Читать книгу Achterbahn der Hormone - Gabriele Berchter-Bohl - Страница 7
III.
ОглавлениеNach zwei Stunden packte sie ihren Hausschlüssel, zog ihre Turnschuhe an und ging zu Frau Stump, um mit Goliat in den Wald zu gehen. Diese war sehr dankbar, da sie bei diesen sommerlichen Temperaturen nicht mehr gut auf den Beinen und das Laufen mit dem Hund für sie zu anstrengend war. Goliat freute sich so sehr, dass er an Melli hoch sprang. Sie wurde von ihm glatt an die Wand gedrückt. Hätte sie diese nicht im Rücken gehabt, wäre sie vermutlich zu Boden gegangen.
»Goliat, lass das, runter mit dir, aber schnell!« Melli schimpfte ihn aus. Goliat hatte ca. 80 kg Lebendgewicht, da war ein Hochspringen, auch wenn es aus purer Freude geschah, einfach indiskutabel. Sie packte ihn, als er wieder auf dem Boden angekommen war, am Halsband und legte ihm seine Leine an.
»Tschüss Frau Stump, wir sind dann mal unterwegs«, rief sie der alten Frau zu.
»Danke Melissa, ich bin so froh, dass du immer kommst und dich um Goliat kümmerst! Viel Spaß ihr zwei.«
Als sie mit Goliat die ersten Feldwege erreichte, ließ sie ihn von der Leine, damit er in Ruhe ›Zeitung lesen‹ konnte. So nannte sie es, wenn Goliat alles anschnüffelte und vermutlich wusste, wer wann schon vor ihm da gewesen war. Melli genoss es sehr, mit diesem großen Hund durch die Felder zu streifen. Sie fühlte sich beschützt und trotzdem frei und ungebunden. Sie hing wieder ihren Gedanken nach und landete zielsicher bei Tassilo. Sie schaffte es nur wenn sie genügend Beschäftigung hatte, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen, aber sobald sie alleine war und grübeln konnte, drehten sich ihre Gedanken hauptsächlich um ihn. Das alleine fand Melli schon beunruhigend. Heute war Tassilo irgendwie ganz nett gewesen. Dass es dann doch wieder gekracht hatte, lag dieses Mal alleine an ihr. Dies zuzugeben fiel ihr gar nicht so leicht. Irgendwie machte sie das sogar sauer. Warum regte sie sich nur so auf, wenn er etwas sagte. Tassilo hatte heute nichts getan, was so eine heftige Reaktion von ihr gerechtfertigt hätte. Aber vielleicht versuchte er auch nur, sich bei ihr einzuschleimen. Ein Typ, der so aussah, konnte einfach nur oberflächlich sein. Solche Kerle hatten doch keinen Tiefgang. Wahrscheinlich war er jeden Tag in der Mucki-Bude und produzierte sich vor den Frauen mit seinen tollen Muskeln. Denn die hatte er wirklich! Tassilo hatte heute wieder ein Shirt angehabt, unter dem man jeden Muskel deutlich sehen konnte! Seine Schicki-Micki-Designer-Klamotten waren auch genauso gewählt, dass seine Muskeln sofort auffielen! Die Mädchen an der Schule waren nur am glotzen! Wenn der das so nötig hatte, legte er auch nur auf das Äußerliche Wert, legte Melli in Gedanken fest, das konnte gar nicht anders sein! Und damit musste sie ihn sich auch vom Leib halten, denn so ein Typ war nicht ihr Fall! Wahrscheinlich reagierte sie deswegen instinktiv auf Tassilo so aggressiv. In ihrem Innern fühlte sie wohl schon, dass er ein Blender war. Zufrieden, eine Rechtfertigung für ihr Verhalten gefunden zu haben, trat sie den Heimweg an. Den Gedanken, dass sie mit ihrer Einschätzung völlig falsch liegen konnte, wollte sie gar nicht aufkommen lassen.
Als Melli und Goliat wieder durch das Dorf nach Hause liefen, kam ihnen Andi auf dem Gehweg entgegen. Früher war er ab und zu mit ihr und Goliat laufen gewesen, aber das hatte sich reduziert. Goliat freute sich aber ganz offensichtlich, Andi wiederzusehen und sprang ohne Vorwarnung an ihm hoch, legte ihm die Pfoten auf die Schultern und riss ihn zu Boden. Wie dieser dann so schön auf dem Gehweg lag, nutze der riesige Hund die Gelegenheit aus, seine Freundschaftsbezeugungen noch etwas zu vertiefen. Er schleckte ihm mit seiner Zunge quer über das Gesicht.
»Goliat, nein! Igitt! Du hast Mundgeruch! Das ist so eklig! Melli zieh ihn weg!«
Andi versuchte sein Gesicht zu schützen, indem er sich auf den Bauch drehte. Goliat bearbeitete daraufhin Andi’s Nacken weiter.
»Melli!!!«
Aber Melli war außer Stande ihm zu helfen. Sie hatte einen Lachflash allererster Güte. Sie bekam fast keine Luft mehr, vor lauter Lachen. Tränen rannten ihr über das Gesicht.
»Goliat«, japste sie. »Oh, Gott ich lach mich kaputt! Goliat hör auf!«
Langsam beruhigte sie sich und konnte Goliat davon überzeugen, dass Andi jetzt ganz sicher wusste, dass er ihn mochte.
»Mann, Melli wieso holst du den Spinner nicht von mir runter? Das ist so eklig! Jetzt kann ich erst mal nach Hause und diesen ekelhaften Gestank von meinem Gesicht waschen. Kann man denn nichts gegen Mundgeruch in dieser Größenordnung machen? Da legst du dich hin, wenn der einen anhaucht.«
»Korrigiere mich, wenn ich falsch liege, aber ich dachte, du wärst umgefallen, bevor er dich angehaucht hat.«
»Ich kann daran überhaupt nichts komisch finden!«
Andi war wirklich angewidert und ärgerte sich über ihren Heiterkeitsausbruch. Aber dann begleitete er sie ein noch Stück und fragte sie, was denn los gewesen war. Er hatte sie im Bus vermisst. Melli erzählte ihm, was im Sportunterricht passiert war. Andi pfiff leise durch die Zähne.
»Dass die sich das vor den Augen eines Lehrers trauen, die sind ja wirklich sackdoof! Aber ich habe dich gewarnt. Auch wenn die nerven: Wenn du dich mit ihnen offen anlegst, kannst du nichts anderes erwarten.« Er schaute sie erwartungsvoll an, »Und was machst du jetzt?«
»Was soll ich tun? Ich mache so weiter wie immer: Ich lass mir von denen doch keine Angst machen. Wenn die meinen, sie müssen alle schikanieren, sage ich, was ich denke.«
Andi schaute sie nachdenklich an.
»Ich hoffe nur, dass du sie nicht zu sehr provozierst. Das sind immerhin sechs recht fiese Hühner, wie du jetzt weißt. Was immer die sich ausdenken, es wird auf jeden Fall eine linke Sache sein, also pass auf dich auf!« Melli schaute Andi erstaunt an.
»Machst du dir etwa Sorgen? Ich glaube, du dramatisierst die ganze Sache.« Sie zog die Stirn kraus. »Die Zukunft wird es zeigen!«
»Wie weise, nutzt nur nichts, wenn die dich bei jeder Gelegenheit fertig machen.«
Sie waren bei Frau Stump’s kleinem Haus angekommen.
»Wir seh’n uns, ich gehe mich erst einmal gründlich waschen und desinfizieren!« meinte Andi zum Abschied. Melli lachte.
»So schlimm wird es nicht sein, du Armer! Tschüss, bis morgen.«
Irgendwie war es schon toll, einen Freund zu haben, der sich um einen sorgte, dachte sie bei sich.
Zuhause erzählte Melli ihrer Mutter von der unfreiwilligen Gesichtswäsche. Frau Großmann schüttelte sich.
»Das ist ja wirklich widerlich, nein, der Arme! Konntest du dieses Vieh nicht davon abhalten?«
»Mum, Goliat ist kein Vieh und es wäre schön, wenn du ihn nicht so betiteln würdest. Dass du Angst vor großen Hunden hast, ist eine Sache, aber dafür kann Goliat nichts. Ich ziehe seine Gesellschaft den meisten Menschen vor! Und: Nein, Ich konnte ihn nicht davon abhalten. Wenn Goliat jemanden mag, zeigt er es ihm auch und davon kann ihn niemand abhalten!«
Melli war schon wieder genervt.
»Und wenn der Hund irgendwann jemanden nicht mag, was machst du dann?« fragte ihre Mutter weiter. »Das ist etwas anderes, es gibt Hunde, die er nicht mag. Er knurrt dann zwar, geht aber Fuß, wenn ich ihm das sage. Er zieht dann kein bisschen mehr an der Leine. Und wenn er frei läuft, kommt er sofort zurück, wenn ich ihn rufe und lässt sich anleinen.« Melli musste gut durchatmen, so angekratzt war sie. Warum konnte ihre Mum das nicht einfach auch witzig finden und sie mit so blöden Fragen in Ruhe lassen?
»Dann hoffe ich, dass das immer gut geht.«
Schweigend aßen Mutter und Tochter ihr Abendessen. Melli wurmte es, dass ihre Mum beim Thema Goliat so oft blöd reagierte. Am besten erzählte sie in Zukunft nichts mehr von ihren Erlebnissen mit dem Hund. Auch über das, was gerade so in der Schule ablief, war es wohl besser, den Mund zu halten. Sie hatte die immer belehrenden und vorwurfsvollen Sätze ihrer Mutter satt. Soll sie doch mal in die Schule gehen und sich mit diesen Ziegen auseinandersetzen. Dazu kamen noch mehr oder weniger schräge Lehrer und der Lernstoff, den man in dieser Umgebung bitteschön aufzunehmen hatte! Melli war mit ihrer Stimmung wieder auf einem Tiefpunkt angelangt.
Anita Großmann betrachtete ihre Tochter nachdenklich. Seit wann war Melli denn derart empfindlich? Wieso war sie nicht mehr in der Lage, tolerant mit anderen umzugehen? Die Pupertät war kein einfaches Alter, weder für das Kind noch für die Eltern. Irgendwie kannte man da sein eigenes Kind nicht mehr. Mit Geduld und Spucke bekommen wir das hin, dachte sie, aber hoffentlich geht das schnell vorüber!
In den nächsten Tagen lernte Melli, den Lehrer kennen, den sie schon nach 10 Minuten nicht leiden konnte. Herr Niewöhner war ihr IT-Lehrer und ein Mensch besonderer Gattung. Er sah auf den ersten Blick hässlich aus und der zweite und dritte Blick machte ihn auch nicht schöner: Sein Gesicht glich einer dicken Birne mit doppelt verglasten Brillenfenstern und der restliche Körper sah auch so aus, nur eben ohne Fenster. Also kleine fette Birne auf großer fetter Birne. Der Bauch war schwabbelig, obwohl ihre Mutter immer sagte, Männer hätten ihre Muskeln über dem Bauchfett und deswegen eher feste dicke Bäuche im Gegensatz zu den Frauen. Wahrscheinlich hatte Herr Niewöhner keine Muskeln, die den Schwabbelbauch festhalten konnten. Er trug Jeans und Hemd und damit die Jeans nicht an ihm hinunter rutschten, ein absolutes Nogo: Hosenträger! Das ließ den eingeklemmten Schwabbelbauch noch unappetitlicher aussehen. Melli versuchte, in den ersten Minuten ihre Gedanken freundlicher zu stimmen. Es gab viele Menschen, die einfach hormonelle Probleme hatten und deswegen so aussahen. Aber, dachte sie weiter, dann muss man sich doch nicht so unmöglich anziehen. Man könnte diese schwabbelige Masse ja auch kaschieren. Andererseits gab es unglücklicherweise die Kombination: Mensch sieht bescheiden aus und verfügt gleichzeitig über null Geschmack. Das schien hier der Fall zu sein. Das Schlimmste an Herr Niewöhner aber war seine hinterhältige und zynische Art. Das stellte Melli in den nächsten 10 Minuten des Unterrichts fest. Da sie wieder einmal ihren Gedanken nach gehangen hatte, bekam sie nicht mit, dass sich alle an ihren PC’s zu schaffen gemacht hatten. Herr Niewöhner sah sie an, »Hätten wir die Güte, am Unterricht teil zu nehmen oder fühlen sich Fräulein in meinem Unterricht nicht angesprochen?« Zynisch und böse kam die Ansprache. Doch dann schwenkte er um und fauchte Melli richtig an, »Wer hier nicht mitmacht, kann seine Sachen packen und zu den Tests wieder erscheinen! Es gibt immer Schüler, die der irrigen Meinung sind, sich in diesem Fach schon so gut aus zu kennen, dass sie dem Unterricht nicht folgen müssen. Für solche habe ich hier keine Verwendung! Und wie entscheiden sie sich?«
»Entschuldigung, ich habe das nicht vorher nicht mitbekommen«, murmelte sie und schaltete ihren PC an. »Dann möchte ich wissen, was sie am Morgen schon einwerfen, dass sie mich überhören können!«
Der Lehrer war tatsächlich nicht zu überhören. Er war mindestens einsneunzig groß und hatte ein lautes Organ. Nur, wenn Melli ihren Gedanken nachhing, schaltete sie ihre Umwelt komplett ab. Sie bekam dann gar nichts mehr mit, daran konnte auch das Organ von Herrn Niewöhner nichts ändern.
Der Unterricht ging weiter und Herr Niewöhner setzte jedem Schüler, der nicht gleich die richtige Lösung parat hatte, mit seinen bissigen Kommentaren zu. Ein richtiges Ekel! Melli, die am PC fit war, wusste, dass sie, solange sie diesen Lehrer in diesem Fach hatte, keine Lust mehr auf Informatik hatte. Dass dieser Mann notorisch schlechte Laune hatte, dafür hatte sie schon Verständnis. Wenn man sich vorstellt, dass man jeden Morgen in so einem Körper und mit so einem Gesicht aufwachen und dann in das Bad vor den Spiegel musste, o. k., da wäre ihr Tag auch gelaufen! Aber das musste er doch nicht an den Schülern auslassen, denn die mussten ihn ja nicht nur die kurze Zeit, wie er sie vor einem Spiegel verbrachte, ansehen, sondern stundenlang! Eigentlich müsste man Schmerzensgeld für jede Stunde mit diesem Typ bekommen! Tatsache war, dass man bei ihm wirklich aufpassen musste, weil er wie ein Aasgeier darauf wartete, seine Schüler fertig zu machen.
In den nächsten Tagen lernte sie ein paar der neuen Mitschülerinnen näher kennen. Da waren zum einen Sigrid und Esther, die beiden Mädchen, die am ersten Schultag etwas schüchtern in die Klasse gekommen waren. Beide waren wie Melli sehr schlank, aber nicht so groß. Sigrid war extrem sportlich, sie trainierte dreimal in der Woche Leichtathletik! Esther war ein ruhiges, freundliches Mädchen mit intensiven grünen Augen und braunen lockigen Haaren. Mit ihrer hellen Haut sah sie wie eine kleine Elfe aus. Sie war zudem höchstens 1,55 m groß, was das Bild von der kleinen Elfe noch unterstrich. Die beiden anderen Mädchen hießen Felicitas und Nina. Diese waren laut und lustig. Auch sie waren durchtrainiert, das sah man auf den ersten Blick. Gegen die war Melli eine Coach-Potatoe! Felicitas und Nina machten Triathlon! Sie kannten sich schon seit Jahren und trainierten nahezu täglich miteinander. Sigrid und Esther kamen in der Pause auf Melli zu und bedankten sich bei ihr, weil sie die Mädchen in der hintersten Reihe wieder einmal zum Schweigen gebracht hatte, als sie deren auserwählten Opfer gewesen waren. Felicitas und Nina, die gerade in diesem Moment vorbei gingen, wandten sich spontan zu ihnen um, als sie hörten, von was die Rede war.
»Ja, das ist echt super!«, mischte sich Felicitas, die sich lieber kurz Feli nannte, in das Gespräch ein. »Dass dir immer solche Sätze einfallen, ist schon stark. Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich bin da zu doof, um so blitzschnell zu kontern!«
Esther nickte mit dem Kopf und sagte in ihrer stillen Art, »Die Mädchen sind auch so bösartig, da bleibt mir einfach die Luft weg. Mir fällt da schlicht und ergreifend nichts ein, was ich sagen könnte.«
Melli zuckte mit den Schultern.
»Ich kann es nicht leiden, wenn sich welche so assi aufführen. Klar, die sind zu sechst und dann noch unterstes Niveau, mit denen kann man nicht vernünftig reden. Das würde einfach eine Grundintelligenz voraussetzen, doch da sucht man bei denen vergeblich. Was aber den Vorteil hat, dass die es nicht bis ins Abi schaffen. Solange hier ein paar dagegen halten, dürfte die Michelin-Männchen-Abteilung nicht zu frech werden.«
Die Mädchen lachten los.
»Michelin-Männchen, wo hast du nur diese Einfälle her?«
Melli grinste.
»Ihr Zweitnamen ist Presswurst-Gang.«
Nina rief begeistert, »Super, das ist der richtige Ausdruck: Presswurst-Gang! Geil!«
Die so ›getauften‹ Mädchen beobachteten die lachende Gruppe misstrauisch und mit bösen Blicken. Es war offensichtlich, dass sie der Gegenstand der Belustigung waren.
»Na wartet, ihr blöden Tussis,« zischte Anna, eine pummelige Blondine, »ihr lacht nicht mehr lange!« Melli und die vier Mädchen bekamen aber davon nichts mit. Tassilo hörte, was Anna von sich gegeben hatte und verzog nachdenklich das Gesicht. Es gefiel ihm nicht, dass diese Mellissa so sorglos und offen gegen diese hinterhältige Bande zu Feld zog. Er fand es einerseits toll, dass sie sich für andere einsetzte und diese Bösartigkeiten parierte, aber sie schien nicht zu spüren, welche Gefahr von dieser Clique ausging. Schade, dass sie ihn ablehnte, er mochte sie, schon alleine deswegen, weil sie so eine Art kleiner Robin Hood war. Nur war dieser realistischer gewesen. Er beschloss ein Auge auf das Melissa zu haben. Zuerst hatte er gedacht, dass das einfach eine Art Zickenterror war, den sie mit dieser Clique führte, aber nach ein paar Tagen hatte er genug beobachtet und gehört, was ihn hellhörig gemacht hatte. Diese Mädchenclique schien keinen gutes Umfeld zu haben. Nach wenigen Gesprächen hatte er sich zurückgezogen, das war definitiv nicht sein Niveau. Er hatte in der Zwischenzeit einen Gleichgesinnten in der Klasse gefunden, der in diesem Moment auf ihn zu kam: Frank war wie Tassilo neu in der Stadt und zusammen gingen sie in ihrer Freizeit auf Entdeckungstour. Frank war durch den Arbeitsplatzwechsel seines Vaters hierher gezogen. Er tat sich etwas schwer auf andere zu zugehen. Tassilo, der dafür einen Blick hatte, war in einer Pause zu Frank hinüber gegangen und hatte ihn gefragt, was er denn so mache. Froh, mit jemandem sprechen zu können, erzählte Frank so ziemlich alles über seine Familie und sich. Seine Eltern waren beide voll im Job involviert, Geschwister hatte er keine. Tassilo rückte nicht sehr viel über sich heraus, was Frank gar nicht auffiel: Für ihn war es toll, endlich jemanden zu haben, der ihm zuhörte und der Lust hatte, ab und zu etwas mit ihm zu unternehmen.
Melli fühlte sich schon nach wenigen Tagen wohl in der Klasse, da die fünf Mädchen sehr schnell heraus fanden, dass sie super zueinander passten. Es war klar, dass sie die Pausen zusammen verbrachten. Melli beobachtete im Stillen Tassilo, der nun ausschließlich mit diesem Frank zusammen war. Die beiden schienen sich zu verstehen, aber es sah aus, als würden sie die meiste Zeit ganz ernste Gespräche führen. Sie sahen auf jeden Fall so aus. Melli hatte sie noch nie lachen gesehen. Vielleicht übten die sich in Melancholie.
Ihre Mädchenclique dagegen waren immer gut drauf, sie lachten viel und zogen sich gegenseitig auf. Es wäre richtig toll gewesen, wenn die Presswurst-Gang nicht gewesen wäre und die Tatsache, dass Tassilo sich überhaupt nicht mehr für sie interessierte. Er versuchte nicht mehr mit ihr zu reden, im Gegenteil: Sobald es zur Pause klingelte, stand er auf und ging zu Frank. Vermutlich hatte sie ihn zu sehr vor den Kopf gestoßen und er hatte keine Lust mehr, sich von ihr anmachen zu lassen.
Auch wenn Melli es nicht zugeben wollte: Dass Tassilo ihr die kalte Schulter zeigte, legte sich wie ein dunkler Schatten auf ihren Tag!
Am Donnerstagmorgen krachte es wieder richtig zwischen der Presswurst-Gang und Melli. Die Schüler waren zum großen Teil schon eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Unterrichtsbeginn in der Schule. Die meisten Busse kamen viel früher an. Melli lief mit Andi zusammen durch die Aula und sah, dass Tassilo und Frank nur wenige Meter vor ihr, die Treppen hinauf gingen. Plötzlich wurde Melli von hinten so heftig angerempelt, dass sie gegen Andi krachte, der sie irgendwie festhielt, damit sie nicht auf den Boden fallen konnte. Zornig blickte Melli in die Richtung, aus der sie den Rempler bekommen hatte. Böse grinsend lief Kristin mit dem Rest ihrer Truppe an Melli vorbei. Mit ein paar Schritten war sie bei Tassilo und Frank und hängte sich an Tassilo’s Arm ein. »Hilf mir«, quietschte sie offensichtlich belustigt »eine wilde Kuh ist hinter mir her!« Tassilo drehte sich um und entdeckte Melli, die ihren Zorn sofort hinunterschluckte. Sie wusste, wenn sie sich von ihren Gefühlen hinreißen ließ, konnte sie nicht klar denken. Ihr Ton war beißend, aber kühl, als sie konterte.
»Großer Irrtum! Die wilde Kuh ist gerade über mich drüber gewalzt. Aber was soll man machen, Kühe sind von Haus aus einfach sehr dumme Tiere, ohne einen Funken Sensibilität. Denen kann man auch nichts beibringen, in diese dummen Köpfe geht einfach nichts hinein. Die können nur fressen und saufen und muh machen!« Hinter Melli meldete sich eine weitere Stimme, »Mit diesen Kühen haben wir leider eine Menge Erfahrung! Vorsicht Tassilo, diese Viecher machen zudem eine Menge Mist!« Sigrid war dazu gekommen und hatte die drei anderen Mädchen im Schlepptau. Sie nahmen Melli in ihre Mitte und zogen an der Gruppe auf der Treppe vorbei. Melli schaute Tassilo an, der ihre Augen suchte. Als sich ihre Blicke trafen, stellte es Melli die Haare auf. Noch nie hatte jemand sie so eindringlich angeschaut. Es war, als könne er sie zwingen, ihm in die Augen zu schauen. Ihr Bauch fuhr wieder Achterbahn. Sie riss sich regelrecht von Tassilo’s Blick los und ging mit ihren Freundinnen in das Klassenzimmer.
Die Presswurst-Gang kam erst kurz vor Beginn der ersten Stunde in die Klasse. Wahrscheinlich wollten sie es nicht noch einmal zu einer Auseinandersetzung kommen lassen, das hatte ihnen für heute bestimmt gereicht. Als sich Tassilo neben Melli setzte, sagte er leise zu ihr, ohne sie anzusehen, »Pass auf mit der Bande in der letzten Reihe. Die haben nichts Gutes mit dir vor!«
Mrs. Beetle kam in die Klasse gerauscht und bevor Melli Tassilo antworten konnte, flötete ihre Englisch-Lehrerin los. Gegen dieses Organ kam sie nicht an. Warum warnte Tassilo sie so eindringlich? Machte er sich ernsthaft Gedanken um sie? Melli wurde es ganz warm. Fand er die Presswurst-Gang doch nicht so toll? Dass sie sich über ihn ärgerte, lag vielleicht doch mehr an ihr selbst. Sein Blick und die Art, wie er sie gewarnt hatte, ließ es ihr richtig schwindelig werden. Langsam drehst du durch, dachte sie. Aber es war etwas Magisches, was von ihm ausging, wenn er nett zu ihr war. Sie konnte kaum an etwas anderes denken. Es machte die Sache nicht leichter, dass er nur einen halben Meter neben ihr saß und sie genau fühlte, wenn er sie von der Seite ansah.
»Melissa?« Mist! Mrs. Beetle hatte sie etwas gefragt.
»I did not understand your question, sorry«, sagte Melli mit rotem Kopf.
»Please, don’t dream the english lessons away! I repeat my question for you«, quietschte Mrs. Beetle in höchsten Tönen. Irgendwie bekam Melli eine Antwort hin und war danach sofort wieder in ihren Gedanken versunken.
Sie bemühte sich standhaft, nicht mehr über Tassilo nachzudenken, was ihr überhaupt nicht leicht fiel. Ihre Gedanken drehten sich ergebnislos im Kreis. Und immer wenn sie spürte, dass Tassilo’s Blick in ihre Richtung ging, musste sich beherrschen, um dem inneren Drang nicht nachzugeben, ihn anzuschauen.
Das war wirklich eine harte Englisch-Stunde! Sie hatte keine Ahnung, wie sie etwas vom Schulstoff mitbekommen sollte, wenn sie so up-side-down war! Wenigstens war sie zweimal in der Woche von diesem Leid erlöst. Einmal im Sport und dann, wenn sie Latein hatte. Melli wollte Tiermedizin zu studieren, so war es für sie klar, dass sie als dritte Fremdsprache Latein und nicht Spanisch nahm. Nahezu alle aus ihrer Klasse hatten sich für den Spanisch-Unterricht entschieden, inklusive Tassilo. Dieser fand am Freitagnachmittag statt, was den Latein-Unterricht am Donnerstagnachmittag gleich wieder sympathisch machte. Die Lateiner hatten Freitagnachmittag nämlich frei und konnten gleich ins Wochenende starten. Überrascht stellte sie fest, dass Frank in der Latein-Klasse war. Dieser setzte sich zu einem Jungen aus der Para-Klasse, Melli saß alleine, was ihr ganz recht war. Aus ihrer Klasse waren mit Frank nur noch drei weitere Mädchen in Latein, die sie alle noch nicht kennengelernt hatte. Als Melli in der Pause auf den Flur ging, um sich die Füße zu vertreten, wurde sie tatsächlich von Frank angesprochen.
»Hi«, begann er recht schüchtern.
»Hi«, Melli schaute ihn erstaunt an.
»Ich habe eine Frage«, fing er noch einmal an.
»Und die wäre?« Melli lächelte ihn ermunternd an. Frank musste man wohl die Sätze einzeln aus der Nase ziehen!
»Neben Tassilo ist doch noch ein Platz frei, in unserem Klassenzimmer, meine ich. Macht es dir etwas aus, wenn ich mich auch noch dazu setze?«
Melli schaute ihn verblüfft an.
»Wieso sollte ich etwas dagegen haben? Da musst du doch nicht mich fragen, diese Frage solltest du Tassilo stellen.«
Frank lief rot an. Das machte ihn für Melli sympathisch. Noch jemand mit dem gleichen Problem wie ich, dachte sie.
»Ich habe ihn schon gefragt, aber er hat gemeint, dass du das auch absegnen musst, es sei dein Hoheitsgebiet.«
Melli verstand die Welt nicht mehr.
»Hoheitsgebiet? Was soll denn der Blödsinn? Du kannst dich doch hinsetzen, wo du willst! Was sollte ich dagegen haben?«
Frank schien erleichtert. Doch bevor Frank wieder weglaufen konnte, fragte Melli ihn interessiert, warum er Latein gewählt hatte.
»Ich möchte Tiermedizin studieren«, antwortete Frank.
»Hej, das ist ja lustig. Ich habe dasselbe vor. Hast du dich schon nach einem Studienplatz umgeschaut?«, fragte sie ihn.
»Das wollte ich dieses Jahr in Angriff nehmen. Wir sind ja gerade erst hierher gezogen. Es stand lange nicht fest, in welche Filiale mein Vater versetzt wird, ob wir in Deutschland bleiben oder in Australien landen.«
»Australien? Das wäre doch auch cool, oder?« Melli war begeistert. Frank schüttelte den Kopf
»Es wäre viel komplizierter geworden. Ich weiß nicht, ob mir das gefallen hätte. Es ist schon besser, hier in Deutschland die Schule fertig machen zu können.«
Das verstand Melli.
»Trotzdem ist Australien ein geiles Land, findest du nicht?«
Frank konnte ihr nicht mehr antworten, weil sie wieder in den Unterricht mussten. Auch wenn er sehr schüchtern war, fand Melli ihn o. k.
Zuhause erzählte sie ihrer Mum von ihm.
»Frank will auch Tiermedizin studieren. Er fängt dieses Jahr an, einen Studienplatz zu suchen. Ich glaube, das ist gar kein dummer Gedanke, auch wenn ich noch zwei Jahre bis zum Abi habe.«
Melli’s Mum pflichtete ihr bei.
»Klar, lieber früher damit anfangen, als zu spät. Du wolltest dich für die nächsten Ferien um ein Praktikum bei einem Tierarzt bemühen. Da könntest du auch schon einmal anfangen, dich zu bewerben.«
Melli nickte zustimmend, »Ja, dafür wird es jetzt wirklich Zeit. Ob ich da so eine Art Lohn bekomme?«, überlegte sie. Frau Großmann zuckte die Schultern.
»Ich glaube eher nicht. Aber lass dich einfach überraschen.«
Nach dem Abendessen räumte Melli die Küche auf, um hinterher das Laptop ihrer Mutter in Beschlag zu nehmen. Sie suchte sämtliche Tierärzte der näheren Umgebung heraus und stellte fest, dass es in 20 Kilometer Entfernung sogar eine Tierklinik gab. Bald hatte sie die Liste beisammen, die sie am Montagnachmittag abtelefonieren wollte. Danach googelte sie sich durch die Universitäten. Was man nicht alles studieren konnte, dachte sie. Man konnte sogar Studienplätze einklagen! Das war ja der Hammer. Egal wie gut oder schlecht das Abi war. Das wollte sie sich noch genauer ansehen. Aber jetzt war sie zu müde. Irgendwie war Schule doch stressiger, als viele glaubten. Eltern zum Beispiel. Und der nächste Tag begann auch noch ganz bescheiden: IT in der ersten Stunde. Schreck in der frühen Morgenstunde. Sie sagte ihrer Mum noch gute Nacht und ging direkt in ihr Bett, ohne zum Bad abzubiegen. Heute Abend nicht. Sie hatte einfach keine Lust mehr.
Der nächste Morgen war super chaotisch und fing mit noch mehr Schrecken an, als Melli im voraus ahnen konnte. Sie hatte vergessen, bei ihrem Wecker den Alarmknopf zu drücken. Da ihre Mum keine Termine an diesem Morgen hatte, war sie auch noch nicht aufgestanden. Kurz vor halb acht schreckte Melli aus dem Schlaf auf. Mit einem Entsetzensschrei sprang sie aus dem Bett.
»Scheiße!!«, rief sie so laut, dass ihre Mum auch gleich um die Ecke kam.
»Ich habe verpennt! Und das ausgerechnet heute. Der Niewöhner ist eh schon so ein Arsch. Oh Gott! Mum fährst du mich? Bitte!!«
Ihre Mutter zog sich schon an.
»Klaro, bin schon unterwegs.«
Melli war in Windeseile angezogen, Zähne kurz geschrubbt, Apfel eingepackt und ab in das Auto. Trotz der Hektik kam Melli zehn Minuten zu spät. Vor dem Klassenzimmer atmete sie durch und legte sich einen Satz zurecht. Sie klopfte an die Tür und ging hinein. Herr Niewöhner stürzte sich, was sie ja schon geahnt hatte, sofort auf sie.
»Guten Morgen«, kam es hämisch »kommt jetzt die obligatorische ›Ich habe verschlafen‹ – Entschuldigung? Die kann ich nämlich nicht mehr hören!«
Melli kochte. So ein borniertes Arschloch! Wenn sie sauer war, konnte sie ihren Mund nicht halten, auch wenn das taktisch unklug war. Aber dieser Lehrer nervte einfach!
»Ich werde mir für nächstes Mal eine spannendere Story für meine Verspätung einfallen lassen«, antwortete sie mit zuckersüßen Stimme, »aber da ich tatsächlich verpennt habe und ich ziemlich Hektik hatte, konnte ich mir nichts Interessanteres zusammenreimen. Ich werde mit der Zeit bestimmt lernen, ihren etwas sonderbaren Ansprüchen gerecht zu werden.«
Nach dieser Antwort war Totenstille in der Klasse. Melli ging zu ihrem Stuhl. Andi sah sie völlig fassungslos an, während Tassilo seinen Kopf schüttelte, offensichtlich geschockt darüber, dass sie eben den übelsten Lehrer der Schule provoziert hatte. Damit hatte sie sich ihm ans Messer geliefert. Herr Niewöhner reagierte dementsprechend.
»Sie können sich gerne etwas einfallen lassen und sie werden dafür viel Zeit haben!«, fauchte er sie an. Er schaute in das Tagebuch der Klasse. Offensichtlich studierte er den Stundenplan.
»Wie schön«, fuhr er dann im freundlichsten Ton fort. »Montagnachmittag frei. Das trifft sich doch gut! Sie werden sich diesen Montagnachmittag zum Arrest einfinden. In den drei Nachmittagstunden, in denen ich andere Klassen unterrichte, haben Sie viel Zeit, Ihr Verhalten zu überdenken. Das Ergebnis möchte ich schriftlich festgehalten haben. Das müssten Sie doch in den drei Stunden schaffen?« Jetzt klang er ziemlich hämisch. Und Melli war jetzt richtig sauer.
»Sie können mir wegen zehn Minuten Verspätung, für die ich mich entschuldigt habe, keine drei Stunden Arrest geben. Das steht in keinem Verhältnis!«
Herr Niewöhner lächelte sie kalt an.
»Merken Sie sich: Ich kann fast alles! Und den Arrest bekommen Sie auch nicht wegen der fünf Minuten Verspätung, sondern aufgrund Ihres aufsässigen Verhaltens. Wie ich das ahnde, liegt in meinem Ermessen.« Melli gab noch nicht auf.
»Ich werde mit dieser Sache zur Rektorin gehen. Das lasse ich so nicht auf mir sitzen!«
Herr Niewöhner’s Grinsen wurde noch breiter.
»Sie glauben doch nicht, dass die Frau Direktorin im Moment Zeit für so einen Blödsinn hat? Bei der Menge an organisatorischen Entscheidungen, die gerade anstehen, hat sie gar keinen Nerv, sich um solche Lappalien zu kümmern. Und jetzt wäre ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn wir uns dem Stoff zuwenden könnten, ihre persönlichen Statements interessieren hier niemanden.«
»Das würde ich so nicht sagen.« Tassilo’s warme Stimme durchschnitt die Stille im Klassenzimmer. »Es macht natürlich keinen Sinn, Ihnen in diesem Rahmen zu widersprechen. Aber diese Willkür, die Sie seit der ersten Stunde an den Tag gelegt haben, ist indiskutabel. Ich werde mich zusammen mit Melissa an unsere Schulleitung und gegebenenfalls an das Schulamt wenden. Auch als Schüler muss man sich nicht alles gefallen lassen.«
Herr Niewöhner war augenscheinlich fassungslos. Die ganze Klasse war mucksmäuschenstill. Der Lehrer grinste jetzt nicht mehr. Mit einem »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, machte er mit dem Unterricht weiter, als wenn nichts gewesen wäre.
Melli schaute Tassilo ungläubig an. Dieser strich ihr mit der Hand einmal kurz über den Rücken, was eine, wohl von ihm beabsichtigte, beruhigende Wirkung auf Melli haben sollte. Das klappte nicht so ganz. Ihr wurde feuerheiß und ihr Bauch fühlte sich an, als würden mehrere Jumbo-Jets Loopings üben! Andi, der Tassilo dabei beobachtet hatte, drehte sich mit versteinertem Gesicht wieder nach vorne und schluckte das was er hatte sagen wollen, wieder herunter. Was ging da zwischen Melli und Tassilo? Hatte er irgendetwas verpasst? Melli hatte den Typ doch bei jeder Gelegenheit angegiftet! Und jetzt streichelte der sie! Und sie war schon wieder rot angelaufen! Dass er Melli vor dem Niewöhner retten wollte, hatte doch bestimmt einen Grund. Der hatte etwas mit Melli! Klar! Andi bekam vom Unterricht nichts mehr mit, er war so eifersüchtig, dass er nicht mehr klar denken konnte.
Nach der Stunde, die ohne irgendwelche Boshaftigkeiten von Seiten des Lehrers zu Ende gegangen war, wandte Melli sich zu Tassilo um. »Das wäre echt nicht notwendig gewesen«, meinte sie. »Jetzt hängst du mit drin!« Tassilo lächelte sie an.
»Erstens muss dieser Psycho gestoppt werden, sonst bekommen wir das ganze Jahr keinen vernünftigen IT Unterricht, sondern handfeste Neurosen und zweitens ist es nicht fair, jemanden in so einer Situation hängen zu lassen. Ich habe mir gedacht, dass der Blödmann auf Rückzug geht, wenn ich den Mund aufmache.« Melli wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, aber Tassilo redete auch gleich weiter.
»Wir gehen gleich auf das Rektorat. Wir müssen noch heute einen Termin mit Fr. Dr. Schmidt bekommen. Vielleicht geht noch jemand mit.«
Sigrid und Nina, die die letzten Sätze gehört hatten, waren sofort mit dabei. Esther wollte dableiben, um dem nächsten Lehrer, bei dem sie die folgenden zwei Stunden hatten, notfalls zu erklären, dass die anderen später kommen würden. Andi reagierte gar nicht. Melli wiederum bekam Andi’s komisches Verhalten gar nicht mit, sondern nahm nur noch den souverän wirkenden Tassilo wahr.
Sigrid, Nina, Melli und Tassilo eilten auf das Sekretariat. Frau Lempe, eine strenge damenhafte Erscheinung in den fünfzigern, war die Perle in diesem Refugium. Immer tiptop in ein schickes Kostüm gewandet, von außen und innen, die perfekte Sekretärin für eine Schule. Sie empfing die vier Schüler kühl und herablassend.
»Bitte, was gibt es denn?«
Mein Gott, noch so ein Menschenfreund, dachte Melli bei sich. Ein bisschen freundlicher ginge doch auch? Gott sei Dank übernahm Tassilo das Sprechen. Freundlich erklärte er Frau Lempe, wer sie waren und dass sie sehr eilig einen Termin mit Frau Dr. Schmidt benötigten. »Um was geht es denn? Im Moment haben wir hier so viel um die Ohren, dass es sich schon um etwas sehr Wichtiges handeln muss!« Tassilo erklärte ihr höflich die Situation. Frau Lempe war nicht bereit, auch nur in den Terminkalender ihrer Chefin zu schauen. »Das könnt ihr zuerst einmal mit eurem Klassenlehrer besprechen. Das ist der erste Schritt. Nur wenn dieser es als notwendig erachtet, dass Frau Dr. Schmidt hinzu gezogen wird, werden wir einen Termin machen.« Tassilo wollte dagegen aufbegehren, aber Frau Lempe schnitt ihm das Wort gleich ab. »Das ist der Weg! Nach dem Gespräch mit eurem Klassenlehrer kann dieser gegebenenfalls die Sache mit Frau Dr. Schmidt erörtern. Sie können in Ihr Klassenzimmer zurück gehen!« Damit ließ sie die vier stehen. »Unglaublich«, schimpfte Nina, als sie das Sekretariat verlassen hatten. »Hat man hier eigentlich irgendwelche Rechte? Die Alte hat doch einen Vollschuss!«
Tassilo zuckte mit den Schultern.
»Die haben hier eben so eine Art Verfahrensweg und den wollen sie eingehalten haben. Statt uns aufzuregen sollten wir lieber schauen, dass wir Frau Schildknecht noch erwischen.«
Sie bewegten sich eilig zum Lehrerzimmer. Frau Schildknecht war aber nicht da, keiner konnte sagen, wo sie sich gerade aufhielt. Frustriert gingen sie wieder zu ihrem Klassenzimmer zurück.
»Wir probieren es nachher gleich wieder,« meinte Tassilo aufmunternd.
Melli nickte ihm freundlich zu, als sie in das Klassenzimmer kamen. Sie bemerkte gar nicht, wie finster Andi ihnen entgegen schaute. Dass Melli und Tassilo plötzlich so gut miteinander klar kamen, machte ihn richtig wütend. In seinem gekränkt sein, ignorierte er Melli vollständig. Die nächsten zwei Stunden hatten sie Französisch bei Herrn Hartus. Doch Melli war so in ihren Gedanken versunken, dass sie weder etwas vom Unterricht noch Andi’s abweisende Art mitbekam. In der nächsten Pause allerdings, konnte sie sein Verhalten nicht mehr übersehen. Sie drehte sich ihm zu und informierte ihn darüber, dass sie noch einmal versuchten, Frau Schildknecht zu treffen. Doch Andi ließ sie gar nicht richtig ausreden.
»Was erzählst du mir das? Du hast ja den Richtigen gefunden, der sich der Sache annimmt!«
Damit war Andi aufgestanden und weggelaufen. Melli schaute ihm stirnrunzelnd nach. Was war denn mit dem los? Tassilo, der daneben stand schüttelte den Kopf.
»Komm wir gehen noch einmal los. Der kriegt sich wieder ein.«
Nina und Sigrid standen schon da und zusammen machten sie sich auf den Weg. Aber auch dieses Mal hatten sie kein Glück. In der nächsten Stunde erfuhren sie auch warum. Frau Schildknecht hatte ein Kooperationstreffen mit Lehrern aus einer anderen Schule und war den ganzen Tag aus dem Haus. Die Mädchen waren gefrustet und ließen ihren Dampf ab, doch Tassilo beschwichtigte sie mit seiner ruhigen Art. »Wir haben am Montag die ersten beiden Stunden Deutsch, da können wir auf jeden Fall mit Frau Schildknecht reden. Ob wir deinen Arrest noch abbiegen können, hängt davon ab, wie schnell wir Frau Schildknecht davon überzeugen können, dass der Niewöhner echt daneben ist.«
Es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig. Melli ging etwas niedergeschlagen in das Klassenzimmer zurück.
Andi blieb den restlichen Vormittag auf Distanz doch Melli ignorierte ihn mitsamt seiner schlechten Laune. So ein blödes Theater, dachte sie. Die ganze Zeit hing er mit seinen Lurchi-Freunden zusammen und hatte keine Minute Zeit für sie. Doch jetzt, wo sie ein paar Freunde gefunden hatte und mit denen herumzog, machte er auf beleidigt! Sie konnte ja heute Abend einen Überaschungsbesuch bei ihm machen. Und dann, nahm sie sich vor, würde sie mit ihm Tacheles reden. Was bildete der sich eigentlich ein?
Die restlichen Stunden gingen ohne große Zwischenfälle herum. Die Presswurst-Gang war erstaunlich friedlich. Doch Melli nahm dies nur am Rande wahr. Sie beschäftigte sich gedanklich mit Tassilo. Heute hatte sie ein ganz neues Bild von ihm bekommen. Trotzdem ließ sich das andere Bild nicht ganz löschen. Die meiste Zeit verhielt er sich in ihren Augen oberflächlich und arrogant. Andererseits war er heute das genaue Gegenteil von dem gewesen, was er sonst immer zu sein schien. Das war sehr verwirrend. Und noch verwirrender waren seine Blicke. Sie hatte den Eindruck, als könne Tassilo durch ihre Augen in ihre Seele blicken. Sie fühlte sich dann wie hypnotisiert. Konnte ihren Blick kaum abwenden. Und jedes Mal wurde ihr dann ganz warm, ihr Bauch fuhr Achterbahn und die Knie wurden weich. Die Wirkung, die Tassilo auf sie hatte, war einfach nicht normal.
Nach der sechsten Stunde ging Melli zum Bus. Da alle anderen Lateinschüler aus den Paraklassen in der Stadt wohnten und nicht zum Bus mussten, lief sie als Einzige aus ihrer Klasse den Weg zum Bahnhof hinunter. Seltsamerweise war am Bahnhof die komplette Presswurst-Gang anwesend. Die haben doch Spanisch, dachte Melli und stellte ihre Schultasche ab, um auf ihren Bus zu warten. Vielleicht schwänzten sie den Unterricht. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die Gruppe sich in Bewegung setzte. Die sechs Mädchen schlenderten tatsächlich zu ihr hinüber.
»Na, ganz alleine heute?«, fragte Jaylen hämisch.
»Ich fühle mich doch nicht alleine, wenn ihr netterweise alle da seid, um mir Gesellschaft zu leisten. Wobei frische Luft und alleine sein, vorzuziehen wäre.«
Cordelia kickte Melli’s Schultasche weg.
»Lass das!«, fauchte Melli und bückte sich nach der Tasche.
Und dann ging alles ganz schnell: Die Mädchen stellten sich im Kreis um sie und verdeckten damit sämtlichen Umstehenden die Sicht, während Nadine Melli an ihren langen Haaren zog und ihr das Knie gezielt in den Magen rammte. Melli wurde schwarz vor den Augen.
»Mal schauen, ob die nochmal den Mund soweit aufmacht!«, sagte Kristin abschätzig.
Aber das hörte Melli nicht mehr. Die Mädchen gingen weg und ließen Melli liegen. Zunächst schien es, als hätte niemand mitbekommen, was da passiert war. Doch eine Frau mittleren Alters hatte das Ganze von weitem beobachtet, und als sie sah, dass Melli auf dem Boden lag, ganz offensichtlich besinnungslos, eilte sie sofort zu ihr hin. In der Zeit war die Presswurst-Gang schon verschwunden. Geistesgegenwärtig forderte die Frau mit ihrem Handy sofort einen Krankenwagen an. Erst als die Sanitäter eintrafen, machte Melli wieder die Augen auf.
»Wir nehmen Sie auf jeden Fall zur Kontrolle mit ins Krankenhaus«, sagte der Notarzt zu Melli.
»Können Sie uns sagen, was passiert ist?«
Die Frau, die angerufen hatte, berichtete, dass eine Gruppe von fünf Mädchen um Melli gestanden habe und dass sie, als diese weg liefen, Melli auf dem Boden liegen gesehen habe. Die Sanitäter baten sie, sich bei der Polizei zu melden und den Vorfall zu Protokoll zu geben.
Melli war es schwindelig und schlecht und überhaupt nicht in der Lage, irgendetwas zu erklären. Sie wurde in den Krankenwagen gehoben und in die Klinik gefahren.
Ihre Mutter wurde benachrichtigt, die nach einer Viertelstunde völlig aufgelöst in die Aufnahme stürmte. Als sie ihre Tochter gefunden hatte, war sie den Tränen nahe.
»Melli, was ist denn passiert?«
Melli berichtete ihr so gut es ging.
»Du hast diese Mädchen nicht mehr provoziert, seitdem Zusammenstoß im Sport?«
»Nein Mum, die letzten Tage sind wir uns aus dem Weg gegangen.«
»Ich rufe die Polizei dazu, das gibt eine Anzeige wegen Körperverletzung!«
Anita Großmann war immer noch außer sich, als der behandelnde Arzt hinzu kam.
»Was wir bisher sagen können ist, dass Ihre Tochter eine Gehirnerschütterung hat. Wir würden sie gerne noch etwas da behalten, damit wir sicher sein können, dass sonst keine Verletzungen im Bauchraum entstanden sind. Eine Verletzung der Milz können wir nahezu nach dem ersten Ultraschall ausschließen, aber feine Risse können sich auch noch Stunden nach dem Unfall zeigen. Dazu werden wir noch ein CT anfertigen. Wir legen Ihre Tochter zur Beobachtung in einen unserer Räume hier in der Not-Aufnahme, bis wir uns sicher sein können, dass es keine Organverletzungen gibt.«
Melli protestierte nicht, was ihre Mutter noch mehr beunruhigte. Auch als eine Krankenschwester kam und ihr eine Infusion legte, gab es keinen Protest. Melli durfte vorerst nichts essen und trinken, sie bekam über die Infusion alles, was sie brauchte, erklärte die Krankenschwester. Inklusive ein Schmerzmittel für ihre rasenden Kopfschmerzen.
»Mein Gott Kind, wie aggressiv und brutal geht es denn heute zu? Ich habe die Polizei informiert, die wollen dich befragen. Bekommst du das noch hin? Außerdem habe ich Papa angerufen, er ist in einer Stunde da. Er will auf jeden Fall, dass diese Mädchen eine Anzeige und auch eine Strafe bekommen!«
Melli war still. Sie war wie benommen. Dass die Presswurst-Gang ein Haufen primitiver Hühner waren, das war ihr klar gewesen. Aber dass sie ihnen so dumm in die Falle gelaufen war, konnte sie immer noch nicht glauben. Ihr Kopf tat weh und auch ihr Bauch schmerzte bei jeder Bewegung. Sie wollte nur noch schlafen. Es war ihr immer noch schwindelig und die Aussicht, ein Protokoll mit der Polizei aufnehmen zu müssen, brachte sie den Tränen nahe. Aber sie hielt durch, und erzählte den Beamten, die den kleinen Krankenraum betraten, die ganze Geschichte. Frau Großmann berichtete auch von den Übergriffen im Sportunterricht und dass das intern in der Schule geregelt worden sei.
Die Polizisten verabschiedeten sich recht schnell und machten sich auf den Weg zur Schule. Sie wollten sich dort die Namen und Adressen der Presswurst-Gang holen. Die Frau, die den Krankenwagen gerufen hatte, hatte ihre Aussage bei der Polizei schon gemacht. Anscheinend war sie vom Busbahnhof schnurstracks zur Polizei-Station gelaufen. Da Melli’s Aussage und die der Frau sich bestätigten, wollten die Polizisten die Mädchen aus der Schule holen. Falls sie dort nicht anzutreffen waren, bekamen sie auf jeden Fall im Sekretariat deren Adressen.
Kaum waren die Polizisten gegangen, wurde Melli zur CT gefahren.
»Nur zur Kontrolle«, beruhigte die Krankenschwester. »wie geht es dir denn jetzt?«
»Tut alles weh, ich bin müde!«
Melli wollte nicht reden.
Die Computer-Tomographie war negativ, das hieß: Keine inneren Blutungen. Trotzdem sollte Melli noch 24 Stunden zur Beobachtung bleiben. Als sie zurück in das Zimmer geschoben wurde, war ihr Vater auch da. Er war gleich an ihrem Bett.
»Na, meine Große, in was für einen Schlamassel bist du denn geraten? Deine Mum hat mir erzählt, was sie wusste. Wenn es dir bessergeht, sprechen wir miteinander, ja meine Süße?«
Melli war schon am Einschlafen. Die Schmerzmittel und die Aufregung hatten sie sehr müde gemacht. Ihre Eltern blieben bei ihr, bis sie mehr oder weniger von der Stationsschwester hinaus komplimentiert wurden. »Ihre Tochter schläft jetzt erst einmal, das war auch ein arger Schock für sie. Falls sie in der Nacht aufwachen sollte, wird sie von der Nachtschwester darüber informiert, dass wir Sie nach Hause geschickt haben. Wenn es ihr morgen früh besser geht, können Sie auch mehr mit ihr reden. Durch die bisherigen Untersuchungen haben wir kein akutes Abdomen feststellen können, auch eine Gehirnblutung können wir ausschließen, sodass die schlimmste Gefahr vorüber ist. Sie können also erst einmal beruhigt nach Hause gehen.«
Melli’s Eltern kamen sich zwar etwas hilflos vor, was ein akutes Abdomen war, wussten sie auch nicht, aber es hörte sich beruhigend an, sodass sie dann doch nach Hause fuhren.
Melli wachte erst am nächsten Morgen wieder auf, als die Krankenschwestern vom Frühdienst in ihr Zimmer kamen. Fieber, Puls und Blutdruck messen. Dann wurde Melli gefragt, ob sie aufstehen könne, um auf die Toilette zu gehen, während man das Bett wieder frisch machte.
»Ja klar«, sagte Melli. Machen die einen Stress schon so früh am Morgen, dachte sie. Als sie sich aufsetzte bemerkte sie, dass sie ein furchtbares Kleidungsstück an hatte. Es war hinten offen und ging ihr bis zu den Knien: Ein Traum in weiß! Dazu eine, sie wagte nicht hinunter zu schauen, eine Netz-Unterhose! Eigentlich hatte das Ding Unterhose nicht verdient! Wie peinlich! Wann war das denn passiert? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, dieses Zeug angezogen zu haben.
Die Krankenschwester sah Melli’s entsetzten Blick.
»Wir haben Ihnen gestern ein OP-Hemd und Einmal-Unterwäsche angezogen, weil Sie als Notfall kamen. Sie haben so tief geschlafen, dass Sie das nicht mehr mitbekommen haben. Ihre Mutter hat Ihnen aber etwas frische Wäsche dagelassen. Ich lege Sie Ihnen auf das Bett, sodass Sie sich nach dem Waschen gleich umziehen können.«
Die Krankenschwester lächelte ihr zu. Lieber Himmel, ich will heim, dachte Melli. Aber sie tat, was man ihr sagte. Sie folgte brav mit ihrem Infusionsständer zur Toilette und wusch sich anschließend am Waschbecken. Zum Zähne putzen hatte die Krankenschwester schon ihre vertrauten Sachen von zuhause hingelegt. Melli fand es zwar megabescheuert, die Zähne vor dem Frühstück zu putzen, denn dann waren sie ja hinterher wieder putzbedürftig, aber sie hatte keine Lust zu einer Diskussion mit der Schwester. Es war schon blöd, mit dieser Infusion im Arm und dem Infusionsständer zurecht zukommen. Melli zog mit Hilfe der Krankenschwester ihren Shorty-Pyjama an, was mit der Infusion eine ziemliche Viecherei war. Danach fühlte sich gleich wohler. Die Schmerzen im Bauch waren fast ganz verschwunden, nur der Kopf tat noch ganz schön weh. Kaum, dass sie wieder in das Bett geklettert war, kam eine andere Krankenschwester. »Haben Sie noch Kopfschmerzen?«, fragte sie.
»Ja, ganz schön sogar«, antwortete Melli.
»Wir haben heute Nacht eine weitere Infusion angehängt, aber kein weiteres Schmerzmittel mehr dazu gegeben, damit wir heute Morgen sehen können, wie Sie sich fühlen. Da Sie noch Kopfschmerzen haben, gehen wir davon aus, dass Sie eine Gehirnerschütterung haben. Deswegen müssen Sie auf jeden Fall im Bett liegen bleiben und den Kopf so wenig wie möglich in die Senkrechte bringen.« Melli war entsetzt. »Wie, ich darf nicht einmal im Bett hinsitzen?«
»Nein, Ihr Kopf braucht jetzt absolute Ruhe! Schlafen Sie, so viel Sie können. Nachher schaut unser Stationsarzt bei Ihnen herein, er bespricht mit Ihnen dann alles weitere.«
Ein aufmunterndes Lächeln und die Schwester war zur Tür hinaus.
Das Frühstück fiel aus, dafür hatte Melli die Infusion im Arm. Super Deal, dachte Melli, während ihr Magen laut und vernehmlich knurrte. Sie hatte Hunger und Kopfschmerzen und war äußerst schlecht gelaunt, als der Stationsarzt kam. »Na, wie fühlen wir uns?« Der Arzt stellte diese Frage in einer Art und Weise, dass Melli das Gefühl hatte, dass diese rein rethorisch war. Ein Arzt musste ja quasi fragen, wie es einem ging. Diesen hier schien eine Antwort nicht brennend zu interessieren. Schon redete er weiter, »Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung, eine innere Verletzung können wir ausschließen. Es wird heute morgen noch einmal Blut abgenommen, zur Routine, wenn alles unauffällig ist, können Sie nach Hause gehen.« Melli fühlte sich schlichtweg übergangen und sagte, nachdem der Arzt fertig war, »Beschissen, falls Sie auf Ihre Frage überhaupt eine Antwort haben wollten.«
Der Arzt sah sie irritiert an.
»Außerdem wissen Sie aufgrund Ihrer Unterlagen, wer ich bin, ich habe keine Ahnung, wer Sie sind!«
Der Arzt lächelte.
»Entschuldigen Sie, junge Dame, mein Fehler. Ich bin Dr. Becker und Stationsarzt. Zufrieden?«
Melli war sauer und fand diesen Arzt unerträglich arrogant.
»Muss ich wirklich im Bett bleiben?«, fragte sie.
»Die nächsten Tage nur für die Toilette und mal zum Duschen aufstehen, so viel wie möglich liegen. Kein Fernsehen, kein Computer und auch Lesen ist nicht förderlich. Aber das werden Sie selbst feststellen, da sich die Kopfschmerzen bei diesen Tätigkeiten verstärken werden. Es kann eine Neigung zur Migräne bleiben, wenn die Gehirnerschütterung nicht auskuriert wird.«
Mit diesen Worten war er auch schon zur Tür hinaus. So ein eingebildeter Affe, dachte Melli. Ohne ›auf Wiedersehen‹ aus dem Zimmer rauschen! Der hatte nicht einmal einen kleinen Funken Anstand! Kurze Zeit später kamen ihre Eltern in das Krankenzimmer.
»Schatz, wie geht es dir?«
Ihre Mum war immer noch ganz aufgelöst. Auch ihr Vater schaute besorgt. Melli erzählte von ihrer Begegnung mit dem Stationsarzt.
»So ein arroganter Typ!«, schloss sie ihren Bericht.
»Ist das Blut für die Untersuchung schon abgenommen worden?«, fragte ihr Vater.
»Nein, und erst wenn sie wissen, dass alles o. k. ist, darf ich nach Hause.«
»Da bin ich gespannt, ob die Entlassungspapiere auch an einem Samstag geschrieben werden«, meinte Melli’s Mutter.
»Wenn der Stationsarzt gesagt hat, dass er Melli entlässt, vorausgesetzt die Werte stimmen, dann wird das schon klappen«, beendete Melli’s Vater die Debatte. Typisches Krankenhaus-Schweigen breitete sich im Raum aus. Melli war es recht. Sie hatte nach wie vor sehr starke Kopfschmerzen und eine Stinklaune. Nach einer Viertelstunde kam eine Laborantin in das Krankenzimmer, um Melli Blut abzunehmen. Melli war zwar kein Feigling, aber zuschauen mochte sie trotzdem nicht. Sie streckte ihren Arm aus. Die Laborantin befestigte den Stauschlauch an ihrem Oberarm und sagte »Jetzt wird es kurz kalt«, und wischte die Stelle in ihrer Ellenbeuge mit einem Desinfektionsmittel ab.
»Jetzt pickt es kurz«, war die nächste Information, die kam. Melli zischte hörbar. Das pikte nicht, das brannte wie Feuer!
»Nicht anspannen, schön locker lassen«, säuselte die Laborantin. »Gleich ist es vorbei.«
Das hoffe ich sehr, dachte Melli. Die Laborantin nahm mehrere Spritzenfüllungen Blut ab. Als sie die Nadel aus Melli’s Arm zog, brannte es noch ärger. Melli machte mit sich in diesem Moment aus, dass sie kein Blut spenden gehen würde, wenn das so weh tat. Sie hatte das tatsächlich vorgehabt, wenn sie 18 Jahre alt geworden war. Vorher durfte man kein Blut spenden. Aber in diesem Fall war dieser edle Gedanke gecancelt. Kurz darauf kam die Krankenschwester vom Morgen wieder und brachte ihr etwas gegen die Kopfschmerzen.
»Wann darf ich denn etwas essen?«, fragte Melli.
»Das muss ich erst mit dem Stationsarzt klären. Jetzt läuft noch die Infusion zu Ende. Möglich, dass noch eine vorgesehen ist und Sie vorerst noch nichts zu Essen bekommen. Es ist ja noch nicht ganz geklärt, ob in Ihrem Bauch alles in Ordnung ist.«
Und schon war sie weg. Melli wollte nur noch nach Hause. Die Infusion nahm ihr Hungergefühl nicht und langsam war ihr richtig mulmig. Kein Wunder wird man im Krankenhaus noch kranker, dachte Melli. Es heißt ja auch Krankenhaus und nicht Gesundheitshaus. Die wissen schon warum.
Familie Großmann saß bzw. lag in dem kleinen Krankenzimmer und schwieg vor sich hin. Nach Stunden kam der Arzt in das Zimmer und hatte einen weißen Briefumschlag in der Hand.
»Ihre Tochter darf nach Hause, sollte aber wegen der Gehirnerschütterung die nächste Woche im Bett verbringen. Ansonsten ist alles unauffällig, wir konnten im Abdomen nichts feststellen, was den Krankenhausaufenthalt länger rechtfertigen würde. Die nächsten Tage einfach mal beim Hausarzt vorbeischauen. Einen schönen Tag und gute Besserung.« Ein kurzer Blick in Melli’s Richtung und er war weg. Melli’s Eltern waren wie vor den Kopf gestoßen. Melli zuckte die Schultern.
»Jetzt wisst ihr, was ich gemeint habe. Für den ist man nur ’ne Nummer. Fließbandpatient!«
Ihr Vater schaute sie mit gerunzelter Stirn an und sagte, »Hauptsache, wir können jetzt gehen.«
»Dazu muss mir aber jemand die Infusion wegmachen. Damit kann ich wohl schlecht nach Hause gehen. Melli’s Mutter wollte sich auf den Weg machen, um eine Krankenschwester zu suchen, als Melli sie stoppte.
»Das macht man hier anders!«, und drückte auf die Klingel an ihrem Bett. Gleich darauf kam eine Schwester in das Zimmer.
»Können Sie mich bitte von dem Ding hier befreien? Ich wollte damit nicht nach Hause gehen!«
Die Krankenschwester schaute sie etwas verwirrt an.
»Sie dürfen nach Hause? Wer hat das veranlasst?«
Melli’s Mutter hob den Arztbrief in die Höhe.
»Der Stationsarzt.«
»Ach, er hat uns noch gar nichts gesagt. Ja gut, ich komme gleich.«
Die Krankenschwester war ebenso schnell wie alle anderen vor ihr, aus dem Zimmer draußen.
»Entweder sind die hier völlig überlastet oder sie haben alle keine Lust, sich mit den Patienten abzugeben«, meinte Anita Großmann. Nach einigen Minuten erschien die Krankenschwester wieder, entfernte Melli’s Infusion und nach einer knappen Verabschiedung schloss sich die Tür hinter ihr. Melli zog sofort ihre Jeans und ihr T-Shirt an und war bereit zu gehen.
»Nichts wie weg hier! Bin ich froh heimgehen zu dürfen.«
Melli’s Vater nahm ihre Tasche, Anita Großmann hakte sich bei Melli unter und so verließen sie das Krankenhaus.
Zuhause legte sich Melli gleich auf das Sofa, das im Wohnzimmer stand. Ihre Mum hatte ihr ein paar Kissen und eine leichte Decke hingelegt.
»Geht es dir gut, meine Große?«, fragte ihr Vater. Melli schüttelte den Kopf.
»Ich bin ziemlich ko und die Kopfschmerzen sind wieder stärker geworden.«
»Möchtest du eine Kopfwehtablette?« Melli’s Mum lief schon zum Medikamentenschrank. Sie kam mit einer Packung Tabletten und einem Glas Wasser zurück.
»Hier und viel trinken. Manchmal bekommt man Kopfschmerzen, wenn man zu wenig getrunken hat«, erklärte sie. Melli nahm eine Tablette und trank brav das Glas leer.
»Du solltest eigentlich etwas essen.« Anita Großmann schaute ihre Tochter nachdenklich an. »Die Frage ist nur: Was magst du gerne essen, was du auch gut verträgst mit deinem angeschlagenen Bauch?«
»Gib mir doch etwas von deinem selbstgemachten Joghurt. Der schadet bestimmt nicht.«
»Das ist eine gute Idee, ein bisschen Banane dazu, ist das o. k.?«
»Ja klar, danke Mum.«
Ihre Mutter verschwand in der Küche. Ihr Vater setzte sich zu Melli in einen Couchsessel. Forschend sah er seine Tochter an, »Jetzt hätte ich gerne von dir alle Daten und Fakten gehabt, die zu dem Zusammenstoß geführt haben.«
Melli erzählte ihrem Vater die ganze Geschichte, ohne irgendetwas auszulassen oder zu beschönigen.
»Das scheint eine recht aggressive Bande zu sein. Bevor wir in das Krankenhaus zu dir kamen, hat die Polizei schon angerufen und erste Informationen gehabt. Unter anderem, dass zwei der Mädchen schon einmal aufgefallen waren. Die, die dich getreten hat und diese Kristin. Bei diesem letzten Vorfall sind beide mit einer Verwarnung davon gekommen. Dieses Mal wird es eine Maßnahme geben, die Sache wird vor das Jugendgericht kommen.«
Melli bekam runde Augen. »Was für ’ne Maßnahme?«
»Wenn ein Jugendlicher straffällig wird, bekommt er Auflagen. Das sind unter anderem Soziale Stunden, die geleistet werden müssen, Anti-Aggressions-Trainings und Soziale Gruppenarbeit. Normalerweise sind Jugendliche, je nach Straftat, ein Jahr lang in so ein Programm involviert. Verstößt einer gegen diese Auflagen, kann es auch zur Jugendhaft kommen.«
Autsch, dachte Melli, das hatten sich die Michelin-Männchen bestimmt nicht so gedacht. Obwohl, wenn Kristin und Nadine schon einmal etwas angestellt hatten, dann hatte man sie doch bestimmt schon vorgewarnt. Vielleicht waren sie noch doofer, als sie gedacht hatte.
»Ich werde dich unter diesen Umständen in eine Kampfsportschule stecken«, meldete sich ihr Vater wieder zu Wort. »Das nächste Mal kannst du dich wehren, so viel ist sicher. Heutzutage sollte jedes Mädchen in deinem Alter so eine Ausbildung haben. Ich werde mich umhören, was man hier in der Umgebung anbietet.«
»Andi ist im Judo«, überlegte Melli, die den Vorschlag ihres Vaters gut fand, »nur sah das ziemlich langweilig aus. Wenn, dann würde ich lieber richtig kämpfen, so wie bei Kung Fu oder Karate!«
Ihr Vater lächelte, »Ist klar. Nicht, dass ich nicht selbst darauf gekommen wäre. Aber ich bin froh, dass du so geraten bist, auch wenn dein loses und spitziges Mundwerk dich manchmal in Bredouille bringt.«
»Brädulie? Was ist das denn?«
»Bredouille bedeutet, Bedrängnis oder Verlegenheit. Ein französisches Wort, das eigentlich Matsch oder Schlamm bedeutet. Also wenn man in ›Bredouille steckt‹, dann steckt man im Matsch fest. Und in einer Zeit, als man einsam mit einer Kutsche auf unbefestigten Landstraßen unterwegs war, eine schlimme Situation.«
»Aha, so etwas lernen wir in Französisch natürlich nicht. Wäre doch auch mal spannend, alle Fremdwörter, die wir Deutschen nutzen, zu zerlegen, so wie du das gerade gemacht hast.«
Anita Großmann brachte den Joghurt, für jeden eine Müslischale voll. Die drei saßen behaglich in ihrem Wohnzimmer und aßen genüsslich. Prompt klingelte das Telefon. »Es wäre ja auch zu schön ..«, murmelte Melli’s Mutter. Sie lief zum Telefon.
»Großmann«, meldete sie sich. »Ja, das stimmt. Warte Andi, ich frage Melli, ob sie mit dir fünf Minuten reden kann. Sie hat noch arge Kopfschmerzen durch die Gehirnerschütterung.« Und zu Melli gewandt, »Melli, magst du ein paar Minuten mit Andi telefonieren?«
»Ja, ein paar Minuten geht das schon«, antwortete Melli. Sie bekam von ihrer Mutter den Hörer in die Hand gedrückt.
»Hi, Andi.«
Andi war richtig außer sich. »Sag mal, stimmt das, was sie beim Bäcker erzählen?« fragte er Melli.
»Wenn du mir verrätst, was für Klatsch gerade verbreitet wird und was du ganz speziell meinst, kann ich dir diese Frage vielleicht beantworten«, antwortete sie.
»Na, dass du einen Unfall hattest und im Krankenhaus bist.«
»Also wenn ich im Krankenhaus wäre, könntest du schlecht über unseren Festanschluss mit mir telefonieren. Unfall ist vielleicht auch etwas zu vage ausgedrückt, ich bin in das Knie von Nadine geraten. Wobei es eine abgekartete Sache der Presswurst-Gang war.«
Andi gab einen undefinierbaren Zischlaut von sich. »Ich habe dir doch gesagt, dass du die nicht zu sehr provozieren sollst. Mit denen ist nicht gut Kirschen essen.«
»Wie wenn es einen Sinn macht, wenn alle kuschen, dann werden die nur noch frecher! Übrigens sind Kristin und Nadine der Polizei schon bekannt. Die machen so etwas nicht zum ersten Mal. Nur dieses Mal hat es wohl ein größeres Nachspiel. Vielleicht findet dann so etwas wie eine Erleuchtung bei denen statt.« Andi glaubte nicht an Wunder, er wollte sich nur nicht zu einer ausführlicheren Diskussion mit Melli einlassen. Ihre Mutter hatte etwas von Gehirnerschütterung gesagt.
»Warst du denn wirklich im Krankenhaus?« fragte er Melli.
»Ja, mit Krankenwagen und Tatütataa, so wie es sich gehört. Gehirnerschütterung stimmt, deswegen muss ich viel herumliegen, aber wenigstens hatte ich keine inneren Blutungen.«
Andi war ehrlich geschockt. »Das sind echt brutale Assi-Weiber. Bin gespannt, ob die nicht von der Schule fliegen. Aber jetzt lass ich dich besser in Ruhe. Ist es o. k., wenn ich dich Montag nach der Schule besuche?«
»Ja, klar. Ich hoffe, dass es meinem Kopf dann etwas bessergeht.«
»Bei dem Kopf kann das schwierig werden«, feixte Andi.
Melli lächelte. »Ich werde schön brav sein, dann müsste das schon funktionieren. Ciao dann.«
Melli legte auf. Andi hatte sich anscheinend von alleine wieder eingekriegt. Trotzdem wollte sie mit ihm über den Eklat in der Schule reden.
Ihre Mum schaute sie interessiert an, aber Melli war jetzt zu erschlagen, um ihr das Gespräch zu erklären. Sie wollte auch ihren Joghurt nicht mehr aufessen. Ihr Vater schaute sie an und fragte sie, ob sie nicht nach oben in ihr Bett liegen wolle. Melli nickte mit dem Kopf. Schlafen war das, was sie jetzt wollte. Irgendwie hatte sie das Ganze doch sehr mitgenommen. Oder waren es die Medikamente, die sie so ausknockten?
Im Bett konnte sie dann doch nicht schlafen. Sie machte sich Gedanken über die Presswurst-Gang. Ob Kristin und Nadine tatsächlich von der Schule flogen? Es war ja nicht in der Schulzeit passiert. Allerdings hätten sie Mittagsunterricht gehabt. Vielleicht waren sie nach der fiesen Aktion wieder in die Schule gegangen. In der Mittagspause musste man nicht auf dem Schulgelände bleiben. Melli war gespannt, was dabei herauskam. Sicher war, dass sie nicht kuschen würde. Deswegen fand sie die Idee ihres Vaters toll, einen Kampfsport zu lernen. Mit diesen Gedanken döste Melli dann doch noch ein.
Sie wachte erst am nächsten Morgen wieder auf. Was für ein Tag war heute? Es war ruhig im Haus. Ihr Wecker zeigte 7.24 Uhr. Es war Sonntag, klar. Sonst würde Mum schon Krach machen. Melli bewegte sich und stöhnte. Ihr Kopf tat wieder weh. Schlagartig war die Erinnerung wieder da. Sie versuchte, so still wie möglich da zu liegen, damit das Schädelbrummen im Rahmen blieb. Leider nutzte das nichts. Einmal bewegt und schon war’s vorbei. Da sie auf die Toilette musste, stand sie auf und ging in das Bad. Aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern drangen leise, aber unverkennbare Laute. Ihre Eltern hatten Sex. Schön, dass wenigstens jemand in diesem Haus Spaß hat, dachte sie etwas zynisch. Klar, Melli war froh, dass ihre Eltern sich immer noch liebten und offensichtlich auch immer noch Freude daran hatten, miteinander zu schlafen. Das konnte sie sich bei manch anderem Ehepaar gar nicht vorstellen. Die gingen auch im Alltag nicht so liebevoll miteinander um. Irgendwie ausgelutscht, die Beziehung, dachte sie dann. Ihre Eltern waren Gott sei Dank anders. Vielleicht lag es daran, dass ihr Vater so oft weg war. Mum freute sich immer, wenn er wieder kam, gleichzeitig genoss sie aber auch die Freiheit, ihren Tag so zu gestalten, wie sie wollte, wenn er geschäftlich unterwegs war. Ihr Vater war ein Familienmensch, der seine zwei Hühner, wie er sie nannte, über alles liebte. Als Melli zum ersten Mal ähnliche Laute aus dem Schlafzimmer hörte, dachte sie, ihre Mutter habe einen Albtraum und wollte ihr helfen. So platzte sie mitten in das Liebesspiel ihrer Eltern, was zum Einen ziemlich peinlich gewesen war, auf der anderen Seite hatte sie jetzt eine ziemlich realistische Vorstellung davon, wie Babies zustande kamen. Damals war sie 11 Jahre alt gewesen. Ihre Eltern hatten sich voneinander gelöst und sie ins Schlafzimmer gebeten. Aus dem Coitus interruptus wurde ein Kissen-Sit-in gemacht und ihre Eltern hatten ihr ganz toll erklärt, warum sie gerne miteinander schliefen, wie schön das für Mann und Frau sein konnte und dass Melli sich nicht sorgen musste, wenn solche Geräusche zu hören waren.
»Und wenn du wirklich einen Albtraum hast?«, hatte Melli gefragt.
»Wenn Papa nicht da ist, dann kommst du herein. Ansonsten ist er dafür verantwortlich, wenn ich so laut bin«, hatte ihre Mum schelmisch geschmunzelt.
»Dafür übernehme ich gerne die Verantwortung!« war von Melli’s Vater zurückgekommen.
Als Melli an diesen Sonntagmorgen zurück dachte, musste sie grinsen. Damals war sie ja auch noch klein gewesen. Sie ging in die Küche und holte sich ein Schüsselchen Joghurt, ein Glas Wasser und Kopfwehtabletten. So bewaffnet schlich sie wieder in ihr Zimmer, wo sie es sich in ihrem Bett gemütlich machte. Allerdings stellte sie fest, dass es ziemlich langweilig war, wenn man so gar nichts machen konnte. Sie hatte versucht zu lesen, was heftige Kopfschmerzen zur Folge hatte. Fernsehen mochte sie nicht. Also lag sie im Bett und wartete, dass die Stunden herumgingen. Ihre Eltern standen recht spät auf, aber dann versuchten sie Melli irgendwie zu unterhalten. Ihr Vater kam auf die Idee, ›Mensch ärgere dich nicht‹ zu spielen.
»Da musst du nicht viel dabei denken, und kannst im Bett liegen bleiben«, meinte er. So brachten sie den Tag herum. Melli’s Vater fuhr am Montag Morgen wieder weg, aber nicht ohne seine zwei Frauen daran zu erinnern, alle Kampfsportschulen anzurufen und die Konditionen zu erfragen. Sobald Melli wieder auf dem Damm war, wollte er sie in einer anmelden.
Melli’s Mum hatte sich die ganze Woche frei genommen, da sie Melli nicht alleine lassen wollte. Außerdem stand an diesem Morgen ein Gespräch mit der Schulleitung an. Anita Großmann machte der Schulsekretärin am Telefon klar, dass sie so schnell wie möglich ein Gespräch mit der Direktorin und der Klassenlehrerin wollte. Sie berichtete den Vorfall vom Freitag knapp und entschuldigte Melli für die nächsten zwei Wochen. Nach einer Stunde rief Frau Dr. Schmidt zurück und Anita Großmann setzte sich zu einem längeren Gespräch in ihr Büro. Danach zog sie sich um. Von oben bis unten gestylt kam sie zu Melli, die es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatte und erzählte ihr von dem Gespräch mit der Schulleiterin.
»Frau Dr. Schmidt möchte sofort ein Treffen, da deine Klassenlehrerin in der nächsten Stunde eine Leerstunde hat. Hast du alles, was du brauchst? Es wird bestimmt eine Stunde dauern, bis ich wieder zurück bin.«
»Mum, ich bin zwar nicht gerade fit, aber deswegen auch nicht zum Kleinkind mutiert. Klar kannst du gehen. Du hättest auch zur Arbeit gehen können. Ich kann hier auch alleine herum hängen. Es muss dir ja nicht mitlangweilig sein.«
Anita Großmann lächelte ihre Tochter an. »Da ich dich bedienen und verwöhnen darf und im Haus herumwerkeln kann, wird es mir wohl kaum langweilig werden. Tschüss, meine Große.«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ das Haus.
Während Melli wirklich gelangweilt auf dem Sofa lag, saß Anita Großmann mit den beiden Lehrerinnen zusammen und berichtete, was passiert war. Den Befund des Krankenhauses hatte sie bei sich.
Fr. Dr. Schmidt erkundigte sich bei Frau Schildknecht, ob es schon Vorfälle mit den Mädchen gegeben hätte, die darauf hingewiesen hätten, dass es zu so einer Gewalttat hatte kommen können. Frau Schildknecht nickte.
»Ja, im Sportunterricht kam es schon zu Zwischenfällen. Beim Handball gab es massive Fouls an Melissa Großmann von den Mädchen, die jetzt auch am Busbahnhof dabei waren. Ein Foul war so grenzwertig, dass Frau Sterk ein Gewaltverfahren anmeldete. Kristin Dineidis hatte beim Spiel ihren Ellenbogen so in Melissa’s Magen gestoßen, dass diese umfiel. Melissa ist danach vom restlichen Unterricht befreit und nach Hause geschickt worden. Kristin Dineidis hatte die Auflage, sich bei Ihnen zu melden.« Die Rektorin sah Frau Sterk sinnierend an. »Jetzt erinnere ich mich. Ich habe den Termin für diesen Fall in diese Woche gelegt.« Zu Anita Großmann gewandt sagte sie erklärend, »Die ersten Tage, wenn die Schule beginnt, bin ich so mit der Koordination im Haus beschäftigt, dass ich kaum Zeit für etwas anderes habe. Dass die Sache derart eskalieren konnte, ist furchtbar und inakzeptabel! Da geht offenbar eine sehr große Gewaltbereitschaft von dieser Gruppe aus.« Anita Großmann berichtete, was die Polizei ihnen erzählt hatte.
»Diese Kristin und auch die andere, wie hieß sie noch gleich ... Nadine, ja genau, sind der Polizei bekannt, da sie schon einmal wegen Körperverletzung angezeigt worden waren. Da sie damals aber beide unter 16 Jahre alt waren, blieb es bei einer Ermahnung. Dieses Mal wird es nicht so leicht für die beiden sein, da wir eine Privat-Anzeige wegen Körperverletzung gemacht haben. Mein Mann und ich werden dafür sorgen, dass die beiden es sich überlegen, ob sie noch einmal einen anderen Menschen so misshandeln!«
Frau Dr. Schmidt nickte.
»Das ist nachvollziehbar. Ich muss überprüfen, inwieweit ich einen Schulausschluss für beide Schülerinnen erwirken kann. Da die Sache am Bahnhof nicht während der Schulzeit und außerhalb des Schulgeländes passiert ist, sind mir da eventuell die Hände gebunden. Für das Foul im Sportunterricht kann ich maximal ein paar Sozialstunden innerhalb der Schule abverlangen. Es ist mir klar, dass sie die Schülerinnen bestraft sehen wollen, das ist, denke ich, nur auf dem Weg möglich, den Sie mit der Anzeige eingeschlagen haben. Ich werde mich trotzdem kundig machen, inwieweit die Schule ebenfalls Stellung beziehen und auf diesen Vorfall angemessen reagieren kann.« Nachdem geklärt war, dass Melli für mindestens zwei Wochen nicht mehr zur Schule kommen konnte, verabschiedete sich Anita Großmann. Sehr viel erreicht habe ich ja nicht, dachte sie, als sie über den Schulhof zu ihrem Auto lief.