Читать книгу Achterbahn der Hormone - Gabriele Berchter-Bohl - Страница 6
II.
ОглавлениеEr fing gar nicht so schlecht an, der nächste Tag. Sie saß im Bus neben Andi, hatte ihre Schulsachen auf die Reihe gebracht, und das Wetter bemühte sich auch, ihre Laune auf Vordermann zu bringen. Sonnenschein pur. Keine Wolke am blauen Himmel. Melli hatte sich eine verwaschene Jeans, Ballerinas und ein Long-shirt mit Gürtel angezogen. Ihre langen Haare hatte sie offen gelassen, für den Fall, dass sie wieder ein Versteck benötigte.
Als sie ins Klassenzimmer kam, saß Tassilo schon im Klassenzimmer. Er hatte sich heute auf den Platz direkt neben Melli gesetzt.
»Hi, ist doch o. k., wenn ich dir etwas näher komme?«, grinste er sie an.
Melli versuchte souverän rüberzukommen, was aber nicht richtig klappte.
»Ist mir Latte, ist ja dein Tisch«, antwortete sie, während ihr Herz wieder anfing, zu stolpern.
»Wow, bist du ein Morgenmuffel oder einfach sozial unkompetent?«. Tassilo schaute sie offen an.
Melli wusste auch nicht, was in sie gefahren war. Das war nicht nett von ihr gewesen. Aber irgendwie war sie wieder völlig blockiert, sodass ihr nichts einfiel, was die Situation verbessert hätte. Also setzte sie sich auf ihren Stuhl und drehte sich zu Andi. Dieser schaute sie auch etwas ratlos an. Gnädigerweise ging der Unterricht gleich los. Ihre Klassenlehrerin hatte mit ihnen die ersten zwei Stunden: Mathe. Meli war sehr erstaunt, dass Tassilo richtig gut war. Er beteiligte sich am Unterricht, was Melli nach der gestrigen Vorstellung gar nicht erwartet hatte. Die Michelin-Männchen-Fraktion war mehr an ihren eigenen Gesprächen interessiert, sodass Frau Schildknecht sie mehrfach ermahnte.
Dumm wie 500 Meter Feldweg bei Nacht, dachte Melli, als Frau Schildknecht eine einfache Frage an ein Mädchen der Presswurst-Gang richtete und diese sie nicht beantworten konnte. Frau Schildknecht rief Melli auf. Mathe war nicht gerade ihr Lieblingsfach, aber auf eine zwei hatte sie es immer geschafft. So war es kein Problem, die Frage richtig zu beantworten.
»Der Kaktus kann sogar richtig rechnen«, spöttelte Tassilo neben ihr.
»Halt die Klappe«, zischte Melli.
»Gibt es Probleme?«, wandte sich Frau Schildknecht ihr zu.
»Äh, nein«, stotterte Melli und wechselte schon die Gesichtsfarbe.
So ein Idiot. Mit flammend rotem Gesicht kam sie zu der Auffassung, dass sie Tassilo gar nicht leiden konnte und sie deswegen so auf ihn reagierte.
Aus der hinteren Reihe wurden Wörter wie ›Strebertussie‹ und ähnliches nach vorne gezischt. Melli ignorierte das. Sie wusste nicht, was sie von Tassilo halten sollte. Hatte er sich näher zu ihr gesetzt, damit er sie gezielter provozieren konnte? Es sah ganz danach aus. Warum reagierte sie nur so empfindlich auf ihn? Vielleicht hatte er heute morgen ja nett sein wollen. Aber sie hatte ihn ja gleich anfahren müssen.
Irgendwie gingen die Stunden bis zur großen Pause sehr schleppend vorbei.
Andi verabschiedete sich beim Pausenklingeln von ihr mit den Worten, »Jonas hat mehrere Teiche innerhalb des Schulgeländes entdeckt, die wollen wir sichten. Mal schauen, was wir in ihnen entdecken können, bis nachher.«
Toll, das wird wohl ab jetzt immer so sein, dachte Melli enttäuscht. Sie nahm sich ihren Riegel Marke Fitness, von Mum gesponsert und einen Apfel aus der Schultasche und schlenderte langsam auf den Schulhof. Ihre Schule war eines von vier Schulgebäuden, die einen parkähnlichen Innenhof begrenzten. Dieser Innenhof war ungefähr zwei Hektar groß, zumindest wurde dies auf der Internetseite ihrer Schule behauptet. Man konnte auf den Wegen um mehrere Biotope laufen. An den Wegen standen in regelmäßigen Abständen Parkbänke, die heute schon alle von Schülern besetzt waren. Melli war es schleierhaft, warum man sich nach drei Stunden sitzen gleich wieder hinsetzen musste. Mal schauen, ob sie es schaffte, einmal um den ersten Teich zu laufen. Für mehr war wohl keine Zeit. Obwohl der Park sehr groß war, musste man aufpassen, dass man nicht mit jemandem zusammenrempelte. Klar, vier große Schulen, da waren auch viele Schüler unterwegs. Von Ferne hörte sie ein dünnes Stimmchen rufen.
»Melli«, und gleich nochmal, »Melli, warte.«
Melli drehte sich um und sah ein kleines Mädchen hinter sich her laufen. Die Größe täuschte. Uta war schon 18 Jahre alt, aber irgendwie hatte sie aufgehört zu wachsen und war gerade mal 1,50 Meter groß. Melli nannte sie ›laufender Meter‹, was nicht böse gemeint war. Immerhin waren ihre Mütter befreundet und sie kannten sich von kleinauf.
»Hi Uta«, sagte Melli und dachte, jetzt wird es nichts mehr mit dem Laufen. Schade.
»Na, gefällt es dir hier?«, fragte Uta.
»Die Pause lässt sich gut aushalten, aber der Rest ist noch etwas gewöhnungsbedürftig«, meinte Melli. »Wie sind die anderen in deiner Klasse?«
»Hatte noch keine Zeit das heraus zu kriegen«, antwortete Melli
»Abwarten und Tee trinken. Viel Zeit für irgendwelche Aktivitäten in der Freizeit hat man hier eh nicht«, meinte Uta, »die bunkern einen mit Stoff zu, Hausaufgaben, dass man bis in die Nacht dran sitzt und danach habe ich ehrlich gesagt auch keinen Bock mehr, mich mit irgendjemanden zu treffen. Abgesehen davon schreiben wir jede Woche mindestens drei Tests. Da bleibt auch keine Zeit für etwas anderes. Ich habe schon fast jede Freizeitaktivität aufgegeben. Hoffentlich wird das in diesem Schuljahr besser. Wenigstens haben wir nicht jeden Tag Mittagsschule! Aber toll wäre es schon, wenn wir ab und zu etwas unternehmen könnten. Was denkst du? Wir könnten ja mal ins Kino gehen oder zum Schwimmen, ja? Ich rede mal mit meiner Mutter, dann können wir uns doch mal zusammen telefonieren?«
Melli war von diesem Non-Stop-Text erschlagen, wie immer wenn sie auf Uta traf. Sie mochte Uta schon, nur wenn diese einmal ein Thema gefunden hatte, musste man den ›Notaus-Knopf‹ suchen. Uta hörte einfach nicht mehr auf, zu reden. Es war der Schulgong, der dafür sorgte, dass Uta ihren Redefluss beendete und die beiden Mädchen einen Zahn zulegten, um rechtzeitig auf ihrem Platz zu sein. Denn wer nicht rechtzeitig im Klassenzimmer war, musste am nächsten Tag in der Pause drinnen bleiben und Aufräumarbeiten erledigen. Dazu gehörte im äußersten Fall auch das Putzen von Fenstern! Es war klar, dass die gesamte Klasse pünktlich im Klassenzimmer war, als Herr Fischer zur Bio-Chemie-Stunde einmarschierte. Er erklärte, dass sie das erste Halbjahr Chemie hatten und im zweiten Biologie. Folglich hatten sie also nur die Chemie-Bücher mitzubringen und natürlich ihr Heft dazu.
Herr Fischer sah richtig witzig aus: Man nehme einen Gartenzwerg, stecke ihn in einen grauen Anzug und wische ihm die roten Wangen ab, dann hatte man Herr Fischer. O. k., er war natürlich auch größer. Dieser Gedanke brachte Melli zum Grinsen. Ausgerechnet sah Herr Fischer sie in diesem Moment an und sagte: »Wenn Sie solche Freude an Chemie entwickeln, dass ich Ihnen damit ein Lächeln aufs Gesicht zaubern kann, dann sind Sie doch gerne bereit, mir zu erzählen, mit welchem Thema Sie sich als letztes im Fach Chemie beschäftigt hatten?«
Super! Das hatte sie toll hin bekommen! Was hatte sie bloß zuletzt in Chemie gemacht?
»Also, ich glaube, das letzte Thema war die Berechnung der Molmasse aus der Summenformel.«
»Sehr gut«, strahlte Herr Fischer, »hatten Sie den Leistungskurs in Chemie belegt?«
»Ja«, antwortete Melli
»Dann wird dieses Jahr vieles für Sie Wiederholung sein, trotzdem möchte ich Sie bitten, dem Unterricht aufmerksam zu folgen!«
Melli war froh, aus dieser Nummer herausgekommen zu sein, denn schon wandte sich Herr Fischer anderen Schülern zu und fragte auch diese nach ihren letzten Themen in Chemie. Wie üblich kamen aus der hinteren Reihe bösartige Kommentare zu allem, was gesagt wurde. Melli fragte sich, warum bis jetzt noch kein einziger Lehrer auf diese Boshaftigkeiten reagierte. Auf einmal spürte sie, dass sie beobachtet wurde und drehte ihren Blick in Richtung Tassilo. Dieser betrachtete sie sehr aufmerksam. Melli konnte nicht verhindern, dass sich schon wieder ihr Gesicht rot einfärbte, als ihre Blicke sich trafen.
Tassilo lächelte ihr zu und raunte, »Respekt, Leistungskurs Chemie, da kann ich mich bei Unklarheiten an dich wenden!«
Melli nickte kaum merklich und war sofort wieder out of order. Was war nur los? Sie war doch sonst nie um eine Antwort verlegen! Klar, wenn dieser Kerl lächelte, sah er umwerfend aus! Und irgend etwas war in seinem Blick gewesen, so etwas wie Wärme. Wie wenn er sie mit den Augen streicheln würde! Jetzt flipp nicht aus, schimpfte sie mit sich. Was du wieder alles hineininterpretierst! Krieg dich wieder ein! Vielleicht wollte Tassilo nur seinen blöden Text in Mathe wieder gutmachen. Nach dieser inneren Ansprache, bemühte sie sich, irgendwie dem Unterricht zu folgen, was keine leichte Aufgabe war, denn den Stoff, den Herr Fischer behandelte, war für sie uralt. Und Tassilo auf dem Nebenplatz viel zu nah.
In der nächsten Pause drehte sich Tassilo zu ihr, während er die Bücher für die nächste Stunde herausholte.
»Du bist die Erste, die ich kenne, der Chemie ernsthaft Spaß zu machen scheint! Wie kommt das denn?«, fragte er freundlich. Ausnahmsweise war Melli in der Lage, eine normale Antwort zu geben.
»Mein Vater ist Bio-Technologe, er hat Bio und Chemie studiert und in beiden Fächern eine Doktorarbeit geschrieben. Ich habe Chemie quasi mit den Genen aufgenommen!«
»Wow, in dem Fall bist du auch in Bio gut drauf.«
»Ja, schon, bis jetzt jedenfalls.«
In diesem Moment wurde ihre erste wirklich freundliche Unterhaltung rüde unterbrochen, da ihre Englischlehrerin hereinkam und flötete »How do you do? Please sit down, so we can start with the English lessons!«
Oweia, wie ist die denn drauf, fragte sich Melli. Ihre Englischlehrerin hatte einen Traum von einem gelben Strickkleid an, gelbe Seidenstrumpfhosen und gelbe Schuhe! Ihre grauen Mini-Locken waren eindeutig Opfer von Dauerwellenmittel und zu kleinen Wicklern. Ihre Augen wurden durch eine überdimensionierte Brille im Stil der Boogie-Woogie Ära in den 60ern verglast. Diese war nicht gelb sondern grau, wie ihre Löckchen.
»My name is Mrs. Beetle, what’s your name?«
Melli war völlig überfordert. Diese Klamotten, die Brille und dann noch das Geflöte, sie musste sich zusammenreißen, um nicht loszulachen. Auch Tassilo neben ihr gab einen Laut, der nach Verzweiflung klang, von sich. Sie sah belustigt zu ihm hinüber. Er grinste sie an und verdrehte gespielt verzweifelt seine Augen. Melli kicherte. Die ersten Schüler stellten sich vor. Mrs. Beetle verlangte, dass die deutschen Namen, soweit möglich, englisch übersetzt wurde. Dann heißt die Gute wohl Frau Käfer, das ist ja mal witzig, dachte Melli. Sie überlegte sich ihre Antwort, da sie gleich mit ihrer Vorstellung an die Reihe kam. Das hörte sich ja beknackt an, hallo, my name is Melissa Bigman, na super. Und schon wandte sich Mrs. Beetle an sie. Melli ließ ihren Satz los. Wie erwartet ging ein Kichern durch die Reihen. Mrs. Beetle schien fast außer sich vor Freude, »Oh that’s fine, wunderfull, very special, thank you Melissa!«
Die Presswurst-Gang lachte lauthals und gab blöde Kommentare zu Melissa’s Vorstellung.
»Wo ist denn die Big?«
»Die ist vorne flach und hinten eben!«
»Die hat big was an der Klatsche.«
Mrs. Beetle wurde ärgerlich, bekam die boshaften Mädchen aber kaum gebremst. Die Presswurst-Gang bekommt ihr Fett schon noch ab, schwor sich Melli, damit konnten sie ganz sicher rechnen! Gegen Ende der Stunde ging ihr die gezierte Flöterei ihrer Englisch-Lehrerin langsam auf die Nerven. Wie viele Englischstunden hatten sie in der Woche? Mindesten sechs, überlegte sie. So ein Mist! Der Gong erlöste sie aus ihren trüben Gedanken und von Mrs. Beetle.
Tassilo grinste sie an, »Miss Big, das passt zu dir ... bist ja grad nicht klein geraten.«
Mit diesem Satz erwischte er Melli auf dem völlig falschen Fuß. Sie war gereizt wie eine Viper und dann noch so ein blöder Spruch! Wenn er sich gemeinsam mit der Presswurst Gang über sie lustig machen wollte, nur zu! Aber dann musste er auch das Echo vertragen!
»Ach halt die Klappe!«, fauchte Melli ihn an. »Kannst dich ja zu der Presswurst-Gang bewegen, die sind alle kleiner ausgefallen, nicht nur was die Länge angeht! Aber das machen sie in der Breite wieder wett!« Die Clique waren in diesem Moment unterwegs zu Tassilo und bekamen den Text quasi aus erster Hand serviert! Sofort keiften sie Melli an.
»Blöde Zicke, kein Arsch und keine Oberweite, was soll ein Kerl an dir denn toll finden?«
»Wahrscheinlich ihren IQ.«
»Wer will denn so ’ne Bohnenstange?«
O. k., ab jetzt hatte sie mit diesem Haufen blöder Zicken ganz offen Krieg. Aber sie wollte sie ja auch nicht zu ihren Freundinnen machen. Ihre blöden Sprüche berührten Melli nicht. Sie zog eine Augenbraue hoch, machte ein betont gelangweiltes Gesicht, darin war sie sehr gut, und sagte ganz ruhig: »Wer nichts in der Birne hat, muss sich einen fetten Arsch anfressen, damit wenigstens etwas herausragend ist.«
Sie drehte dem Haufen den Rücken zu und nahm Kurs auf Andi und seinen Lurchi-Freund, die am gegenüberliegenden Fenster standen und sich unterhielten. Lieber etwas über Kröten hören, als sich mit so einem Volk abgeben, dachte sie sich. Wie sie wegging, hörte sie nur noch ein halblautes »Autsch«, das offensichtlich von Tassilo stammte. Aber sie drehte sich nicht nach ihm um. Melli war erleichtert, dass sie nun doch noch in Tassilo’s Gegenwart ihre Sprache wieder gefunden hatte. Und ab jetzt konnte er ihr am Abend begegnen! Was bildete der sich denn ein? So schnell ließ sich Melli von ihm bestimmt nicht mehr um den Finger wickeln!
Die letzte Stunde hatte begonnen und so lernte die Klasse ihren Lieblingslehrer kennen. Es war von Anfang an klar, dass Herr Volkmann, vielleicht weil er noch ziemlich jung war, der sympathischste Lehrer bis jetzt war. Er unterrichtete zwar Politik und Wirtschaft, doch er machte diesen trockenen Stoff durch seine Art wirklich unterhaltsam. Als der Gong das Ende des Vormittagunterrichts ankündigte, war Melli wirklich überrascht. So schnell war bisher noch keine Stunde vergangen.
Zur Mittagspause zog Andi wieder mit Jonas ab, was Melli ganz schön wurmte. Sie packte ihre Tasche und ging hinaus auf den Schulhof. Nachmittags hatte sie noch zwei Stunden Sport, das war auszuhalten. Die vier Nachmittagsstunden Bio-Chemie am Mittwoch waren sicher schlimmer. Sie steuerte auf eine leere Bank zu, damit sie in Ruhe ihr Mittagessen ausbreiten konnte. Aus ihrer Tasche holte sie sich einen Joghurt, ein Eier-Remoulade-Brot und zum Nachtisch einen Schoko-Bananen-Riegel. Sie war gerade mit ihrem Joghurt fertig, da tauchte Tassilo auf. Es sah fast aus, als habe er sie gesucht. Bild dir nichts ein, dachte Melli. Der entschuldigt sich ganz bestimmt nicht für seine blöden Sprüche.
»Ist da noch ein Platz frei?«
»Sieht so aus«, brummte Melli.
Jetzt ging das mit dem Bauch wieder los. Das war doch zum aus der Haut fahren. Sie wollte auf den Typ wütend sein, ihn zurechtstutzen. Aber ihr Magen fuhr derart mit ihr Achterbahn, dass sie es nicht schaffte, ihn cool abzukanzeln!
Tassilo setzte sich neben sie auf die Bank. Melli packte scheinbar unbeteiligt ihr Brot aus. Sie wollte gerade hinein beißen, als ein Stück hartgekochtes Ei mit Remoulade auf ihre Jeans fiel.
»Ist klar, so ein Mist«, schimpfte Melli. Tassilo lachte leise vor sich hin.
»Nicht einfach, so etwas unfallfrei zu essen, wohl genauso schwierig, wie ein Doppel-Wopper. Da fällt mir auch prinzipiell irgendetwas hinunter.« Wollte der sich wieder einschleimen? Melli, die ihr Brot wieder in die Vesperbox gelegt hatte und mit einem Taschentuch die Remoulade von der Hose entfernte, murmelte, »Ist ja nicht schlimm, dazu gibt es Waschmaschinen.«
Das leise Lachen hatte ihr eine Gänsehaut beschert, über die sie sich schon wieder aufregte. Was war an dem Typ nur dran, dass sie so austickte? Sie schien völlig die Kontrolle über sich zu verlieren, wenn er in ihrer Nähe war und das fand Melli gar nicht gut. Es fühlte sich an, wie der bevorstehende Weltuntergang!
Eine Weile sagte keiner etwas. Melli beschäftigte sich mit ihrem Brot, obwohl ihr Bauch Karussel fuhr und Tassilo betrachtete den Park. Ausserdem wollte es Melli ihm nicht zu leicht machen. Erst nervte er sie und wenn sie dann sauer war, kam er auf die freundliche Tour, um gleich wieder einen blöden Spruch los zu werden. Da hatte sie null Bock drauf!
Nach einer Weile fragte er, »Sag mal, bist du immer so heavy drauf, ich meine, so wie vorhin?«
Melli war klar, dass er die Szene mit der Presswurst-Gang meinte. Sie schluckte ihren Bissen hinunter und erwiderte, »Nur wenn ich von dummen und ignoranten Leuten umgeben bin.«
»Vielleicht sind die gar nicht so dumm?«
»Natürlich, die sind dümmer wie 500 Meter Feldweg! Dazu kommt ihre soziale Inkompetenz. Das ist eine echt üble Kombi! Jedenfalls lohnt es sich nicht, sich überhaupt einen Namen zu merken. Die sind bis Ende Schuljahr sowieso weg.«
Tassilo sah sie an.
»Du kommst ganz schön arrogant rüber!«
Melli schaute ihm ins Gesicht.
»Nein, nur ehrlich.«
Er grinste.
»So kann man das natürlich auch nennen. Aber man muss ja nicht unbedingt alles aussprechen.«
»Bist du gekommen, um für diese Hühner ein gutes Wort einzulegen? Das kannst du dir sparen! Die sollen mich in Ruhe lassen und im Unterricht ihre Klappe halten, dann ist gut. Und jeder, der mit denen gemeinsame Sache macht, bekommt den gleichen Text!« Melli fauchte Tassilo böse an.
»Du bist schneller auf 180, als man schauen kann.«
Tassilo war aufgestanden.
»Aber es ist dein Kleinkrieg, viel Spaß daran.«
Und schon war er fort. Melli verwünschte für einen kurzen Augenblick ihre spitze Zunge. Sie konnte sich einfach nicht bremsen, wenn ihr etwas gegen den Strich ging. Aber diese Gewitterziegen waren kein bisschen nett zu anderen. Außer der andere war ein Kerl, auf den sie abfuhren. Melli wuchs da echt der Kamm und konnte einfach nicht die Klappe halten ... eigentlich wollte sie das auch gar nicht. Sie hatte schon früh gelernt, solche Assi’s verbal in Schach zu halten. Seit Tassilo aufgetaucht war, fühlte sich Melli allerdings persönlich angegriffen. Und das war ihr bis jetzt noch nie passiert. Bisher hatte sie solches Dummvolk einfach ihr Gift versprühen lassen und dann gezielt zurückgeschlagen. Das ging ihr sonst immer am Allerwertesten vorbei. Aber Tassilo brachte sie aus dem Gleichgewicht, falls sie so etwas überhaupt besaß! Und das gefiel ihr gar nicht! So in Gedanken versunken lief sie an die Sporthalle.
Für den Sportunterricht war die Klasse getrennt. Jungen und Mädchen hatten ihre eigenen Sportlehrer in verschiedenen Hallen. Frau Sterk war eine sehr junge Lehrerin. Die ist mindestens eineinhalb Kopf kleiner, als ich, dachte Melli erstaunt. Dazu war die blonde, kleine Frau sehr schlank, fast zierlich. Da bin ich gespannt, ob die sich bei diesen Zicken durchsetzt, dachte Melli, als diese ihnen die Umkleidekabine aufschloß. Melli mochte Sport generell. In Leichtathletik, Volleyball, Handball und Basketball war sie sehr gut, gerade letzteres hätte sie gerne in einer AG gespielt. Aber keine der Schulen, auf denen sie bisher gewesen war, hatte das im Angebot,
Das Umkleiden ging nicht ohne dumme und abwertende Kommentare der Presswurst-Gang ab. Sie lästerten über die Figur von bestimmten Mädchen und lachten sich künstlich halbtot über die Unterwäsche, die diese an hatten. Sie waren dabei so fies, dass Melli die Klappe nicht halten konnte.
»Nur wer von sich selbst ablenken muss, hat es so nötig, über andere ab zu lästern.«
Melli sprach laut und deutlich, sodass man sie nicht überhören konnte!
»Ihr würdet euch die Finger ablecken, wenn ihr nur halbwegs so aussehen würdet, wie die anderen hier! Habt ihr zuhause die Spiegel abgehängt oder seid ihr tatsächlich so verblödet, dass ihr glaubt, dass irgendjemand eure fetten Hintern toll findet?«
Die Mädchen der Presswurst-Gang waren es scheinbar nicht gewohnt von einer Einzelnen attackiert zu werden. Sie waren erst einmal so vor den Kopf geschlagen, dass keine von ihnen eine passende Antwort hatte. Diese Schreckminute nutzte Melli, um mit ein paar anderen in die Turnhalle zu kommen, wo sie von Fr. Sterk schon erwartet wurden.
Langsam trudelten alle ein und die Mädchen aus der Presswurst-Gang musterten Melli mit bösen Blicken, was diese mit ihrem arrogantesten Gesichtsausdruck kommentierte. Sollten sich die sich ruhig aufregen, die würden an ihr zu knabbern haben, dachte sie grimmig. Frau Sterk wollte, dass sich jeder zuerst vorstellte, danach gab es einige Aufwärmübungen. Dann schlug die Lehrerin vor, dass die Mädchen sich in zwei Gruppen aufteilten, um etwas Handball zu spielen. Das ist ja fett cool, dachte Melli. Erste Stunde Sport und ihr Wunschprogramm wurde gespielt. Super!
Eine Viertelstunde später war sie nicht mehr dieser Meinung. Die Presswurst-Gang war komplett in die gegnerische Mannschaft verteilt worden. Kaum war das Spiel angepfiffen, rächte sich diese für jeden Satz, den Melli an sie verteilt hatte. Immer, wenn Melli im Ballbesitz war, wurde sie von einem der Mädchen grob gefoult. Frau Sterk pfiff dann zwar ab und verwarnte die Mädchen nachdrücklich, doch nach zwanzig Minuten rammte ihr Kristin den Ellbogen in den Magen. Frau Sterk brach das Spiel ab, sagte etwas von einem ›Nachspiel‹ und kümmerte sich um die etwas blasse Melli. Nach fünf Minuten schickte Frau Sterk Melli nach draußen, sie solle einfach an die frische Luft gehen oder wenn sie mochte, gleich mit dem nächsten Bus nach Hause fahren. Sie sei für den Rest des Sportunterrichts befreit.
Melli bekam deswegen nicht mit, wie Frau Sterk die Mädchen aus der Presswurst-Gang zusammenfaltete. Sie hätte ihre anfänglichen Überlegungen sofort revidiert. Die Sportlehrerin mochte zwar jung sein, aber das hieß nicht, dass sie sich nicht auf ganzer Linie durchsetzen konnte. Die Fouls wurden hart geahndet und Kristin, die Melli den Haken in den Magen verabreicht hatte, musste sich bei der Rektorin melden. An dieser Schule gab es ein geregeltes Gewaltverfahren und Kristin war mit diesem Vorfall schon mittendrin. Natürlich hatten alle Mädchen der Presswurst-Gang versucht, sich aus der Sache herauszureden, doch da die restliche Klasse berichtete, wie fies es schon beim Umziehen in der Kabine zugegangen war, und Frau Sterk alle Fouls gut beobachtet hatte, gab es keine Ausflüchte.
Als Melli zuhause ankam, war sie noch ganz mitgenommen. Sie hätte sich eigentlich denken können, dass sich diese Kristin und ihre Clique rächen würden. Und die Art und Weise war genau deren Niveau. Das sind alles ganz linke Tüten, dachte sie, aber deswegen würde sie sich sicher nicht einschüchtern lassen.
Mum’s Auto stand nicht vor der Tür. Sie war bestimmt noch in Sachen ›gesunde Ernährung‹ unterwegs. Melli war es recht. Sie ging in das Badezimmer im Erdgeschoss und ließ sich die Badewanne voll laufen. Zitronenmelisse soll beruhigen, ach ja und Cajeput-Öl ist gut bei Bauchschmerzen. Ihre Mum hatte eine große Sammlung von ätherischen Ölen, welche mit einer Art Grundöl, das als Emulgator diente, gemischt wurde. So konnte sich jeder seine Bade-Mischung selbst herstellen, eine sehr tolle Sache. Melli zog sich aus und legte sich langsam in die Badewanne. Schon lustig, dass man von warmem Wasser immer eine Gänsehaut bekam. Was nicht so lustig war – die Kratzer auf ihren Armen von ihrem Kampf mit der Tanne brannten wie Feuer. Sie tupfte ihre Arme mit einem Handtuch ab und nachdem die Kratzer nicht mehr brannten, genoss sie die Ruhe und den exotischen Duft ihres Badewassers – bis die HausTür aufgeschlossen wurde.
»Melli?«
Oh nein, warum durfte sie nicht einfach in Ruhe vor sich hin träumen.
»Bin in der Badewanne.«
Anita Großmann platzte ins Badezimmer
»Bist du krank? Was ist mit dir los?«
Melli erzählte ihrer Mum die halbe Geschichte, also ab den Vorfällen in der Umkleidekabine. Ihre Mum zog die Stirn kraus.
»Kann es sein, dass du diesen Mädchen Anlass gegeben hast, sich so zu benehmen?«
Melli fühlte sich ertappt.
»Nachdem diese doofen Hühner jeden beleidigen und sich ständig über andere lustig machen, habe ich ein paar Sätze gesagt.«
»Na ja, dann ist mir das klar. Ich finde das auch gut, wenn du dich einsetzt, wenn es unfair zugeht, aber paß bitte auf dich auf. Wie viele Mädchen sind in dieser Clique?«
»Sechs: Kristin ist die Schlimmste, die hat mir auch den Ellenbogen in den Bauch gerammt, aber die anderen sind auch furchtbar drauf! Ich habe mir die Namen noch gar nicht alle gemerkt. Eine heißt Nadine, dann ist da noch eine Braunhaarige, die heißt glaube ich Cordelia. Dann wären da noch Anna und Jaylen. Das ist, glaube ich, keine Deutsche. Die ist etwas überpigmentiert.«
»Melli, jetzt rede doch nicht so! Damit provozierst du Reaktionen, die vielleicht nie kämen, würdest du dich etwas weniger bissig artikulieren!«
Super, jetzt bekam sie auch noch einen Vortrag über ›Sprachhygiene‹. Bevor Mum loslegen konnte, sagte Melli stöhnend, »Darf ich jetzt in Ruhe mein Bad nehmen, damit die Bauchschmerzen weggehen?«
Melli’s Mutter warf einen Blick auf ihre Tochter, den diese nicht deuten konnte und verzog sich. Melli überließ sich ihrem Wellness-Bad, während sie zuhörte, wie ihre Mutter in der Küche mit den Töpfen herum klapperte. Heute hatten sie schon richtig viele Hausaufgaben auf. Doch sie hatte ja eine Stunde früher Schulschluss gehabt, sodass vielleicht noch Zeit für Goliat blieb.
Nach einer halben Stunde im Badewasser betrachtete Melli ihre vom Wasser schrumpelig gewordenen Hände und beschloss, sich dem Leben wieder zu stellen. Sie stellte sich vor den angelaufenen Badspiegel und bearbeitete diesen erst einmal mit dem Föhn. So, jetzt konnte sie sich wieder sehen. Das durfte nicht wahr sein: Am Nasenflügel entwickelte sich ein fetter Pickel! Und am Kinn gab es auch schon einen roten Flecken. Ein sicheres Vorzeichen für den nächsten Pickel! Pickel konnte Melli nicht ausstehen. Wer mochte die schon? Die sahen einfach eklig aus und taten auch noch weh! Das nächste Problem mit Pickeln war: Mum ließ nicht zu, dass sie irgendeine Anti-Pickelcreme benutzte. Man darf das nicht unterdrücken, sagte sie, man muss den Prozess unterstützen. Sie durfte dann lediglich homöopathische Mittel nehmen und ja keinen Abdeckstift! Das muss an die frische Luft! Da war ihre Mum eigen. Das Bauchweh war zwar fast weg, aber wenn sie Pickel bekam, war ihre Periode nicht weit, und dann hatte sie wieder Bauchweh. Im Moment schien jeder Tag aus einer Anreihung dunkelgrauer Momente zu bestehen!
Nachdem sie wieder angezogen war, ging Melli zu ihrer Mutter in die Küche. Diese hatte im Wok eine tolle Mischung aus frischem Gemüse zusammen geschnippelt und der Basmatireis duftete so gut, dass Melli’s Magen sofort Meldung machte.
»Mann, habe ich einen Hunger!«, sagte Melli.
»Sind die Bauchschmerzen weggegangen?«, fragte ihre Mutter.
»Sie sind noch nicht ganz weg, aber am Essen können sie mich sicher nicht hindern, dafür kochst du einfach zu gut.«
Ihre Mutter lächelte. Als sie am Tisch saßen, war die Stimmung zwischen ihnen wieder richtig locker. Melli erzählte von ihrem Plan zwischen den Hausaufgaben mit Goliat eine Stunde an die frische Luft zu gehen. Ihre Mutter meinte nur, dass sie sich das so einteilen sollte, wie sie wollte. Sie sei jetzt alt genug, um abschätzen zu können, wie sie ihre Hausaufgaben auf die Reihe bekäme. Nach dem Essen ging Melli an ihren Schreibtisch und ihre Mutter räumte die Küche auf.
»Morgen bist du dran mit Küche aufräumen, ja?«, rief ihre Mutter noch hinter ihr her.
»Ja, Mum«, rief Melli zurück und überlegte, dass sie ja morgen Mittagsschule hatte und sie somit gar nicht in diese Situation kam. Sie grinste vor sich hin. Vielleicht sollte sie ihrer Mum doch bald eine Abschrift des Stundenplans geben!