie hasste solche Situationen! Lauter Neue und sie war eine davon! Neue Lehrer, neues Klassenzimmer und einen mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit beschissenen Stundenplan. Eine Freundin ihrer Mum hatte ihre Tochter schon ein Jahr auf dieser Schule: Von Montag bis Freitag jeden Nachmittag Unterricht! 10 Stunden normal!!! Am liebsten würde sie sich wieder in ihr Bett legen und diesen Tag ersatzlos streichen.
»Mellissa!!!« Okay, jetzt eindeutig richtig sauer.
»Bin fertig, Mum.« Tasche noch schnell über die Schulter, Gott sei Dank hatte sie diese am vorigen Abend schon gepackt und ab die Treppe hinunter, in die Wohnküche. Mum’s Frühstücks-Vitamingetränk stand auf der Theke, daneben ein zweites Glas. ›Auf Ex‹, dachte Melli, obwohl sie wusste, dass sie damit einen weiteren Rüffel riskierte. Und da kam er schon, »Erst wird herumgetüddelt, man wird nicht fertig und dann bei den Dingen hetzen, die in Ruhe getan werden sollten! Wann wird sich das denn ändern? Von einer 17-Jährigen könnte man schon etwas mehr erwarten!«
Normalerweise kam Melli super mit ihrer Mutter aus, nur war heute eben nicht ›normalerweise‹! Sie wusste, dass sie ihrer Mum gerade furchtbar auf den Geist ging, aber sie konnte das einfach nicht ändern. Sie hatte ein scheiß Gefühl im Bauch und mit jeder Minute wurde es schlimmer. Und alles nur wegen der neuen Schule! Wenigstens hatte ihre Mum beschlossen, sie am ersten Schultag mit dem Auto zur Schule zu fahren. Ab dann hieß es, sich mit dem Bus quälen. Eine halbe Stunde Fahrt, viel Vergnügen! Vollgestopfte Schulbusse kannte Melli schon zu Genüge aus den vergangenen Schuljahren. Spaß war anders! Ihre Mutter holte sie aus ihren dunkelgrauen Gedanken.
»Auf geht’s, wir fahren, sonst kommst du noch am ersten Schultag zu spät!«
Auf dem Weg zum Auto ging Melli zum x-ten Mal ihre Kleiderwahl durch. Sie liebte einen lässigen Style, der an ihr auch gut aussah. Lange Beine, schlank, blonde, gewellte Haare bis zu den Hüften, und immerhin schon Trägerin eines B-Cubs! Aus ihrem Gesicht blitzten grün-graue Augen, eine etwas vorwitzige Stupsnase gab Melli einen frechen Touch. Zu ihrem Leidwesen verharmlosten einige Sommersprossen das Bild. Ansonsten war sie mit ihrem Anblick im Spiegel zufrieden, es hätte sie schlimmer treffen können. Melli hatte ein richtiges Problem damit, dass sie sich zu groß fühlte mit ihren 173 cm, auch wenn die meisten Jungs in ihrem Alter immer noch einen Kopf größer waren. Aber nur selten gab es Mädchen, die auch so lang geraten war. Sie wäre lieber etwas kleiner gewesen und vielleicht nicht so aufgefallen. Um cool rüber zukommen, zog sie prinzipiell lässige Pullis und Shirts an.
Heute waren verwaschene Jeans, ein Gürtel mit Nieten um die Hüften, Sneakers und eine passende, gehäkelte Ballonmütze angesagt. Gott sei Dank war ihre Mum mit ihrem Style einverstanden und quatschte selten rein, sie bevorzugte selbst auch eher flippige Klamotten. Melli’s Dad war in seinem Job so eingespannt, dass die Kleidersorgen seines einzigen Kindes völlig an ihm vorbeigingen. Was dieser auch sehr recht war.
Je näher sie der Schule kamen, desto mulmiger wurde es Melli. Ihr Magen rebellierte – den Drink doch zu schnell getrunken? Ach Quatsch, es lag nur daran, dass sie schlicht und ergreifend Angst hatte. Ihre coole Fassade war eine gut geübte Show. Gott sei Dank kaufte man ihr die auch ab. Hoffentlich waren in der neuen Klasse nicht so viele Zicken, wie in ihrer alten Klasse, dachte sie bei sich. Wenn sich ein paar von solchen Mädchen zusammen fanden, mobbten sie den Rest. Melli verfiel einem Strudel von allerschwärzesten Gedanken, die das schlechte Gefühl im Bauch noch mehr verstärkten.
»Na meine Große, wie fühlst du dich? Etwas aufgeregt?« Tolle Frage und was für ein gutes Timing!
»Ich fühle mich richtig bescheiden. Ich wollte, dieser Tag wäre schon gelaufen!«
»Du bekommst das hin, glaub mir, alles halb so wild.«
»Hmmm«, kam es sehr reduziert von Melli.
Ihre Mum hatte leicht reden. Die hatte wirklich keine Ahnung, was heute so in den Klassen abging. Wann immer Melli ihr erzählte, dass es wieder einmal voll assi zugegangen war, glaubte sie, dass Melli die Situationen dramatisieren wollte. Seit zwei Jahren hielt sich Melli bei Themen wie Schule und Mitschüler zurück, es machte einfach keinen Sinn. Ihre Mum war einfach nicht davon zu überzeugen, dass in Schulen mehr gemobbt wurde, als sonst irgendwo.
Sie standen mit dem Auto vor dem Schulgebäude.
»Soll ich mit hinein kommen?«, fragte Anita ihre Tochter.
»Mum, das ist jetzt echt extrem peinlich, ich bin doch kein Grundschüler mehr! Damit komme ich schon klar.«
»Na dann, viel Glück, mach’s gut und verpass’ den Schulbus nach Hause nicht!«
Melli war schon ausgestiegen.
»Ja klar, wir sehen uns, bye Mum.«
Anita schaute Melli hinterher. Ihre Tochter baute immer mehr englische Ausdrücke in ihre Sätze ein. War vermutlich ›cool‹, dachte sie sich beim Davonfahren.
Melli lief über den Platz zum Schulgebäude.
Massen von Schülern strömten auf das Mauseloch von Tür zu, durch die sie alle in die Schule hinein kamen. Vor dem schwarzen Brett in der Eingangshalle hing ein Plan, auf dem die Zuordnung der Klassen zu den jeweiligen Klassenzimmern stand.
»Wirklich clever gemacht!«, dachte Melli.
Ein paar hundert Schüler versuchten einen Blick auf das Schwarze Brett zu werfen.
»Bis ich da dran komme, ist die Schule vermutlich halb gelaufen!«, murmelte sie vor sich hin.
Ihre Laune sank noch tiefer, obwohl sie geglaubt hatte, dass das nicht mehr möglich war.
»Hey Melli«, eine bekannte Stimme, direkt hinter ihr.
»Hi Andi!«
Melli fühlte sich gleich ein bisschen besser. In dieser Menge von Schülern endlich ein vertrautes Gesicht. Andi war aus Melli’s alter Klasse. Ein Typ, den jeder auf Anhieb mochte. Super nett und meistens gut drauf. Optisch war Andi eher Durchschnitt: Blaue Augen, mittelblonde, glatte Haare, schlank, wenn auch nicht gerade dürr, aber eben nicht gerade das, wovon sich Mädchen in ihrer traumlosen Mittagszeit in einen gefühlstechnischen Aufruhr versetzen ließen. Er war mehr ›every girls best friend‹. Ein Kumpel, mit dem man um die Ecke ziehen konnte, aber eben kein Lover. In der Schule war er in den meisten Fächern gut, zwar kein Streber – Andi war eher ein Denker. Wie Melli war er für sein Alter sehr groß. Er überragte sie um einen Kopf, was Melli auch sympathisch war. Das kaschierte ihre eigene Länge etwas.
»Hast du eine Ahnung, wo wir hin müssen?«
Glücklicherweise waren sie beide in dieselbe Klasse gekommen, das hatten sie schon in den Ferien miteinander abgecheckt.
»Klaro, ich war schon vor einer halben Stunde da. Dachte mir, dass es hier so zugehen wird.«
Melli’s Laune hob sich wieder. So musste sie auch nicht alleine in die Klasse marschieren. Davor hatte sie den größten Horror gehabt. Dieses Abtaxieren, das Getuschel, das sie immer auf sich bezog, war für sie Spießrutenlauf pur.
»Unsere Klasse ist in Zimmer 301 untergebracht, die ›drei‹ steht für das dritte Obergeschoss und die ›eins‹ für das erste Zimmer auf dem Flur, ich war vorhin schon dort. Komm einfach mit.«
Melli lief hinter Andi her, der zielstrebig die Treppen hinauf lief, Die Tür des besagten ersten Zimmers auf diesem Flur stand weit auf. Andi marschierte hinein, »Morgen!«
Ein Raunen ging durch die Handvoll Schüler, die schon in der Klasse waren, was wohl als Erwiderung gedacht war. Melli setzte ihr Gesicht ›unbeteiligt – gelangweilt‹ auf. Das brachte die nötige Distanz, die sie für sich benötigte. Die hintersten Tische im Raum waren von einer Mädchengruppe beschlagnahmt worden. Als Melli einen Blick in die Richtung warf, sah sie, dass sie von denen ziemlich unfreundlich gescannt wurde. Wohl alle nur ein linkes Paar Füße zum Aufstehen gefunden, dachte Melli. Aber ihr ging es ja auch so. Trotzdem konnte Melli diese komplette Gruppe auf Anhieb nicht leiden. Und daran war nicht nur ihr unfreundliches Gehabe schuld. Die hatten tatsächlich allesamt einen Fastfood-Speckgürtel um die Hüften, bei gleichzeitigem Tragen von hautengen T-Shirts! Das konnte Melli gar nicht ab. Wie gefüllter Darm sah das aus, Igitt. Wie es kam, dass ausgerechnet die, die solche Klamotten nicht tragen sollten, geradezu versessen waren, ihren Speck so zur Schau zu stellen, ging über ihr Fassungsvermögen. Kopfschüttelnd wandte sie sich an Andi: »Die Michelin-Männchen-Fraktion ist auch schon da«, raunte sie ihm zu, worauf dieser lächelte und meinte, »Möchtest du dich gleich am ersten Tag von deiner allerliebsten Seite zeigen? Das kann ja mal heiter werden.«
Melli zuckte mit den Schultern und setzte sich auf einen Stuhl in der zweiten Reihe. Andi stellte seine Tasche auf den Stuhl daneben und ging auf eine Gruppe Jungs zu, die sich schon angeregt unterhielten.
»Hi Jonas, das ist ja super, dass du auch hier gelandet bist!« Andi freute sich sichtlich, ein weiteres bekanntes Gesicht zu sehen.
»Cool, ist ja echt krass, dass wir in die gleiche Klasse gekommen sind! Echt fett!«
Jonas war offensichtlich genauso begeistert. Melli wandte sich ab, um zwei Mädchen zu beobachten, die etwas schüchtern das Klassenzimmer betraten. In der Michelin-Männchen-Ecke ging gleich wieder unfreundliches Getuschel los. Blöde Zicken, dachte Melli und lies sich zu einem Lächeln Richtung der beiden Mädchen hinreißen. Diese lächelten sichtlich erleichtert zurück und setzen sich an einen Tisch in der Reihe vor ihnen. Wer setzt sich freiwillig in die erste Reihe? Melli brauchte etwas Distanz zu den Lehrern.
Andi kam zu ihr zurück geschlendert und setzte sich neben sie auf den Stuhl.
»Toll, dass Jonas auch hier ist, der ist echt o. k., ich kenne ihn vom Amphibien-Projekt.« Das war das Thema, das man mit Andi nie anschneiden durfte, weil er dann in seinem Element und kaum zu bremsen war. Melli mochte Frösche und Molche und was es sonst noch im Teich gab, ... aber nicht so! Andi beobachtete in seiner Freizeit diese kleinen Tierchen, war immer beim Froschzaun aufstellen dabei und sammelte die Kröten und Frösche in ihrer Huckepack-Umarmung zwei bis dreimal am Tag im Frosch-Zaun ein und trug sie dann über die Straße. Wenn’s Spaß und glücklich macht. Melli war einmal dabei gewesen, das reichte ihr für den Rest ihres Lebens. Wenn Andi ihr nicht jedes zusammengeklebte Pärchen, mitsamt seinen Lebensgewohnheiten erklärt hätte, so hätte das ganz lustig sein können. Aber so wurde es mehr eine unfreiwillige Bio-Stunde. Seitdem mied Melli dieses Thema ganz bewusst. Aber da jetzt sein Lurchi-Freund Jonas in dieser Klasse aufgetaucht war, bedeutete das auf jeden Fall, dass ihr jede Menge solcher Fachsimpeleien bevorstanden.
Im Klassenzimmer standen die Tische in vier Reihen, immer acht Schüler pro Reihe. Jonas setzte sich auf die andere Seite von Andi. Daneben ließen sich die drei Jungs nieder, die in der Gruppe mit Jonas und Andi gestanden hatten. Melli fühlte sich auf einen Schlag wie auf die Seite gestellt. Das wurde auch nicht besser, als die restlichen Schüler tröpfchenweise eintrudelten. Die Plätze waren schließlich alle belegt, bis auf die beiden neben ihr. Auch gut – so konnte sie sich etwas ausbreiten. Ein Gong verkündete, dass die Schulstunde begonnen hatte. Jetzt bin ich gespannt auf unseren Klassenlehrer, dachte Melli. In diesem Moment ging die Tür auf und eine Lehrerin kam herein.
»Guten Morgen, mein Name ist Schildknecht.«
Sie schrieb ihren Namen an die Tafel
»Sie befinden sich in der Klasse BF1BW.«
Auch diese seltsame Klassenbezeichnung wurde auf der Tafel verewigt. Dann folgte ein unglaublicher Monolog, von dem Melli fast nichts mitbekam. Sie betrachtete die Lehrerin und fand sie gar nicht so übel. Nicht älter als 30 Jahre und mit ihren rotgefärbten kurzen Locken, die von einem smaragdgrünen Tuch umschlungen waren, Jeans, T-Shirt und mindestens vier Ketten aus Holzperlen um den Hals, sah sie wie eine gut gestylte Ökotante aus. Auf jeden Fall sympathisch. Melli bemerkte, dass die anderen Schüler ihre Taschen nach Schreibmaterial durchsuchten. Das brachte sie aus ihren Überlegungen zurück. Melli hatte die Fähigkeit, sich aus jedem Gespräch oder Vortrag auszubeamen. Sie verfolgte solange ihre eigenen Gedankengänge, bis sie durch irgendetwas gestört wurde. Wie jetzt durch die Unruhe im Klassenzimmer. Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie ausschließlich damit, alles Organisatorische aufzuschreiben. Frau Schildknecht vertrat nämlich die Meinung, was man selbst aufschreibt, bleibt schon mal in irgendeiner Ecke des Gehirns haften und man kann sich das Ganze besser merken. Also nichts mit kopierten Texten, alles selber schreiben, stöhnte es in Melli.
Die Bücher wurden in den nächsten zwei Stunden ausgegeben und Melli war fassungslos, weil die Tasche, die sie sich mitgenommen hatte, für diese Mengen an Büchern viel zu klein war. Super! Wenn sie es objektiv betrachtete, war es auch völlig hirnrissig anzunehmen, dass in ihre Tasche alle Bücher für die vielen Fächer hineinpassen könnten. Wie sollte sie die jetzt mit dem Bus nach Hause bekommen? Heute hatten alle Schüler zur selben Zeit aus, sodass die Busse megavoll waren. In ihren Gedanken war sie nun schon das zweite Mal an diesem Morgen bei dunkelgrau angelangt. Die Stimme von Frau Schildknecht riss sie aus ihren Überlegungen.
»Es können Schließfächer für 50,– € im Schuljahr gemietet werden, es gibt auch Tagesschließfächer, die pro Tag zwei Euro Miete kosten. Wer ein Schließfach mieten will, muss sich an mich wenden. Wir werden dazu eine zeitliche Regelung besprechen, da ich nicht in jeder 5-Minuten Pause Fächer auf- und zuschließen mag.«
Das wäre vorerst eine Lösung für das Buchproblem, überlegte Melli. In diesem Moment klopfte es an der Tür und bevor Frau Schildknecht reagieren konnte, betrat ein Junge das Klassenzimmer. Etwa so groß wie Andi, aber sonst der krasse Gegensatz: Fast schwarze Haare, aber knallblaue Augen. Sein hautenges Shirt ließ die Muskeln darunter erahnen. Er war irgendwie sexy und trotzdem ganz lässig angezogen. Melli’s Herz machte unkontrollierte Hopser, sie konnte die Augen nicht abwenden, was war denn nun mit ihr los?
»Hi, ich bin etwas spät. Bin ich richtig, Klasse BF1BW?«
Der Junge hatte eine Stimme wie ein Kater: Dunkel, samtig, einfach wow. Melli’s Bauch begann sich aktiv ins Geschehen einzumischen. Sie hatte das Gefühl, ihr Magen fuhr Karussell. Frau Schildknecht zog eine Augenbraue hoch und musterte den jungen Mann kritisch, »Richtig, mit wem haben wir das Vergnügen?«
»Tassilo Brede«, lächelte dieser zurück.
»Ich hoffe, sie haben eine plausible Erklärung für ihr verspätetes Erscheinen!«
Frau Schildknecht ging auf sein Lächeln nicht ein.
Auweia, dachte Melli, die lässt sich aber so gar nicht um den Finger wickeln.
»Wir sind erst gestern mit dem Umzug hierher fertig geworden und da ich mich hier in Ossbach noch nicht auskenne, habe ich die Schule nicht gefunden. Aber am ersten Tag kann das ja passieren.«
Frau Schildknecht ließ sich nicht auf die Entschuldigung ein.
»Ich glaube nicht, dass es schwierig ist, sich im voraus zu informieren. Es ist eine Frage der Priorität. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie mit dieser Einstellung kaum bis zu den Weihnachtsferien hier durchhalten werden. In Ihrem Alter muss klar sein, dass das Klassenziel in dieser Schulstufe nur mit Disziplin, Fleiß und einer gewissen Intelligenz zu schaffen ist. Setzen Sie sich bitte, damit ich die restlichen Informationen zum Unterricht in diesem ersten Schulhalbjahr abgeben kann!« Sie wandte sich sofort wieder ihrem Thema zu.
Tassilo schaute in die Runde und steuerte dann auf die einzigen leeren Plätze zu, direkt neben Melli. Diese fühlte, wie sie rot anlief. Oh nein, bloß das nicht! Warum musste sie immer wie ein kleines Kind reagieren. Sie blickte auf ihre fast leeren Papierseiten vor sich und hoffte, dass ihr Vorhang aus Haaren nichts von ihrem Gesicht zeigte. Gott war das peinlich. Sie hatte ihre Tasche auf den leeren Stuhl neben sich gestellt, sodass sich dieser Tassilo auf den anderen Stuhl setzen musste. Melli war so damit beschäftigt, ihr rot angelaufenes Gesicht zu verstecken, dass sie überhaupt nicht reagierte. Irgendwie war die Stunde dann vorbei. Tassilo stand betont langsam auf und blickte nach den Michelin-Männchen. Melli beobachtete, wie er darauf wartete, dass die Mädchen nach vorne zur Tür kamen. Es war offensichtlich, dass dieser Tassilo wusste, wie umwerfend er aussah. Das war nicht zu übersehen. Die Michelin-Männchen-Fraktion war bei ihm angekommen, Melli bekam noch mit, wie er sie fragte, ob sie schon etwas vorhatten und ob sie Bock hätten, ihn ein bisschen über die Location aufzuklären. Ja logo, hatten sie und damit zogen sie ab. Melli stand noch immer da und schaute etwas paralysiert Richtung Tür. Irgendwie hörte sie am Rande, dass jemand versuchte, mit ihr zu reden. Sie drehte sich um. Andi fragte sie etwas und das ziemlich ungeduldig.
»Melli, was ist denn los, hast du deine Ohren ausgestellt? Erde an Melli, bitte melden!«
Melli fühlte sich ertappt, irgendwie war sie gerade weggebeamt gewesen.
»Ja, nein, was hast du gesagt?«
Andi schaute sie erstaunt an.
»Alles klar?«
Er klang etwas besorgt.
»Hast du noch etwas, um deine Bücher zu verstauen?«
Jetzt wachte Melli wirklich auf.
»Mist, Frau Schildknecht ist weg, das mit dem Fach kann ich mir in die Haare schmieren, Mist! Nein, ich habe nichts dabei.«
Phänomenal, wie die Laune tatsächlich noch ein drittes Mal an einem Tag bei dunkelgrau landen konnte!
»Warte, ich habe noch so eine Art Nottasche dabei, da müsste ein großer Teil der Bücher hineinpassen.«
Andi kramte einen Beutel aus Nylon aus seinem Rucksack und half ihr einen Teil der Bücher darin unterzubringen. Drei Bücher passten in Melli’s Tasche, blieben noch zwei übrig.
»Das geht so«, seufzte Melli, »danke.«
Sie hängte sich eine Tasche über jede Schulter und nahm die zwei Bücher in die Arme und presste sie an ihre Brust.
»In dem Fall, schätze ich, sollte ich mich beeilen, damit ich den Bus nicht verpasse.«
Andi schaute sie erstaunt an.
»Wir fahren mit demselben Bus, falls du dich erinnerst: Wir wohnen beide in Wethausen. Ist wirklich alles klar?«
»Sorry, bin durch den Wind, irgendwie habe ich die Schule nach den Sommerferien nicht mehr drauf.«
Sie konnte ihm ja schlecht sagen, dass ihr beim Anblick von Tassilo sämtliche Sicherungen durchgeknallt waren und sie gerade versuchte, wieder auf dem Boden der Wirklichkeit anzukommen. Sie trottete neben Andi her.
»Ich dachte wir müssen uns beeilen?«, fragte Andi »Wenn du so langsam unterwegs bist, verpassen wir den Bus tatsächlich!«
Melli legte einen Zahn zu. Als sie am Busbahnhof ankamen, taten ihr die Schultern vom Gewicht der Taschen weh. Andi wusste, an welchem Platz der Bus abfuhr. Gott sei Dank war er so gut organisiert. Melli hatte sich über diese Dinge gar keine Gedanken gemacht. Der Bus war schon recht voll, es gab nur einen Sitzplatz, den ihr Andi gentlemenlike überließ. Er stellte sich neben sie und hielt sich am Sitzgriff fest. Melli war wirklich völlig daneben, stellte Andi in Gedanken fest. So kannte er sie gar nicht. Vielleicht wurde sie krank, oder hatte ihre Tage. Bestimmt! Da waren Mädchen ja plötzlich sehr seltsam, so von einer Minute zur anderen. Er kannte das von seinen drei älteren Schwestern. Also ließ er Melli in Ruhe, sodass sie ihren tristen Gedanken nachhängen konnte. Diese drehten sich – natürlich – um Tassilo. Wieso steht so ein Typ auf fette, schlecht angezogene Zicken, die ihr Gesicht mit Make-up zugeklatscht hatten und mit einer Kriegsbemalung auf die Straße gingen, die jedem Indianer Angst gemacht hätte? War das so ein Typ Marke: Ich sehe gut aus, habe eine hübsche Fassade, im Hirn aber hohlraumversiegelt? Auf der anderen Seite: Hinter ihrem Vorhang von Haaren hatte Tassilo sie auch gar nicht ansehen können! Selbst wenn er gewollt hätte, er hatte keine Chance gehabt, in irgendeiner Form an sie heranzukommen. Das hatte sie von ihrem mauern. Warum musste sie nur immer so blöd reagieren. Rot werden! Wegen einem Typ! Auch wenn er so aussah wie Tassilo Brede, konnte man doch einfach cool bleiben! Andere konnten das doch auch! So langsam war sie sauer auf sich, auf Tassilo und eigentlich auf die ganze scheiß Welt. In dieser Stimmung stieg sie aus dem Bus. Andi verabschiedete sich von ihr, Melli schaffte es noch, danke und tschüss zu sagen, um sich dann gleich wieder in ihrer kleinen rabenschwarzen Gedankenwelt zu verschließen.
Andi ging zielstrebig nach Hause. Er war gerne zuhause, auch wenn seine Schwestern manchmal echt nervten. Seine Mutter war der Optimist in Person. Es gab nichts, woran sie nicht ein Körnchen Gutes entdecken konnte, egal was passierte. Und dieser Hang zum positiven Denken spiegelte sich in der ganzen Familie.
Andi war nach dem komischen Getue von Melli nicht schlecht gelaunt, aber er machte sich Sorgen um sie. Er hatte Melli nie verraten, dass er gern etwas mehr wäre, als ihr bester Kumpel. Aber er dachte, die Zeit wird es schon bringen. Es genügte ihm, dass Melli seine Gesellschaft allen anderen vorzog. Sie war eher introvertiert, in ihren Gedanken unterwegs, bekam manchmal gar nicht mit, was um sie gerade passierte. Und wenn sie sich auf ihre Umgebung einließ, weil sie in ihren Grübeleien gestört wurde, überraschte sie mit zynischen, oft verletzenden Bemerkungen, wenn sie etwas nervte. Dass das ein Schutzverhalten war, checkten die anderen meist nicht. Andi wiederum kannte Melli als sehr feinfühligen Menschen, der sich um andere kümmerte und auf den man sich verlassen konnte. Das war ihre andere Seite. Sie setzte sich dann mit ihrer spitzen Zunge für andere rückhaltlos ein. Wenn man zu ihr nett war, konnte man keine bessere Freundin finden, das war Andi schnell klar gewesen. Nur manchmal war sie eben ein bisschen in sich gekehrt. Aber so seltsam wie heute, so weggebeamt, und dann auch so grundlos aggressiv, das kannte er an ihr nicht. Dazu kam, dass Melli ihm immer erzählte, an welchem Problem sie gerade kaute. Dass sie ihn so auflaufen ließ und nicht mit ihm über ihr Problem sprach, wurmte ihn schon. Hoffentlich war dieses Stimmungstief nur von kurzer Dauer. Vielleicht hatte sie ja wirklich ihre Tage. Darüber würde sie mit ihm vermutlich auch nicht reden.
Im großen Ganzen war er ja zufrieden mit dem ersten Tag in der neuen Schule: Melli und Jonas zusammen in einer Klasse mit ihm, war in seinen Augen ein Glücksfall. Die Klassenlehrerin war o. k, er mochte eine klare Ansage lieber, als Gummiparagraphen, die nach Sympathie ausgelegt waren. Es gab genug Lehrer, die nach diesem Konzept vorgingen. Andi fand es auch korrekt, dass Frau Schildknecht diesen Tassilo abgekanzelt hatte. Dem sah man doch auf den ersten Blick an, dass er ein arroganter Blödmann war. Schon wie der angezogen war! Dafür aber nichts in der Birne, dachte er für sich.
So in Gedanken kam er zuhause an. Seine Mutter registrierte den Gesichtsausdruck ihres Jüngsten und fragte ihn, »Na, erster Tag nicht so gut gelaufen?«
»Doch Mama, alles paletti. Stell dir vor, Jonas ist jetzt in meiner Klasse, das ist echt super!«
»Das freut mich aber für dich, warum dann die Sorgenfalten?«
Andi ging zur Küche, aus der es sehr gut nach Pasta Bolognese roch.
»Melli war heute extrem komisch. Aber das wird bestimmt wieder. Und, na ja, wir haben so einen Gucci-Affen in unserer Klasse, die fett teuren Klamotten, kein Hirn, aber voll abgehoben. Die Sorte, ohne die ich gut leben kann.« Andi’s Mutter lächelte und meinte, »Du musst nicht jeden mögen und auch nicht mit jedem zusammen sein, du hast ja deine zwei Freunde, das ist doch ein guter Start in der neuen Schule, nicht?«
»Ja klar Mama, ich wollte mich ja auch nicht beklagen, du wolltest wissen, über was ich nachdenke, jetzt weißt du es. Außerdem interessiert mich der Inhalt dieser Töpfe brennend«, er wies auf den Herd, »mein Magen hängt bös in der Kurve!«
»Ja dann mal los, dann essen wir beide am besten gleich.«
Der Rest der Familie kam erst Abends nach Hause. Xenia, die Älteste war schon verheiratet und lebte mit ihrem Mann in einem Nachbarort. Xanthia und Xira waren noch in der Ausbildung und kamen erst abends nach Hause so wie Andi’s Vater. Die etwas exotischen Namen seiner Schwestern waren Mutter’s Schuld. Sie war von den X-Namen regelrecht besessen. Bei Andi hatte sein Vater aber nicht mitgespielt. Der war ihm dafür sehr dankbar, auch wenn er die Namen seiner Schwestern schon irgendwie cool fand, ein bisschen schräg vielleicht, aber trotzdem cool. Doch seine Begeisterung nahm rapide ab, wenn er daran dachte, er müsste sich als Xenophon, Xaver oder Xerxes irgendwo vorstellen. Das wäre dann schon zu viel. Aber wie gesagt, seine Mutter war in diesem Fall nicht an ihrem Herzallerliebsten vorbeigekommen.
Während Andi und seine Mutter ein gemütliches Mittagessen abhielten, war Melli den Tränen nahe. Ihre Mutter war noch nicht zuhause. Das war o. k. Das Problem war, Melli hatte ihren Hausschlüssel vergessen. Nachdem sie um das ganze Haus gelaufen war, in der Hoffnung, dass Mum ein Fenster offen stehen lassen hatte, saß sie jetzt frustriert auf der Treppe vor dem Haus. Ihre Taschen hatte sie achtlos fallen gelassen, die übrigen Bücher oben drauf gelegt. Sie musste dringendst auf die Toilette. Hoffentlich kommt Mum gleich nach Hause, dachte sie verzweifelt, sie hatte schon richtige Schmerzen. Nach weiteren qualvollen 15 Minuten überlegte sie, in welcher Ecke des Gartens sie sich erleichtern könnte, sie konnte es nicht mehr aushalten. Leider war der Garten von sämtlichen Nachbarn rundherum einzusehen. Eigentlich kam nur die große Tanne in Frage. Die müsste genügend Schutz vor neugierigen Blicken bieten. Melli schlich zur Tanne, die neben dem Haus stand und vergrub sich in den Ästen. Der Baum war sehr groß, die Äste mit den Nadeln sehr dicht, sodass Melli schon völlig zerkratzt war, bis sie sich zum Stamm des Baumes durchgekämpft hatte. Wenigstens blickdicht, dachte sie. Sie kauerte sich unter den Baum, nicht ohne vorher im Kreis zu spähen, ob nicht doch ein Nachbar einen Blick auf ihr Hinterteil werfen konnte. Kaum, dass sie von ihren Qualen erlöst war, hörte sie ihre Mutter an das Haus fahren. Super. Die Frau hatte wirklich ein irres Timing, dachte Melli das zweite Mal an diesem Tag. Sie plagte sich aus der Tanne. Verflucht, warum musste man Blautannen pflanzen! Ihre Arme waren völlig zerkratzt. Teilweise blutete es richtig.
»Melli, wo bist du?«
Melli’s Mutter kam um die Hausecke.
»Mein Gott, wie siehst du denn aus? Was hast du denn gemacht?«
Ihre Mutter schaute sie entsetzt an.
»Ich habe den Hausschlüssel vergessen!«, versuchte Melli von ihrem ramponierten Aussehen abzulenken. Das klappte natürlich nicht. Ihre Mum hakte gleich nach.
»Und wo hast du dich so zugerichtet?«
Ihr Ton war schon etwas schrill, scheinbar regte sie sich wirklich auf.
»Ach das sind nur ein paar Kratzer«, meinte Melli. »Mir war langweilig, da habe ich versucht, auf die Tanne zu klettern.«
Melli hätte niemals zugegeben, was sie wirklich in der Tanne gemacht hatte.
»Sag mal bist du ganz durchgeknallt? Fällt dir da nichts besseres ein? Das ist doch unglaublich! Und wann benutzt du dein Hirn einmal, um im Alltag klarzukommen. Deine Träumereien in allen Ehren, aber in deinem Alter den Schlüssel zu vergessen, ist doch ein bisschen zu viel. Das kann man doch verlangen ...«. Melli hörte schon nicht mehr zu. Wenn Mum einmal warmgelaufen war, schaute Melli prinzipiell, dass sie das Weite suchen konnte.
»Melissa! Komm sofort zurück! Zuerst werden die Arme und dein Gesicht gewaschen und desinfiziert, sonst entzündet sich das alles noch! Dann kommt noch eine Salbe darauf! Und keine Diskussionen, dazu bin ich wirklich nicht aufgelegt!«
Auch das noch! Es gibt Tage, an denen man gar nicht aufstehen sollte und dieser war ganz sicher einer davon! Melli ließ die Taschen mit den Büchern, samt denen, die sie in den Händen trug, einfach auf das Bett fallen. Mein Gott, war das ein bescheidener Tag! Sie legte sich auf ihr Bett.
Ihr Zimmer war praktisch und doch auch etwas flippig eingerichtet. Auf ihrem Bett lag eine rot-orange Tagesdecke, die zu den gleichfarbenen Vorhängen passten, die an ihrem dreieckigen Fenster hingen. Sie hatte sich dieses Zimmer wegen des Fensters ausgesucht. Ihren Kleiderschrank hatte sie mit Phantasieblumen bemalt, die sich ebenfalls in rot-orange-Tönen kreuz und quer über den Schrank rankten. Ihr Schreibtisch stammte von ihren Großeltern. Groß und massiv, mit einer Menge Platz sowohl in als auch auf ihm. Melli liebte dieses Möbel heiß und innig. Davor stand ein bequemer Drehstuhl. Zwischen Schreibtisch und Wand befand sich ihr wichtigstes Stück. Ein Ohrensessel, ebenfalls aus dem Fundus der Großeltern. In diesem Sessel dachte Melli nach, schmökerte in ihren Büchern oder träumte vor sich hin. Dazu setzte sie sich nicht hinein, sondern legte ihren Kopf auf die eine Lehne und ließ die Beine über die andere Lehne hinab baumeln. Das war exzessives Entspannen! Im Moment war sie aber alles andere als entspannt. Sie ärgerte sich immer noch über ihr kindisches Verhalten in der Schule, darüber, dass sie sich so sehr von diesem Tassilo aus der Fassung bringen ließ und nun musste sie auch noch diese Prozedur mit ihrer Mum hinter sich bringen.
»Melli?«
Mist, das hatte sie schon wieder vergessen! Ihre Mum hatte bestimmt schon den halben Apothekerschrank ausgeräumt. Am besten bringe ich es gleich hinter mich, dachte Melli. Sie trottete die Treppe hinunter Richtung Bad. Solche Verarztungen fanden normalerweise dort statt. Mutter hatte den Desinfektionsspray in der Hand.
»Komm, das muss gleich gemacht werden. Möchtest du selbst sprühen oder soll ich das tun?«
»Gib her, ich mach das lieber selbst!«
Melli war nicht mehr in der Lage, einen freundlichen Ton aufzulegen, was natürlich gleich quittiert wurde. »Sag mal, was ist denn mit dir los? Wie redest du denn mit mir? Sprüh dich ein und erzähle mir dann, warum du so eine furchtbare Laune hast!«
Melli sprühte sich auf den linken Arm
»Scheiße, das brennt wie verrückt!!«
»Das geht gleich vorbei. Einmal die Zähne zusammenbeißen, dann hast du das Schlimmste hinter dir.«
Melli sprühte weiter.
»Da kommt jetzt aber keine Creme mehr darauf, das kann ich dir sagen! Das muss reichen!«
Ihre Mum gab auf und stellte die vorbereiteten Dosen wieder in den Schrank.
»Ich habe uns Pizza mitgebracht, und während sie im Ofen warm wird, erzählst du mir, was heute so schlimm war.«
Melli erzählte ihrer Mutter alles, bis auf ihre Reaktion auf Tassilo. Tatsächlich gab sich ihre Mum zufrieden.
»Ich gehe heute Mittag bei Frau Stump vorbei und laufe eine Runde mit Goliat«, informierte Melli ihre Mutter. »Ich habe dreimal in der Woche Mittagsschule, da wird das mit Goliat ziemlich eng!«
»Schule geht vor, das ist klar«, meinte ihre Mum, »aber zwischendurch, um den Kopf zum Lernen wieder frei zu bekommen, ist es sicher nicht dumm, etwas an die frische Luft zu gehen und Frau Stump mit dem Untier zu helfen.«
»Goliat« ist kein Untier, er ist nur etwas groß geraten!«, verteidigte Melli ihren vierbeinigen Freund. »Er hat noch nie irgendjemandem etwas getan.«
Vor einem Jahr, war Melli zufällig Frau Stump und ihrem riesigen Hund begegnet, der treffenderweise auf den Namen Goliat hörte, oder eben nicht, wie an diesem Tag. Goliat hatte die ältere Frau quer über die Straße gezogen, weil auf der anderen Seite eine Katze lief. Melli hatte sofort beherzt in die Hundeleine gegriffen und zusammen hatten sie den Hund festhalten können. Seitdem lief Melli ein paarmal in der Woche mit Goliat spazieren. Eine weitere prima Gelegenheit ihren Gedanken in Ruhe nachzuhängen und sich ein paarmal in der Woche komplett auszuklinken. Goliat trug sein Name nicht zu Unrecht: Er war ein Kind der Liebe zwischen zwei ziemlich großen Hunden. Seine Mama, eine Berner Sennenhündin hatte sich einen Irischen Wolfshund als Lover auserkoren. Das Ergebnis dieser Romanze war ein ziemlich wild aussehender großer Vierbeiner. Melli fand ihn cool. Wenn sie mit ihm unterwegs war, wechselten die Menschen die Straßenseite, weil sie ihm nicht entgegen gehen wollten. Das gab ein Gefühl von Stärke, wenn so ein Riesentier neben einem herlief. Alleine wäre sie sicher nicht so oft im Wald unterwegs gewesen, aber mit Goliat als Begleiter war das perfekt.
Nachdem sie ihrer Mutter schnell in der Küche beim Aufräumen geholfen hatte, holte Melli Goliat ab und lief über Wiesenwege zum nahen Wald. Sie genoss den kühleren Wald und den Schatten der Bäume. Ihr Ziel war ein Bach, der am Waldrand entlang lief, in dessen Sandbett Goliat wunderbar nach Herzenslust planschen konnte. Melli zog ihre Sneakers aus und lief auch etwas im seichten Wasser herum. Diese Abkühlung tat wirklich gut. Doch dann kam Goliat angesprungen und schüttelte sich genau vor ihr das Wasser aus dem Fell. Das war dann doch zu viel Abkühlung auf einmal!
»Prima, Goliat, jetzt sehe ich aus wie durch den Bach gezogen! Du Affe!«
Goliat ließ sich von dieser Ansage nicht beeindrucken, ganz im Gegenteil: Er sprang ausgelassen um Melli herum, sodass diese komplett nass war. Melli musste wider Willen lachen.
»Komm du Grobmotoriker, gehen wir heim! Ich habe ja Glück, dass es so heiß ist, vielleicht bin ich wieder trocken, bis wir zuhause sind.«
Wenigstens hatte ihr der Spaziergang aus den trüben Gedanken geholfen. Doch das wiedergewonnene Gefühl von innerer Harmonie war ganz schnell vorbei, als sie auf dem Rückweg zwei Mädchen begegnete, die sie auch auf der neuen Schule gesehen hatte. Sie sahen älter aus als Melli und gehörten ganz klar zur Styling-Fraktion. Geglättete Haare in zwei bis drei Farben, Make-up-Vollverschalung mit üblicher Kriegsbemalung. Push-ups und 10 cm Absätze unter die Füße genagelt, vervollständigten das Bild. Melli fragte sich, ob die beiden wussten, dass sie mit ihren künstlichen Gesichtern wie Puppen aussahen. Ob die sich auch zum Schlafen so zurecht machten? Und wenn eine von denen einen Freund hatten, wann kam da der Augenblick der Wahrheit? Ungeschminkt, mindestens fünf Zentimeter kürzer und vor allem nur noch mit der halben Oberweite gestehen zu müssen, dass alles nur toll aussah, weil sie ein volles Body-Tuning dran gebaut hatten? Wie peinlich! Da erkannte bestimmt mancher Kerl beim Aufwachen das Mädchen vom Abend vorher nicht mehr!
Die aufgedonnerten Mädchen schauten mit einem Blick, der wohl Verachtung bedeuten sollte, zu Melli hinüber. Klar, Melli sah immer noch aus, wie eine gewaschene Katze! Und Goliat sah nicht viel besser aus. Aber Melli fühlte sich wunderbar.
Nach diesem kurzen Blickwechsel, wandten sich die zwei aus der Styling-Fraktion ab und stelzten auf ihren High Heels davon. Wenn doch nur mal eine dieser Stelzen abkrachen würde, dachte Melli. Das wäre ein Fest. Melli war zu groß, als dass sie Schuhe mit Absätzen anzog. Es soll ja auch ganz schön ungesund sein. Andererseits spürte sie auch etwas Traurigkeit. Kaum ein Junge schaute sie zweimal an, obwohl sie nicht schlecht aussah. Musste man sich wirklich so aufpushen, um an einen Freund zu kommen? Das konnte doch nicht sein, oder? Wer sie nur mit aufgetakeltem Äußeren wollte, war doch so hormongesteuert, dass das Hirn gar nicht benutzt wurde! Und was sollte sie mit so einem Kerl? Sie hatte sich noch nicht wirklich damit befasst, wie einer sein musste, damit sie sich in ihn verlieben konnte. Auf jeden Fall musste er normal sein. Klar, er sollte jetzt nicht gerade hässlich sein. Bei diesem Gedanken hatte sie ein schlechtes Gewissen. War das nicht auch sehr oberflächlich? Verliebte man sich nicht einfach so? Egal wie der andere aussah? Es gab Menschen, die sich sehr lieb hatten, mit denen es Mutter Natur nicht so gut gemeint hatte. Schönheit war definitiv kein Garant für Glück. Vielleicht sogar eher für das Gegenteil. Und wenn man alt wurde, kam das mit dem hässlich werden ganz von alleine, dachte sie. Und dann schienen sich die Menschen wegen ganz anderer Dinge lieb zu haben. Irgendwann war Melli aufgefallen, dass es Menschen gab, die zwar nicht gerade hübsch, aber durch ihre Art einfach toll waren, sodass man sie einfach gern haben musste. Und Melli wollte dies in ihrer Beziehung von Anfang an so. Ihr Großvater hatte einmal gesagt, ›Schönheit vergeht, aber dumm bleibt dumm‹. Dieser Satz zauberte wieder ein Lachen in ihr Gesicht. Genau, wenn alle um sie herum so doof waren und nicht sahen, dass diese Äußerlichkeiten keinen wirklichen Wert und damit auch keine Basis für eine Freundschaft sein konnten, dann war das eben so. Sie würde sich in diesem Punkt nie ändern. Dass Jungs in ihrem Alter wohl nur auf overstylte Tussies standen, mit denen sie in die Kiste gehen wollten, war nicht ihr Problem. Sie wollte mit keinem von diesen Hirnis etwas anfangen, und das Beste war, beschloss sie im Geiste, sich mit keinem von denen einzulassen!
Dieser Tag war wirklich ein Grübeltag! Melli kam dabei aber zu dem Schluss, dass sie lieber mit dem nicht mehr salonfähigen Goliat durch den Wald streifte, als sich für andere querzulegen, damit diese sie akzeptierten. Denn dann wäre sie nicht mehr sich selbst, sondern würde eine Rolle spielen. Und diese Rolle, die gespielte Melli, die würde dann vermutlich akzeptiert werden. Nein danke, das musste sie sich nicht geben!