Читать книгу Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum - Gabriele Plate - Страница 5
Vaters Einfälle
ОглавлениеEddas Vetter, ein Psychiater, den sie viele Jahre später einmal darauf ansprach, erklärte ihr, dass dieser Vater die Verdrängungskunst perfekt beherrsche. Das müsse so sein, sonst könne er die Kriegslasten nicht tragen. Eine schwere Krankheit, die besonders bei den Überlebenden des Krieges seiner Generation sehr verbreitet ist. Auch eine jahrelange Therapie würde, nach so langer Zeit, in den wenigsten Fällen Erfolg haben. Der Kranke, so müsse man ihn wohl nennen, ist oft so schwer traumatisiert, dass er irgendwann, früher oder später, unter totalem Realitätsverlust leide, nicht zuletzt um sich zu schützen. Er hocke in seiner ausgepolsterten Höhle als der einzig Gute und sähe nur noch Feinde und schlechte Menschen, da er selber zu intensiv und lange, schlecht und Feind gewesen sei. Arroganz käme auch noch dazu, weil diese Überlebenden sich unbewusst für unsterblich hielten.
„Es wird leider noch eine Weile dauern bis sie aussterben. Ein wahres Übel der Menschheit, diese Alten, diese Kriegsveteranen.“
Er sah Eddas entsetztes Gesicht und fügte hinzu, diesen Satz nicht als Arzt ausgesprochen zu haben, sondern als direkt Betroffener eines dieser Verrückten in seinem nahen Familienkreis.
Edda erfand ihre Sprache für das Wortlose schon sehr früh, viele Jahre bevor sie an den Waldrand gezogen waren. Sie war noch kein Schulkind gewesen, als ihr der Keuchhusten den Kleinkindspeck raubte. Sie war besorgniserregend dünn geworden und hustete oft noch so stark, dass sie sich erbrach, obwohl die akute Krankheit schon seit Monaten überstanden war. Schon beim ersten Hustenreiz kotzte sie los. Das nervte Vater ungeheuerlich, doch je mehr er befahl mit dem blödsinnigen Keuchen aufzuhören, umso öfter keuchte und kotzte Klein Edda ihm vor die Füße. Dem dringenden Rat des Arztes folgend, schickte man sie nach Bad Kreuznach in ein Kinder Erholungsheim. Edda war knappe Fünf und hatte das Gewicht einer gesunden Dreijährigen. Der Zug war beladen mit ängstlichen Kindern, welche alle ihr Namensschild um den Hals gebunden auf der Brust trugen. Zwei Schwestern vom Roten Kreuz begleiteten diese Fracht. Edda war noch nie von ihrer Familie getrennt gewesen. Sie war eine der Jüngsten im Heim, in dem großen Schlafsaal war sie aber das einzige Kind, dem ein Gitterbett zugewiesen wurde. Sie konnte natürlich hinausklettern, die Seitengitter waren hier nur zum Schutz gegen das Herausfallen gedacht.
Da sie den Esstisch nicht verlassen durfte, bevor ihr Teller Wirsing Eintopf leer gegessen war, wurde sie gleich am ersten Tag der Buhmann. Sie saß stundenlang vor diesem Teller, sprach mit den Fliegen, die vergnüglich an den glibberig weißen Speckwürfelchen saugten, die sie spielerisch um den Tellerrand drapiert hatte. Natürlich gab es zur Strafe keinen Nachtisch für sie, die Kalorienbomben für die Kinderschar. Eddas Gewicht fiel weiter.
Kinder hatten in diesem Haus an Gewicht zuzulegen, es war die oberste Pflicht der Schwestern, darauf zu achten. Die Gewichtszunahme wurde jede Woche dokumentiert. Keine Gewichtsabnahme! Aus diesen Zahlen ergab sich die Notwendigkeit dieses Establishments, sie rechtfertigten die Subventionen.
Alle Kinder aßen freiwillig, nur Edda nicht. Man versuchte sie zu nudeln. Eigentlich aß sie gerne, aber niemals viel, außerdem gab es hier nur Speisen, die sie nicht mochte. Man hielt sie zu zweit fest, und eine dritte Person schaufelte ihr die kalten Speckbröckchen ihres Tellerrandes in den gewaltsam geöffneten Mund. Speck macht fett, das wusste jeder.
Edda schluckte, hustete und kotzte. Nach einigen weiteren Versuchen, die Nahrung gewaltsam einzuverleiben, entschied man, dass sie ungehorsam sei und sich für den beliebten Nudelakt nicht eigne. Ihre Tasse Milch wurde von nun an mit flüssiger Sahne angereichert. Man gab ihr nur noch dick belegte Käsebrote mit viel Butter zu essen und doppelte Portionen Schokoladenpudding. Sie aß, allerdings einsam am Katzentisch, an den die bösen, ungehorsamen Kinder verbannt wurden.
Im Schlafsaal war sie ein willkommenes Spielobjekt geworden. Die älteren Mädchen standen abwechselnd auf, zogen Edda die Bettdecke vom Hintern und versteckten sie, mal auf der Fensterbank, mal unter irgendeinem Bett oder in der hintersten Ecke des großen Raumes. Dann rannten sie zurück in ihre Betten und kicherten ausgelassen. Edda musste aufstehen, über das Gestänge klettern und bäuchlings, langsam daran herabgleiten. Im Dunkeln suchte sie dann ihre Decke, das passierte jede Nacht. Die Kinder wurden dieses Spiel nicht leid, und es gab jedes Mal ein heiteres Toben der nackten Kinderfüße auf poliertem Zementboden.
Bis eines Nachts Schwester Marlies hereinstürmte. Das Neonlicht blitzte auf, und Edda stand als einziges Kind, mit ihrer Decke im Arm, blinzelnd mitten im Saal. Die anderen Kinder stellten sich schlafend. Schwester Marlies war nicht ratlos. Sie holte Mullbandagen und fesselte Eddas Handgelenke an die Gitterstäbe, deckte sie bis zur Nasenspitze zu, löschte das Licht und verließ den Schlafsaal. Bis zum nächsten Morgen lag Edda in ihrem kalten Bett ohne Decke und tränengetränkten Entenfedern im Kopfkissen. Die Zudecke war von den Kindern in die hinterste Ecke des Bettchens geschoben worden. Es war Winter. In diesen Jahren waren auch Kinderheime mit uralten, schlecht entlüfteten Heizkörpern ausgestattet. Edda erkrankte an einer Lungenentzündung. Sie war fünf Wochen in diesem Heim.
Als sie am Bahnhof von ihrer Mutter aus den Händen der Aufsichtsperson befreit wurde, war sie blass und hatte tiefe Schatten unter den weit aufgerissenen Kinderaugen. Sie sprach kein Wort. Hastig griff sie die Hand ihrer besorgten Mutter und krallte sich dort fest, ohne Tränen. Sie beantwortete keine, der mit lieblicher Stimme gestellten Fragen ihrer Mutter. Als sie nach sechs Monaten immer noch nicht sprach, fürchtete man ernstlich um ihren Verstand. Vermutlich hatte das hohe Fieber diesen Schaden angerichtet. Die Einschulung stand bevor, das wurde zu einem Problem. Eine ihrer Schwestern war bereits in der ersten Schulklasse. Edda hatte mit Eifer bei deren Hausaufgaben dabei gesessen und wie im Spiel mitgelernt. Sie konnte inzwischen schreiben und lesen wie ihre Schwester, doch niemand hatte ihre geschriebenen Buchstaben beachtet, niemand hörte sie lesen, sie machte das lautlos, nur mit den Lippenbewegungen. Der Behördenarzt fand das sofort heraus und alle waren erstaunt. Auch ein außergewöhnlich empfindliches Gehör wurde festgestellt. Ein Psychologe wurde zu Rate gezogen, das war damals etwas sehr Außergewöhnliches, aber Eddas Mutter bestand darauf. „Dekadent“, knurrte Vater widerwillig.
Beide Ärzte begegneten sich in Anwesenheit von Edda. „Das Problem ist, Herr Kollege“, sagte der Schularzt und stellte Edda vor, „die Kleine kann nicht sprechen.“
Edda hüpfte von ihrem Stuhl, zog den neuen, netten Doktor, der keinen weißen Kittel trug, zur Seite und flüsterte dem erstaunten Mann ins Ohr: „Sprechen kann sie, will sie aber nicht.“
Dieser bestätigte, dass Edda zwar etwas übersensibel sei, unterernährt und mit zurückgebliebener Egobildung, aber besonders aufnahmewillig und mit erfreulicher Intelligenz gesegnet. Sie könne auf jeden Fall Ostern eingeschult werden.
„Na, was habe ich gesagt“, dröhnte Vater, „meine Kinder brauchen keinen Seelenflicker.“
Vater, war er ein Opfer seines Vaters? Der Lehrer, der Gesellschaft, des Militärs, des Krieges? Wie lange konnte ein Jeder auf der Vergangenheit herumreiten? Besonders auf dem Sattel der Kindheit, der verschlissenen Schuld der Anderen. Und wer kann sich rühmen kein Opfer zu sein! Meistens findet sich schon bei oberflächlichem Graben ein Quäler. Aus der Kindheit muss er sein! Edda hörte den barschen, ungeduldigen Ton ihres Vaters immer noch. „Wenn du noch einmal hustest, gibt es den Arsch voll und ab ins Bett.“
Sie hustete gerne, es ging in ein Bellen über, und der besorgte Arm ihrer Mutter legte sich um sie. Aber sie kotzte nicht mehr. Eine Zank- und Beißaktion mit ihrer Schwester, endete kniend, angebunden am Fuße des Kleiderschranks im Elternschlafzimmer. Beide Kinder sollten unaufhörlich Wau-Wau rufen. Wenn diese Belllaute verstummten und in ein Schluchzen übergegangen waren, erhob sich Vater grinsend aus seinem Sessel im Wohnzimmer. Mit einem Holzkleiderbügel gab es dann einen Klaps auf den Popo. „Wenn sie sich wie die Köter beißen können, sollen sie auch bellen wie die Köter!“ Mutter versuchte sich empört einzumischen. „Das wird so gemacht und damit basta“, schnauzte er. Er war zufrieden über seinen gelungenen Erziehungseinfall und gab ihn später gerne vor seinen Gästen zum Besten. Dann imitierte er eindrucksvoll die schluchzenden Wau-Laute seiner kleinen Töchter, und er lachte herzhaft dazu.
Edda saß geschützt hoch oben in ihrer Buche. Mit Kissen und verbotenen Comics, mit Taschenlampe, Proviant und den Vogelstimmen ganz nahe. Ihre fälligen Schulaufgaben waren in sehr weite Ferne gerückt. Ein großes Loch in der Erde diente auch manchmal als Versteck, abgedeckt mit Verschalungsplatten und lehmiger Erde darüber, auf der das zarte Unkraut einen Teppich gebildet hatte, der diesen Rückzugsort noch unsichtbarer machte. Gefüllt mit Matratze, Farnkraut, Kerzen, Konservendosen und voller Träume. Ihr Irisch Setter liebte dieses feuchte Loch ebenfalls.
Manchmal verlangte es sie danach, über das Geländer der Eisenbahnbrücke einer stillgelegten Bahnlinie zu balancieren, in schwindelerregender Höhe, als sei sie ihr eigener Henker. Dann sollte Vater schon sehen, er würde sie vermissen. Aber sie fiel nicht hinunter.
Die Spiele mit Laub und Moos, mit Pflanzen, Lehm und Fels fühlten sich gut an. Das Material atmete hörbar, sprach mit ihr und antwortete. Sanfte Geborgenheit in der Lärchenschonung, die auf einem einzigen Quadratmeter unendlich weit erscheinende Landschaften der Fantasie bieten konnte. Feinste Grashalme konnten dabei in Bäume verwandelt werden, und zwei nebeneinander liegende Steinbrocken zu einem Gebirgszug. Niemand flog mit.
Mutters, über die Flucht geretteten Anlegelöffel, neunhunderter Sterling Silber, dienten als Minibagger. Das verlangte „den Arsch voll“. Aus Kerzenwachs entstanden unter ihren Händen alle Wesen ihrer Wahl. Lehm und Erde kneten, Wälle bauen, Bäche stauen, das war Edda. Vaters Schuhe waren wieder nicht ordentlich geputzt.„Edda, verdammt noch mal, wie oft soll ich dir noch einbläuen, die Creme schmiert man nicht über den Dreck aufs Leder.“ Die guten „Zwiegenähten“ glänzten nicht wie erwünscht.
„Um sieben bist du zu Hause, keine Widerworte!“ Es konnte sieben sein um Fünf, oder sechs um acht. Um zehn? Nein, um zehn fühlte sie deutlich, es war schon sieben vorbei. „Arsch voll“ und ab ins Bett, kein Abendessen.
Warum sollte sie in den Ferien, in den himmlischen Sommerferien, schon um sieben im Haus sein! Sie schlich scheinbar schuldbewusst aus Vaters Blickfeld, mit hängendem Blick auf ihre Fußspitzen. Hinein in ihr Kinderzimmer und zum Fenster wieder hinaus in die Sommernacht. Barfuß durch den Tau, Kuhfladen und frische Maulwurfhügel zwischen den Zehen. Sie stürmte über die Weiden, mied die Nachtkühe und landete in einem schützenden Heuschober am Wiesenrand. In solchen Einrichtungen lebte es auch des Nachts. Zahlreiches Kleingetier wurde durch Eddas Anwesenheit nicht von seinem Treiben abgehalten. Es raschelte und piepste, sie lag ganz still. Man konnte in diesen Nestern aus duftendem Heu träumen, trotzen, weinen, lachen oder auch verliebt sein. So wie Edda, in den tödlich verunglückten Michael Grzimek, sie weinte um ihn. Sie kannte ihn gar nicht, nur vom Foto aus einem Buch, das sein Vater geschrieben und ihm gewidmet hatte. Dieses Ganzblattfoto hatte sie herausgerissen und versteckt, immer griffbereit. Van Cliburn war in den Hintergrund getreten.
Sie konnte im Heuschober singen und wunderbar schlafen. Außerdem konnte sie den Kopf ein wenig nach draußen legen und ihrem Lieblingsstern zublinzeln, dem winzigen Kleinen, der vielleicht der Größte war. Der über dem zweiten Oberen des „Wagens“ hockte und nur bei wolkenloser Nacht zu erkennen war.
Nur Eddas neuer Hund bemerkte, wenn sie heimlich das Haus verlassen hatte. Er kratzte so lange an der Haustür und winselte, bis Mutter ihn genervt hinaus ließ. „Der Köter geht wildern“, schimpfte Vater, „sie werden ihn erschießen.“
„Er muss nur schnell seine Lusche machen“, flötete Mutter. Der Hund schoss wie der Blitz durch den Türspalt, nahm Eddas Fährte auf und raste davon. Jetzt interessierte ihn kein Reh mehr, kein Kaninchen. Er fand seine Herrin und kuschelte sich zu ihr ins Heu.
Aus heiterem Himmel kamen Schulranzenkontrollen über Edda gepoltert. Sie ekelte sich vor Leberwurst, schon der Geruch ließ sie würgen, das war niemandem im Hause unbekannt. Mindestens zweimal in der Woche aber, steckte das Hausmädchen ihr diese Leberwurststullen in die Schultasche, und ebenso regelmäßig vergaß Edda diese Relikte rechtzeitig dem Hund zu geben. Diese elenden, angeschimmelten Uraltbrote klapperten zu Vaters Füssen. Hefte mit gesammelten Fünfern und seiner Unterschrift, die er nicht geleistet hatte, taten sich zusätzlich vor seinem Blick auf.
Der Stempel für diese Unterschrift wurde in seiner Schreibtischschublade deponiert. Falls Mutter dringend seine Unterschrift benötigte, wenn er gerade unterwegs war, hatte sie die feierliche Erlaubnis ihn zu benutzen. Ein wichtiger Stempel, versteckt, verschlossen. Edda hatte eifrig davon Gebrauch gemacht, verschlossene Schubladen waren kein Grund für sie, nicht an deren Inhalt zu gelangen, falls sie diesen benötigte.
Zuerst kam das Lügen und das Vergehen der Fälschung aufs Tablett, dann der aufgebrochene Schreibtisch, sein Heiligtum. Danach stürmte der Ex-Kriegsgefangene über Edda. Er wurde immer wieder hervorgeholt. In ihrer Fantasie, ein hungriger Geist, der gierig die grüne Patina von ihren vergammelten Stullen kratzte. Den Vortrag über den Hunger, und was das Brot auf dieser Welt bedeute, kannte Edda auswendig. Und wieder lamentierte er sich in Rage. Raus an den Bach, Weidenruten schneiden!
Drei oder vier brachte sie zur Auswahl zurück. Lang genug, kurz genug, dick genug, schmal genug. Die Stöckchen wurden wie gehabt, vom Vater auf ihre Tauglichkeit hin geprüft. Sie funktionierten alle, nun war er an der Reihe zu wählen. Sein Körper, seine Hände, seine Stimme, seine unantastbare Autorität, wie in ein Kraftpaket gepackt. Edda beugte sich, aber sie sah nie sein Gesicht bei diesen Züchtigungen. Nur ein Fleck, pappschachtelartig, starr und grau. Die Angst vor dem Schmerz beherrschte sie. Berauschte ihn? Die Konfusion diese Pappschachtel zu achten, gar zu lieben, zog ihre Bahnen. Wie nahe können sich Liebe und Schmerz sein, sich gegenseitig auf die Füße treten? Edda fuhr stehend auf dem Fahrrad zur Schule. Fünfunddreißig Minuten hin und fast eine Stunde zurück, bergauf.
„Es tut mir ja selber weh, ich tue das wirklich nicht gern“, hörte Edda ihn zu ihrer leise weinenden Mutter sagen, „aber nur so, kann ein anständiger Mensch aus ihr werden.“
Die Eltern waren sehr mit sich und der Firma beschäftigt. Edda genoss die Zeiten ohne das Familienoberhaupt, Vater war oft unterwegs. Ungestörtes Toben, Spielen und Träumen heilten. Die Wildnis heilte, öffnete weit die Tore zu einer anderen Welt, zu ihrer Wahrheit. Das forderte ihr Instinkt. Freiheit atmen und das Wissen horten, dass es Freiheit gibt. Kein noch so barscher Ton konnte dieses Wissen in ihr vernichten. Auch die Angst war schwächer als der Sog dieser Freiheit, die von Kreativität begleitet, gestärkt wurde. Alles andere blieb zurück. Sie wurde in Klarheit viele Male neu geboren.
Edda schwänzte die Schule und schrieb sich selbst die Entschuldigungen auf der Schreibmaschine, von nun an mit Mutters Unterschrift. Eine Unterschrift, die keiner der Lehrer kannte. Der Druck ihres Erzeugers war stark und unerbittlich, jedoch nicht permanent vorhanden. Er vergaß sie einfach wochenlang, um dann mit aller Macht, wenn er sich ihrer erinnerte, ein Stück Erziehung nachzulegen.
Schon als Edda noch so klein war, dass sie während der Autofahrt vorne im Fußraum des Beifahrers genug Platz hatte zum Spielen, wurde sie von seinen Schlägen auf den Po nicht verschont. Er schlug nie unkontrolliert ins Gesicht, oder etwa auf den Kopf. Das Gesäß war die Zielscheibe seiner äußeren Strafe. Manchmal rutschte es versehentlich auf die hinteren Oberschenkel ab. Besonders wenn Edda beim Lügen erwischt wurde, ließ er kein Wieso und Warum gelten. Sie kannte lange Zeit den feinen Unterschied zwischen Fantasie und Wahrheit nicht, wo steckte die Lüge? Beim Stehlen von Süßigkeiten am Kiosk, gab es auch kein Pardon. Es fanden sich immer wieder neue und alte Möglichkeiten ihr zu zeigen, dass es so nicht ging.
Vor dem Essen wurde gebetet, Mutter bestand darauf, obwohl sie kein bisschen gläubig war, im Gegenteil, es gibt keinen Gott behauptete sie. Edda war da ganz anderer Meinung. Da Mutter als kleines Kind schon Vollwaise geworden war, bestand sie auf dieser Ansicht. Beinahe das Einzige, woran sie sich jedoch im glücklichen Zusammenhang mit ihrer Mutter erinnern konnte, waren kurze Gebete bei Tisch und vor dem Schlafengehen. Es kam ihr nicht auf das Gebet an, sie wollte nur dieses Gefühl der Geborgenheit an ihre Töchter weitergeben, auch wenn die Welt drumherum ein häuslicher Kriegsschauplatz war.
„Komm Herr Jesus und sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast“, sagte sie feierlich. Es war immer das gleiche Gebet. Vater faltete die Hände nicht, er las seine Zeitung und setzte sich erst an den Tisch, wenn das Gebet und die alberne Händehalterei mit einem “Amen, und Guten Appetit“ beendet war. Eines Tages faltete Vater doch seine Hände und grölte sein Gebet.
„Lieber Gott im Himmel, schenk mir ein Kind mit Pimmel, ich hab schon vier mit Fotzen, es ist zum Kotzen.“ Niemand am Tisch fiel in seine Lachsalven ein, auch nicht “seine“ Hausgehilfin. Mutter zeigte sich brüskiert. „Ich will solche Schweinereien nicht hören, nicht bei Tisch und schon gar nicht vor den Kindern.“
Sie wusste nicht, was Edda alles schon von ihm gehört hatte, der Pimmel war dagegen ein Waisenknabe. Das war noch in der Zeit, als Edda sich bereit erklärt hatte, nach Vaters Wunsch, Kapitän zu werden und ihre Stimme auf dunkel trainierte.
Papa war ein Ehrenmann, so hatte sie erfahren. Ein Ehrenmann ist jemand, der nie lügt und immer Recht hat. Und wenn er brüllte wie ein Tier, das sie nicht kannte, hatte er wohl auch Recht. Selbst wenn die roten Striemen auf ihrem Hintern anschwollen. Sie wusste ja längst, es sollte ein ordentlicher Mensch aus ihr werden. Ein guter Mensch! Doch immer wieder wunderte sie sich, warum dieses Werden so schmerzhaft sein musste. Er küsste ihren angeschwollenen, roten Po und schmierte anschließend eine dicke, klebrige Schicht Penaten Wundcreme darauf. Edda schlief auf dem Bauch.
Vor vielen Jahren, als sie noch das Herunterziehen einer Türklinke nur auf Zehenspitzen bewältigen konnte, hing sie oft glücklich in einer Wolldecke, wie ein junges Känguru. Zwei Enden der Wolldecke waren an die Lenkstange eines Tretrollers geknotet, die beiden anderen Zipfel hinten am Gepäckträger, der dort in niedriger Sitzhöhe befestigt war. Das ergab eine leichte Schräge in ihrem Wollbeutel. Ihr federleichter Körper baumelte dann zwischen den Beinen ihrer großen Schwester. Jede Unebenheit ließ ihren kleinen Hintern etwas unsanft auf das Trittbrett des Rollers sacken, sie bemerkte es kaum. Ein roter Roller, mit Luftreifen sogar. Sie lag mit angewinkelten Beinen und geöffneten Augen in diesem Nest und fühlte sich geborgen. Die Decke umschloss ihren kleinen Körper, eine etwa zwei Handbreit weite Öffnung über ihrem Gesicht, erlaubte ihr den Blick in die Welt. Ihre Welt der Gegenwart. Dieses Wollschlitzfeld erlaubte ihr alles zu sehen, alles, was ihr lieb und wichtig war. Das Gesicht ihrer großen Schwester, ihre vom Antreten des Rollers wippenden blonden Zöpfe, der blaue Sommerhimmel und mit ihm verflochten, vorbei sausende Baumkronen.
Edda hantierte viele Jahre mit diesem Erleben. Beim Gedanken daran, fühlte sie erneut diese Sondermischung aus Freude, Abenteuer, Vertrauen und Geborgenheit, auf einer Fahrt ins Ungewisse. Es konnte sogar ihre Angst dämmen, konnte gegen Einsamkeit antreten oder erdrückende Situationen mildern. Das Bild der Erinnerung mit dieser Schwester, die sie durch die Welt lenkte und auf dem Trittbrett stehend mit ihr einen Berg hinunterraste, wirkte heilsam auf Edda. Diese Lieblingsschwester symbolisierte Sicherheit für sie, von frühester Kindheit an. Seit sie denken konnte. Natürlich war dieses Wesen das schönste Mädchen auf der Welt, einfühlsam, klug und unendlich geduldig. Ihre hilfreichen Erklärungen zu „Lindners Wissen der Biologie“, oder spannende Erzählungen zu „Grzimeks Serengeti“ zogen sich über Jahre hin, und etwas später widmete sie sich Eddas Fragen der Pubertät. Selbst Annäherungen zur Negermusik, zu der auch Jaques Lucies, Play Bach gehörte, standen mit auf der langen Aufklärungsliste dieser Wunderblume. Ihre Schwester wusste auf alles eine Antwort, die immer sorgsam gewählt und aufrichtig war. Antworten, die ein kindlich verletzbares Gedankengerüst nicht erschütterten, sondern es erweiterte, trotz oft unvermeidlich beängstigender Wahrheiten. Etwas, was ihre Mutter nicht verstand, diese neigte eher zur Kassandra-Version.
„Was ist relativ, ist das gut oder schlecht?“, fragte Edda ihre große Schwester.
„Also, stell dir vor, ein Möwe-Mann von der Nordseeküste Schleswig-Holsteins ist seine Sippe leid, also macht er sich auf den Weg an die Ostsee, um sich nach einer Frau umzusehen. Eine, die er nicht kennt, die er noch nie gesehen hat. Dazu hat er Lust. Er fliegt etwa nur eine Stunde, und schon ist er an einem anderen Meer. Eine neue Welt für ihn, das große Abenteuer. Aber eine Stunde ist relativ. Da er etwa nur fünf Jahre lebt, ist das für ihn ein recht langer Flug. Ein Mensch lebt durchschnittlich etwa achtzig Jahre, falls kein Krieg dazwischen kommt. Das ist wievielmal mehr, wie oft passt die Fünf in die Achtzig?“
Auf diese Weise rückten ihr Grundregeln der Mathematik näher. Edda zählte schnell an den Fingern nach und sagte, „sechzehnmal“, sie wollte unbedingt hören wie die Geschichte weiterging. „Der Möwe-Mann ist also nur eine Stunde unterwegs, aber für ihn sind das, relativ zu seiner Lebensdauer gesehen, etwa sechzehn Stunden.“
„So als würde ich nach Amerika fliegen, ohne Flugzeug? Das ist ganz schön weit für eine neue Frau, wahrscheinlich bleibt er bei seinen Leuten“, meinte Edda skeptisch.
Diese Schwester weckte ihren Wissensdurst in viele Richtungen, doch durften keine Maßnahmen dabei ergriffen werden, die nach pädagogischen Tricks rochen, dann blockierte Edda jede Aufnahme. Sie achtete ihre Schwester sehr, aber bedingungslos gehorchen wollte sie ihrem Vorbild nicht. Ein Gehorchen gab es für sie nur unter Zwang, unter Androhung von Strafe. Das hieß, unter körperlicher Züchtigung. So gehorchte sie, zumindest augenscheinlich, nur dem Vater.
Edda war eine der treuesten Ungenügend Kandidaten bei Frau Dr. Kohlmann, ihrer Englischlehrerin. Diese war fassungslos über Eddas Unwissen, und wie sie annahm, mangelndes Sprachtalent. Im Flur zeigte sie einem Kollegen Eddas Arbeit und raunte ihm zu, dass dieses Mädchen leider ein hoffnungsloser Fall sei. „Sie kann nicht einmal erfassen was ein Verb ist, und das im Wiederholungsjahr“, stöhnte die geforderte Pädagogin.
Die Gute, wie konnte sie auch wissen, dass Eddas schlechte Noten, ihre Lernblockaden, wenig mit mangelndem Auffassungsvermögen zu tun hatten, sondern eher mit drohender Strafe. Wer wusste das schon, zu jener Zeit, als Zucht und Ordnung die Eckpfeiler der Erziehung bildeten.
Es war am Tag nach Eddas Konfirmation gewesen. Ihre älteste Schwester, die für ein Jahr nach London gegangen war, erschien zu diesem Fest mit ihrem frisch Verlobten, um ihn der Familie vorzustellen. Ein junger Professor, schweigsam und blass, mit einer dunklen Hornbrille. Sie hatten gemeinsam mit Edda einen Spaziergang unternommen, bei dem ihre Schwester versuchte eine Biene aus den Fängen einer Spinne zu befreien. Der Verlobte hinderte sie daran. Mit Grabesstimme ließ er verlauten, dass auch sie, das Elend auf dieser Welt zu sein und ungerecht behandelt zu werden, nicht aufhalten könne. „Lass sie leiden“, sagte er drohend und beobachte mit verklärtem Blick das sich windende Insekt, das unter fürchterlichem Gebrumm im klebrigen Faden eingerollt, noch leicht zappelnd ausgesaugt wurde. Er steckte die Nase gierig bis an das Spinnennetz, nahm seine Brille ab, um besser ins Detail blicken zu können. Die Schwester wandte sich wie versteinert ab. Wenige Stunden nach diesem Zwischenfall hörte Edda ihren Vater aus dem Wohntrakt toben. Außer sich vor Zorn schrie er auf seine Älteste ein. „Du kannst von mir aus jeden Mann auf dieser Welt heiraten, und wenn es ein Neger sein sollte, ein Chinese von mir aus, aber kein Jude. Niemals! Nur über meine Leiche!“
Die Schwester und der Nichtchinese flogen noch am selben Tag zurück nach London. Sie trennten sich sehr bald danach, aber nicht wegen Vaters Leiche. Der Verlobte hatte ihr auf der Rückreise mitgeteilt, dass er sie liebe, o b w o h l sie eine Deutsche sei, er aber niemals seine Kinder glücklich umarmen könne, wenn sie deutsches Offiziersblut in den Adern hätten. Den Vater, mit seinem Hass in der Ferne, hätte ihre Schwester ertragen können, aber keinen Ehemann mit Hass auf ihre Kinder.
Eddas Erröten erreichte seinen Höhepunkt, als ein bildschöner Seemann, als Maschinist, von ihrem Vater in der Baufirma eingestellt wurde. Ferien, welch ein Glück, sie konnte täglich bei ihm sein, erlernte das Messerwerfen und Maschinenbetrachten, Motor raus, Motor rein, alle Schläuche, Kabel, Schrauben und das Drumherum. Er war geduldig, erklärte alles. Sie las sämtliche Hornblower-Bände, erlernte das Morsealphabet und die Flaggenzeichen der internationalen Seefahrt und ließ es ihn wissen. Sie glaubte unauffällig an seiner Seite kleben zu können, wenn sie sich wie ein Junge anzöge und benähme, darin hatte sie Erfahrung. Sie wollte, dass er sie tätowiere, das selbe Zeichen wie er. Auch auf der Brust. Dazu kam es nicht. Der Seemann hatte natürlich einen Vollbart, und er hatte blaue Augen, wie Vater. Aber er brüllte nicht, nie, und er hatte eine warme Stimme mit dem Akzent ihres geliebten Schleswig-Holstein. Ihre Hingabe zu schwarzen, mit Altöl getränkten Händen, hielt die ganzen Sommerferien an. Der bärtige Maschinist hatte alle Hände voll zu tun die Pubertierende auf gebührendem Abstand zu halten.
Edda wuchs heran, die Weltentfremdung lauerte. Das Leben sei ein Problem, bei dem man Übung bekommen sollte, hatte sie von ihrer Großmutter erfahren, der Mensch gewöhne sich schließlich an alles, auch an sein Leben.
Sie gewöhnte sich an Vieles. An ihre Familie zum Beispiel, obwohl sie manchmal stutzte und erstaunt war, ein Teil davon zu sein. Sie hatte den Umstand, Vaters körperlichen Züchtigungen ausgesetzt zu sein wann immer er es für nötig befand, endlich als Unumgänglichkeit erkannt. Zu ihrer Furcht vor ihm, gesellte sich tief eingefleischter Respekt, als sei sie damit geboren, als sei es eine Charaktereigenschaft. Nicht zu hinterfragende Macht stülpte sich über zarteste Wahrnehmungen. Ein teuflisches Gemisch, ein teuflischer Kampf. Die väterlichen Wutausbrüche, vom Jähzorn angeheizt, schienen von tyrannischem Überblick geleitet, er genoss sich selbst dabei, berauschte sich an seiner jämmerlichen Macht. Er hantierte mit festgeschraubten Vorstellungen von Falsch und Richtig. Vorhersehbare Vorstellungen. Es war demnach nicht schwierig, sich nach seinen Gesetzen zu richten, was auch dem Rest der Familie gelang. Edda vergaß sich und alle Gesetze wenn sie spielte, sie ging selten straffrei aus. Ihr Stolz war auf eine andere Ebene geflohen, doch nicht besiegt. Er winkte Edda verschwörerisch zu, bei jedem väterlichen, „keine Widerrede, und damit basta“, bei jedem Hieb. Auch ihr Trotz hatte überlebt, eine explosive Ladung in diesem höher gelegenen Versteck.
Als sie also endlich glaubte, schwingende Weidenstöckchen gehören unabwendbar in ihr Leben, hörte diese Unart des Vaters plötzlich auf. Das hatte seine Zeit benötigt, bis fast zu ihrem vierzehnten Lebensjahr. Der Auslöser war möglicherweise die spindeldürre Edda im anthrazitfarbenen, taillierten Konfirmationskleid. Sie trug zum ersten Mal in ihrem Leben Nylonstrümpfe und dazu schwarze, elegante Schuhe mit leichtem Absatz. Edda tänzelte mit klappernden Silberreifen an den Handgelenken vor ihrer staunenden Familie auf und ab. Man entschied, dass sie doch etwas Weibliches an sich habe. Ihre Mutter hatte sie mit etwas Lippenstift und einem feinen Lidstrich beinahe entstellt. Vaters Traum vom Sohnersatz schwand dahin. Immerhin hatte er doch beschlossen, dass sie Seemann werden sollte, Kapitän. Edda spielte zu dieser Zeit immer noch am liebsten auf den Bäumen und in schlammigen Bachbetten. Ein Sack Gips war ihr von jeher lieber gewesen als eine Puppe. Von diesem Tag des taillierten Kleides an, ging Vater sanfter mit ihr um, erklärte sie unausgesprochen zu seiner momentanen Lieblingstochter. Die übrigen Familienmitglieder kapitulierten vorläufig, es war sinnlos um seine Gunst zu buhlen und gegen Edda anzueifern. Sie war nach Vaters Wunsch geraten, da konnte niemand mithalten. Als Edda wenig später, wegen ungenügender Leistungen das Gymnasium verlassen musste, meldete Vater sie kurzerhand, ohne ein Wort der Drohung, ohne die Weidenrute, an einer kostspieligen Privatschule an. Der Schulbeginn war im Herbst. Bis dorthin lagen einige freie Monate vor ihr, sie war mit vierzehn nicht mehr schulpflichtig. Befreit von der Schule, ein paradiesischer Zustand. Vater nahm sie mit zu seinen zahlreichen Baustellen, damit sie etwas Praxis vom Bauwesen bekäme. Jetzt sollte sie nicht mehr zur See fahren, sondern Bauingenieurin werden. Edda gewöhnte sich an diese Fahrten, sie machten ihr großen Spaß.
Sie gewöhnte sich auch an die ständige Heulerei ihrer Mutter und wusste sie inzwischen mit Abstand zu trösten. Es erschütterte Edda nicht mehr, wenn ihre Mutter wegen seiner Sekretärin oder irgendeines anderen „dreisten Weibsbildes“ weinte. Sie war großartig im Sich-Gewöhnen geworden.
Doch eine Unart ihres Vaters wollte sich einfach nicht der Gewöhnung beugen. Das war seine Brüllerei. Vater war laut, egal wo er auftrat, man hörte ihn von Weiten. Seine Stimme war nicht direkt unangenehm aber zum Herrschen verkommen. Sie übertönte alles. Edda rannte oft aus dem Haus, nur um diesem Geschrei zu entgehen. Auch am Telefon schrie er, als wäre dieser Apparat unnötig und sein Stimmorgan müsse die Kilometer überbrücken. Besonders Eddas Mutter brüllte er an, wenn sie den Jammerton über ihn schwappen ließ, aber er brüllte auch, wenn er nicht wütend war. Seine Stimmlage war offensichtlich in der Kriegszeit steckengeblieben, als wetterte sie immer noch gegen Geschützgetümmel an, oder gegen müde Rekruten auf dem Kasernenhof.
Doch dann entdeckte Edda, dass ihr Vater auch eine normale Stimme besaß, kräftig zwar, aber ohne zu schreien. Im Auto, wenn er mit ihr auf stundenlangen Fahrten zu den Baustellen unterwegs war, sprach er in angenehmeren Tonfall, sogar, wenn er sich dann begeistert äußerte. Er erzählte vom Krieg, von dem wunderbaren Kameradenleben damals, von seinen Abenteuern auf dem Schlachtfeld und von den guten und den bösen Toten. Er erzählte von seinen zahlreichen Heldentaten. Edda kannte diese Geschichten bald auswendig. Auch in einige vergangene und aktuelle Liebesaffären weihte er sie ein, plauderte darüber bis ins kleinste Detail. Gerüche und Bewegungen seiner Damen waren ihr nun vertraut. Nun war sie informiert über alles Nötige und Unnötige über den Liebesakt zwischen Mann und Frau, vor allem, wie seine Idealfrau gestrickt sein sollte.
Bevor Edda fünfzehn war und noch niemals den Kuss eines Liebsten geschmeckt hatte, schlug sie sich gedanklich mit den recht anschaulich dargestellten Liebespraktiken ihres Erzeugers herum. Sie war von einem Tag auf den anderen von ihrem Baum geplumpst, hinunter in die Erwachsenenwelt. Von einer ungezogenen Göre, in Vaters Publikumsersatz umfunktioniert und zu seinem Fürsprecher erkoren. Auch daran gewöhnte Edda sich, und sie war sehr stolz darauf seine Vertraute zu sein.
Mutter strampelte machtlos gegen eine drohende Entfremdung dieser Tochter an, denn Edda wurde von ihm mit seiner jeweiligen Geliebten bekannt gemacht und hatte diese zu hofieren. Sie begann ihren Vater über alle Maße zu bewundern. Angst vor unantastbarer Autorität und Strafe rutschte in die Tiefen ihrer Seelenschluchten. Auch als ihre Schulzeit schon längst wieder begonnen hatte, war sie oft mit ihm unterwegs, tagelang. Die Schule war schließlich privat, solange man den monatlichen Beitrag zahlte, konnten unbegrenzte Fehltage eingetragen werden. Dann wurden die gemeinsamen Fahrten plötzlich seltener und fielen nach und nach ganz aus. Sie begann ihn schmerzlich zu vermissen sobald er nicht zu Hause war, sobald sie nicht an seiner Seite weilen konnte. Sie war ungeheuer eifersüchtig auf seine Freundinnen. Als er einmal angekündigt hatte, sie morgens abzuholen und am Abend immer noch nichts von sich hatte hören lassen, war Edda außer sich. Sie weinte stundenlang. Vor Angst, es könnte ihm etwas Schlimmes zugestoßen sein, vor Angst, er könnte vor ihr sterben!
Als Vater seine Frau verließ, seine Familie und Edda, glaubte sie ohne ihn nicht leben zu können. Sie war sechzehn Jahre alt und überstand seine Abwesenheit. Auch eine spätere, erste Liebschaft überlebte sie. Edda wachte damals kniend an der Badewanne einer Intensivstation auf, mit einem schwarzen Schlauch im Hals, durch das man Wasser in ihren Magen pumpte. Sie kotzte, bis der grüngelbe Gallensaft kam und dann wurde noch einmal kräftig nachgepumpt. Kotzen konnte sie. Sie musste einige Tage unter ärztlicher Aufsicht bleiben. Ihr Freund, der sich geweigert hatte das weiterhin zu sein, schickte eine lilafarbene Orchidee ins Krankenhaus. Edda mochte kein Lila, und steife Orchideen mit einem Draht durch den Leib gerammt, stimmten sie noch trauriger. Sie liebte wilde, bunte Sommerblumen. Dazu gab es eine Karte, er hatte sich verlobt, natürlich nicht mit Edda.
Wenn niemals etwas umsonst geschähe, gedacht, gesagt, gelacht, geliebt, geholfen würde, wäre Eins und Eins trotzdem Nichts? Verschwindet alles in seinem Plus und Minus? Letztlich bleibt nichts bestehen, obwohl nichts verschwendet ist. Alles findet sich im Gegenpol wieder um sich irgendwann in Allem aufzulösen. Im Einzelnen, im Ganzen, zum Ganzen. Was aber passiert mit der Liebe? Kann sie jemals verloren gehen, ist sie beschränkt vorhanden. Oder ausschließlich hormonbedingt? Biochemie! Oder vertritt sie die freie Seele, unverfänglich, auch ohne Gehirn zugänglich, existent. Da sie kein Gegenüber hat, sich nicht in das Aufhebungsgesetz einreiht, ist sie ein Immer, ein Pur. Ein Pur im Nichts.
Edda versuchte sich im selbstständigen Denken, sie sammelte Lesefrüchte als neue Basis, las Bücher, die sie von Vaters Gedankengut ablenkten. Dazu gehörte das Aufspüren nach einem eventuellen Gegenüber der Liebe. Könnte es die Kreativität sein?
Sie verfiel auch dem Irrtum, ihrer Gefallsucht nachzugeben, indem sie sich scheinbar, ohne im Entferntesten dazu gedrängt worden zu sein, im Gespräch anpasste oder sogar entblößte. Sie bediente sich der Taktik keine Front zu bieten, offenbarte mit lieblicher Stimme ihre Fehler oder erfand welche an sich. Fehler, die gerade zum Thema passten. Sie gedachte somit, Vertrauen in ihrem Gesprächspartner zu erwecken, ohne dass er bemerkte dass sie durch seine Reaktion bestätigt, dessen Fehler für sich auflistete und sortierte. Mangelndes Selbstbewusstsein fiel ihr besonders auf. Auch geistige Beschränktheit erkannte sie neuerdings, Narzissmus ebenso oft. Diese Eigenschaften offenbarten sich ihr wie Geschosse aus dem Gegenüber. In diesem Begegnungszirkus erkannte sie wenig liebenswerte Komplexe, die meisten „Fehler“ beurteilte sie als bedauernswerte Mängel an einer Person. Ihre eigenen, hochgezüchteten Komplexe erkannte sie sehr schnell, natürlich nicht an sich selbst.
Die Entfernung wurde immer größer. Obwohl sie eigentlich die Nähe zu ihren Mitmenschen wünschte und diese auch dringend benötigte, schaffte sie mit ihrem Verhalten eine unüberwindbare Trennung. Sie wollte bewundert werden, Nähe zulassen, Freundschaft schließen. Doch der Fehleraufspürreflex torpedierte jeden Ansatz dazu. Sie würde allein bleiben! Warum konnte sie dieses Forschen nach Fehlern der Anderen nicht unterlassen, Minderwertigkeiten des Anderen nicht einfach ignorieren! Das hatte sie doch gelernt, damit war sie schließlich aufgewachsen.
Sie wollte einfach nur gemocht werden, selbst von Personen, die ihr gar nicht gefielen, dazu benötigte sie die Überheblichkeit und die Welt der Paradoxe. Vielleicht wäre sie eine perfekte Politikerin geworden, sie buhlte sogar um die Sympathie der Menschen, die ihr eigentlich gar nichts bedeuteten. Brauchte sie diese Wählerstimmen wirklich?
Das war Eddas Gerüst, an dem sich ihr Selbstbewusstsein mühsam versuchte hochzuschrauben. Dieses generelle Aufschlitzen der Fehlerrucksäcke der Anderen, machte sie kein bisschen glücklich, sie hatte Vaters Eigenschaft einfach nahtlos übernommen. Zu glauben, die Fehler der Anderen für sich zu benötigen, um sich unbewusst zu erhöhen, war ein Übel, das sie wie einen luftgefüllten Rettungsring, der sie über Wasser halten sollte, bewertete. In diesen Gewässern ihrer Orientierungslosigkeit gab es hungrige Haie, und der vermeintliche Rettungsring wies spürbar undichte Stellen auf.
Das Selbstmitleid ihrer postpubertären Jahre, die sich erstaunlich in die Länge gezogen hatten, war ebenfalls ein Hai, der sie ab und an in die Tiefe riss und in ihren Gedärmen nach der Seele wühlte. Doch ihr Instinkt, der fabelhaft funktionierte, bot diesem Unhold die Stirn. Dieser Instinkt ließ sich gelegentlich zwar etwas Zeit mit seinen Warnsignalen, aber wenn er sich meldete, dann hustete er deutlich in ihre fabrizierten Umwege. Dann horchte Edda auf, erinnerte sich an ihre blinden Waldläufe, barfuß, von Licht durchflutet im nächtlichen Dunkel.
„Wenn die Angst besiegt ist, wirst du getragen, dann wirst du der Meister deiner Umstände“. So raunte die Weisheit ihr zu. Sie war zu spüren, hinter jedem Baumstamm, und Edda vernahm ihr deutliches Wispern, das sich leider nicht fassen ließ. Es hüpfte beschwingt vor ihr her, schwang sich hoch in das Astwerk des Gleichmuts und entfernte sich wieder.
Ihr Ego war so jung wie ihr Leben und schon von erheblicher Schwere. Es entfaltete sich auf des Messers Schneide zu ihrem Weltverständnis, wollte groß und mächtig sein, flatterte, mit seinen schwerfälligen Flügeln wie aus Blei, um sie herum, riss an ihr, wie an dem Leib eines Engels und fegte mit seinen vor- und zurückweichenden enormen Wirbeln Eddas Umfeld platt. Wollte man ihr wirklich näher kommen, musste man sich geduckt an sie heranpirschen, unter den saugenden, pressenden Schüben ihrer Eitelkeit hindurch, und man musste der Welt gesammelte Geduld aufbringen, um ihr Herz zu erreichen.
An Geduckten gab es keinen Mangel, doch ein Geduldiger war ihr bisher noch nicht begegnet. So blieb Edda vorerst allein mit ihrer Illusion der lieblichen Vorstellung eines Mannes, der sich die Mühe machen würde, ihren Wert zu erkennen.
Etwas verdrängte die Grundidee ihres größten Wunsches, die Freiheit nicht nur zu kennen, sondern auch zu leben. Das Gefühl der Gewohnheit, von jemandem beherrscht zu sein, bevormundet zu werden, hockte hartnäckig in ihr. Ihre Freiheit war ständig in Gefahr von ihr selbst erdrosselt zu werden. Es gab Bewusstseinsübungen, die dem entgegensteuern konnten, die gegen unerwünschte Gewohnheiten ankämpften und dem Erwachen eine Stütze sein konnten. Darüber hatte sie gelesen. Dort hieß es auch, man solle das Alltagsverhalten nicht zur Routine verkümmern lassen, und Prioritäten sollten nicht in Prinzipien erstarren. Aber wo waren ihre Prioritäten, was sollte nicht erstarren und was war schon erstarrt?
Zu einer ihrer ungeliebten Gewohnheit gehörte auch, dass sie aus tiefstem Unterbewusstsein heraus, bei einem Startschuss, der eine scheinbar bedeutungslose Kleinigkeit sein konnte, völlig überreagierte. So in etwa, als würde ein erwachsener Mensch, der als Kind bei Regenwetter seine Mutter durch einen Schlangenbiss verloren hatte, bei jedem plötzlich einsetzenden Regen gleich wild um sich ballern oder bestenfalls nach dem Antiserum schreien. Edda hatte ihre unbewussten Reaktionen nicht im Griff, diese waren immer schneller als sie denken konnte. Verbal oder tätlich. Das war lästig. Es war nicht ungefährlich sie zu erschrecken, man biss einem schlafenden Hund ins Ohr.
Drei Charaktere stritten sich in ihr, streiften umeinander, als suchten sie gegenseitige Anlehnung, benahmen sich jedoch wie gleiche Pole. Ein Zustand der inneren Zerrissenheit, des Drucks der eingeschlossenen Abstoßung.
Sie hatte versucht den einen oder anderen Charakter zu verbannen, aber jeder einzelne erschien zu sehr ein Teil ihres Seins. Weniger unmöglich wäre es gewesen sich selbst einen Arm oder ein Bein abzubeißen. Es war ihr höchstens ein zeitlich begrenztes Verdrängen möglich. Das war bisher immer verwirrend ausgegangen und mit einem Verlustgefühl zu vergleichen.
Wenn sie durch irgendeine Begebenheit wieder an dieses Übel erinnert wurde, verglich sie sich mit einem Krabbenbrötchen, in das man gerade hineinbeißen will. Doch etwas riecht schlecht, stopp! Mindestens eines dieser Schalentiere scheint verdorben zu sein, faulig, ungenießbar. Ihre Frage lautete, sucht man nun das Faulige, wirft es hinaus und genießt das, was an Gutem übrigbleibt, oder befördert man den ganzen Leckerbissen in den Müll!
Dieses innere Reißen hemmte ihre Persönlichkeitsentwicklung gewaltig, ließ sie von einer Ecke in die andere springen, im Dreieck wie im Kreis. Sie würde in der Psychiatrie landen, wenn sie nicht bald einen Halt fände.
Der eine Charakter vertrat den des Vaters, bohrende Kraft! Er, der mit der fragwürdigen Überlegenheit eines Platzhirsches agierte und meist alle Anwesenden an die Wand drängte, powerte, forderte und den Angelpunkt bestimmte. Immer! Er konnte flirten, dass die Fetzen flogen, aufgebauscht vom brüchigen Selbstbewusstsein des Egomanen, mit Geiz und Eifersucht gewürzt. Ein verschlungenes Wurzelwerk der inneren Unruhe. Doch auch seine positiven Seiten vertraten ihn in ihr. Die des Abenteurers, des mit unerschöpflicher Fantasie geladenen Ingenieurs, des talentierten Zeichners, des eindrucksvollen Schriftstellers, und Erfinder war er auch.
Den zweiten Geist in Edda, bekleideten die Eigenschaften ihrer Mutter. Diese lehnte Wichtigtuerei ab, sowie jede Art von Gewalt. Ihr Charakter glänzte durch aufopferungsvolle Hilfsbereitschaft, sie war großzügig, besorgt, zugewandt und liebevoll zu nennen. Die oft übermäßige Besorgnis wirkte schädlich in ihrer Gegenseite. Wenige Tropfen davon genügten, um alles in oberflächliche Harmonie zu verfärben, um für Augenblickliche der verbalen Zuneigung oder Anerkennung, den großen, lebenslangen Verrat an sich selbst zu begehen. Immer wieder.
Für den dritten Charakter war noch eine winzig kleine Ecke frei geblieben. Frei, für ein Sich-Selbst. Dieser Selbstcharakter kämpfte, als läge er noch noch in den Geburtswehen, als sei er nicht konkret und müsste noch erfunden werden. Schweigend erstaunt über so wenig Raum, rief er leise das „All Eins“ zur Hilfe. Er hatte zunächst nur den roten Faden entdeckt, ohne sich als Macht zu zeigen, schweifte oder schleifte an diesem Rot entlang, wie an dem Hauch einer Grundidee und versuchte sich den beiden anderen zu nähern. Ohne verschlungen zu werden. Denn er ahnte in ihnen lebenswichtige Wurzeln, die nicht abgetrennt werden durften. Dieses Sich-Selbst benahm sich den beiden Hausbesetzern gegenüber, wie aus einer Glocke der Passivität heraus. Das täuschte, denn es besaß eine erstaunliche Flexibilität in Form und Ausdruck. Immer wieder meldete es sich aus scheinbar vergessener Weite. Es konnte auch mit Abstand von Front zu Front hüpfen, um dem fordernden Ziel nach Einheit, Berichterstattung zu liefern. Sie waren ermüdend konträr diese Drei, es fand sich kein Gefüge darin, noch nicht.
Vaters Marotten in ihr häuften das Ringen, sie waren umwerfend hemmungslos und behinderten den Absprung zu eigenen Gefilden der bewussten Entwicklung. Sie erlaubten dem inneren Frieden keinen Zutritt, kannten keine Erfüllung, brodelten in Schuldzuweisungen und Konkurrenzgebaren. Unter diesem Einfluss hatte Edda sich weit vom Herzen der Welt entfernt, sie wusste nichts von der ewigen Stütze der unendlichen Bedingung, sie lebte gegen ihre Ahnung. Aus Gewohnheit! Jede ihrer Bemühungen, in Richtung Erkennen, erstickte in egozentrischem Gerangel, das vom Drängen ihrer Ängste genährt wurde. Doch ein positiver Erbteil des Vaters ermöglichte ihr in Ansätzen den Ausweg. Die Fantasie!
Unermüdlich zeigte sich die Fantasie, bis in die Fingerspitzen, als brodelte sie mit den Blutsubstanzen in ihr. Sie bediente eine kaum überschaubare Front der Talente, die sich in Eddas Genen manifestiert hatten. Darin versank sie oft, ohne sich zu besinnen. Dann war sie ganz zu sich umgeschaltet, die anderen hatten keine Chance mehr, sie konnten schreien und toben, Edda achtete nicht mehr darauf. Sie war unerreichbar, mit dem zarten Händedruck ihres Selbst im Gepäck. Dieser Zustand gab ihr das Gefühl der Vereinigung, dann war sie Allem nahe, in Einsamkeit.
Es entknäulte sich dabei eine aus der Mitte der Stagnation gebettete Unruhe, enthüllte sich wie eine geschichtete Kugel aus einer Kugel heraus und aus der nächsten Kugel. Sie entrollte sich aus dem ihr jeweilig zugängigem Ventil des Verlangens, um Kurven und spitze Winkel herum, durch das Labyrinth der Ferne, ihrer Gegenwart entgegen. Edda erreichten die Sphären des freien Schaffens. Der Bewegung des Keims ähnlich, ohne den Zeitfaktor zu beachten, wie unbedingtes Geschehen ohne Bewusstsein, Kraft des Segens.
Nur für Augenblicke erreicht gepaartes Schaffen eine Höhe, welche einmal ertastet, dem Leben für immer vom Ewigen flüstert. Und dann will sie besungen werden, klar und sichtbar in Noten verpackt, in verständlichere Formen gepresst, in Farben getaucht, benannt, erkannt und berochen werden. Darum der Drang zur Wiedergabe des Erlebens ohne Namen. Es gelingt nur am Rande, drückt gerade eben nur das Periphere aus, trifft nicht die Mitte, keine Farbe, kein Formenspiel kommt ihr nahe genug.
Himmel, wie grau ich dich nur darstellen kann, in deinem Blau. Wie niedrig erkannt, in deiner Höhe. Wie leer du erscheinst, in all deiner Fülle. Und ich mich und uns, zwischen alldem, als Hülle empfinde. Als Werkzeug, das zur Bereitschaft geboren den Blick erhebt und nach Weisung lechzt. Sich krümmt, empfängt und mit Wonne gebären lässt. Sich von allem Außen entfernt, sich vom Spiel des Schaffens des Augenblicks ernährt.
Das, und genau das fühlte Edda. Ihr Sich-Selbst hatte sich bemerkbar gemacht. Wortlos!