Читать книгу Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum - Gabriele Plate - Страница 6
Fausto und das „All Eins“
ОглавлениеDa lief ihr Fausto über den Weg, mit einer Hand das Bierglas haltend, mit der anderen die Zigarette. Eine Komposition, die sich in ihr Dasein drängte und blieb, mit Fausto und ohne ihn.
Zuerst achtete sie auf seinen wohlklingenden Bariton, der aus dem Stimmengewirr der Thekensteher über allem zu schweben schien und an ihr Ohr klang, direkt neben sich, als sei rundherum nur Stille. Edda drehte sich zu ihm um, sah seinen Blick, und seine besetzten Hände erschienen ihr wie eigenständige, vollendete Formeinheiten. Sie begann sich augenblicklich nach ihm zu sehnen. Ein Sehnen, das nie endete, mal heftiger, mal überschaubarer, das aber stets präsent war und mit ihm in Verbindung stand. Die Kapsel, in der ihr Herz jahrelang um sich selbst rotiert war, zersprang in tausend unauffindbare Teile.
Er wirkte auffällig gelassen, vermittelte Edda eine Art Gleichgewicht, in das sie am liebsten sofort eingetaucht wäre. Sie traute ihm, nach diesen wenigen Sekunden des ersten Eindrucks, weder unkontrollierte Wutausbrüche, noch übermäßig erkennbare Leidenschaft zu, und sie witterte eine besondere Art von Wissen. Auch das suchte sie. All das gedachte Edda, schon nach den ersten Momenten dieser wortlosen Bekanntschaft im Kneipengetümmel, genauer herauszufinden, herauszufiltern und zu genießen.
Wie oft sah sie ihn später davongehen. Ruhig, wortlos, mit leichtem Schritt, als ginge er barfuß über festen Moosboden, durch einen von Lichtstreifen durchfluteten Birkenwald. Besonders wenn er erschüttert oder traurig war, verwandelte er sich in diesen waffenlosen Indianer. Sie fühlte sich dann völlig hilflos seiner Ruhe gegenüber und erkannte nur die Schönheit dieser Traurigkeit im Ganzen, die ihr seine gelassene Haltung in solchen Situationen bot. Er reagierte nicht „normal“, nicht wie andere Menschen auf innere Erschütterungen reagierten. Es gab dann zwar noch ein wortloses Verständnis zwischen ihnen, aber Edda empfand es, gegen alle Notwendigkeit des Alltags, als nicht lebbar. Er zog sich immer wieder zurück, und sie versuchte, beinahe unermüdlich, ihn auf seiner anderen Ebene zu erreichen.
Er hockte wie hilflos vor seiner Schreibmaschine, im Schatten der spanischen Sonne, im äußersten Süden Europas und zerkaute den Faden für ein neues Drehbuch. Er hatte sich gedanklich ihrer erstaunlichen Unbedarftheit angenommen, wodurch sein legendäres Gleichgewicht nun doch ein wenig aus den Fugen geraten war. Diese Unbedarftheit, so nannte er es später, wenn sie sich von ihren Gefühlen leiten ließ, flatterte bis in seine Träume hinein. Sie umschlang das Siegel reiner Gedanklichkeit, die normalerweise sein Leben zu beherrschen pflegte, brach es und pflanzte ungewöhnliche Unruhe in sein Bewusstsein.
Die Selbstverständlichkeit im Überblick, mit welcher er seine Weibergeschichten zu regeln verstand, schwamm davon, dümpelte in Eddas Gischt der Begeisterungsfähigkeit. Seine Grundregel, sich nicht für andere Menschen verantwortlich zu fühlen, besonders nicht für weibliche Seelen, sondern frei zu bleiben, war ins Wanken geraten. Er dachte an Edda. Immer wieder unterbrach der Gedanke an sie seinen Rhythmus, seine Freiheit. Das war ärgerlich.
Fausto kannte an keinem Menschen eine Geste, die sich an der Eigenwilligkeit ihrer vibrierenden Nasenflügel messen konnte. Er lächelte dämlich und versonnen vor sich hin, bei dem Gedanken an dieses Flappen. Es war nicht wirklich schön zu nennen, es rührte ihn einfach seltsam. Wie kleine Flügelklappen erschienen ihm diese Knorpelbögen, die, während Edda sich über eine Nichtigkeit ereiferte, bebten, wie ein flugbereiter Käfer, der seine Flügelschläge noch kurz erprobte, bevor er abhob. Dieses pumpende, leicht spitze Wiegen hätte nach ihr benannt werden können. Ob es sich um Nichtigkeiten handelte, die Eddas Nasenflügel beben ließen, unterlag hier ausschließlich Faustos Urteil.
Der Ärger, der ihn weit entfernt von Edda nun zum Lächeln veranlasste, hatte so begonnen:
Edda hatte die Kneipe betreten und stellte sich neben Fausto an die Theke unter eine helle Lampe, wie ins Rampenlicht. Sie kannten sich nicht. Sein Blick verfing sich in der kleinen Bucht über ihrer Oberlippe, die sich erstaunlich länglich wie zu einem Rüssel stülpte, als sie leicht vorgebeugt, vorsichtig an ihrem fast überschwappenden Bierglas schlürfte, das ihr der Wirt gerade gereicht hatte.
Faustos Blick balancierte über ihr Profil während sie den Schaum von der Oberlippe leckte. Der kleine Rüssel verschwand, sie sah ihn an, und er blickte in die blausilbrige Transparenz eines beginnenden, mediterranen Nachthimmels im Herbst. Jener feine Streifen über dem Horizont, den er so liebte, dieser kurze Moment des letzten Tageslichtes im Süden, und er plumpste in ihren Blick. Sie lächelte etwas schief, mit leicht verkniffenen Lippen. Edda sprach kein Wort, doch sie schien mit ihm zu atmen.
Sie drehte sich abrupt um, wandte sich von ihm ab, als sei sie erschrocken. Fausto erwachte erstaunt aus diesem stummen Bann. Mitten in dem lauten Getümmel der Kneipe hatte er für nicht abwägbare Zeit nichts gehört. Er sog langsam, blinzelnd, mit bedächtigem Genuss an seiner „Benson and Hedges“, die er danach mit fast geschlossener Faust, den Handballen nach oben gerichtet, zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, wie abwesend vor seinem Mund kreisartig hin und her bewegte. Als wäre die Zigarette ohne Ziel, als schmeckte er etwas Ungewöhnliches und nicht den bekannten Geschmack auf der Zunge. Dieses schmackhaft Bittere, das ihm entgegen schwappte als er ihr nachsah, weckte sein innerstes Empfinden. Fausto beugte sich erstaunt danach, und er berührte die große, heimatlose Liebe, welche ihn fortan begleiten sollte. Lachend, weinend, schlafend und unsterblich.
Edda war sich ihrer Wirkung nicht bewusst. Sie registrierte nur das drängende Bedürfnis diesem Menschen nahe zu sein, sie wagte es nicht, ihn einfach anzusprechen, das erschien ihr zu plump. Ihr Körper reagierte gegen ihren Willen, drehte ihm den Rücken zu, quetschte sich durch die etwa zwanzig, sie meinte hundert Kneipensteher dem Tischplatz entgegen. Entfernte sich von ihm. Mit jedem Zentimeter Abstand schrie und protestierte es in ihr, rang nach dem Zurück. Sie erreichte ihren Platz, drehte sich wie zufällig um und sah, wie diese atemberaubend Schöne, langgliedrig sonnengebräunte Blonde, ihren Arm um seine Schulter legte und ihm etwas ins Ohr gurrte. Edda musste sich sofort etwas einfallen lassen um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Augenblicklich, jetzt in diesem Moment!
Sie stürzte ihr Bier hinunter, sprang mit dem leeren Glas auf den Stuhl, schlug heftig einige Male mit ihrem Schuhabsatz gegen den über ihr hängenden Metalllampenschirm und brüllte zum Nachschwang der Gongtöne, Richtung Theke weisend, über die Köpfe der plötzlich verstummten Gesellschaft hinweg, „Muchachos, wie kommt man denn in diesem Sauladen an ein frisch gezapftes Bier!“
Das war absolut gegen Eddas Art. Normalerweise hasste sie es, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Diese “Stärke“ des Vaters hatte sie nicht in die Wiege gelegt bekommen. Sie konnte weder öffentlich referieren, singen oder tanzen, noch vor einer Kameralinse stehen, ohne von Schamesröte und Benotungsängsten attackiert zu werden. Schon bei kleinsten unbedeutenden Auftritten, wie sie zum Beispiel manchmal von Professoren vor ihren Kommilitonen gefordert wurden, peitschten diese Benotungsängste ihre Zunge. Das verhasste Erröten und eine unsicher zerhackte, hastige Sprechweise folgten. Doch hier, jetzt, in dieser Situation, handelte es sich um einen Ausnahmezustand. Gedanken des Versagens hatten keinen Platz, dafür war keine Zeit. Sie hatte trotz höchster Erregung darauf geachtet, die Stimme nicht überschnappen zu lassen, cool zu wirken, mit erotisch leicht maskulin wirkendem Sound in der Gurgel. Fausto hatte verstanden, er brachte ihr das Bier und setzte sich zu ihr. Die Sonnengebräunte kam wenige Minuten später angeschlängelt und bat ihn zärtlich, sie jetzt nach Hause zu fahren. Oder, fragte sie mit spöttischem Blick, ob er etwa noch länger die Gesellschaft dieser Wilden vorzöge. Wobei sie Edda keines Blickes würdigte. Sie sprach Deutsch mit einem starken, englischen Akzent.
„I prefer the wildness“, entgegnete Fausto, ernst und langsam, jedes Wort deutlich betonend, während er Edda ansah. Sie hätte sich auf der Stelle für ihn häuten lassen.
Einige Stunden später fuhr er sie nach Hause, mit einem flachen roten Zweisitzer. Bis vor die Haustür. Nun wusste er wenigstens wo sie wohnte. Es stellte sich heraus, dass beide am nächsten Morgen den gleichen Weg in die Stadt hatten. Sie, in die Uni und später in die Werkstatt, um ihren Wagen abzuholen. Er, zu einem wichtigen Meeting. Er begleitete sie nicht bis zur Wohnungstür, auch Edda hielt sich zurück. Ein kurzer Abschied mit Abstand, jeder in seinen Sitz geklemmt, einige Sekunden des Schweigens. Danke, bis morgen, und schon stand sie vor ihrer Haustür, mit dem leichten Schimmer seiner Rücklichter in den Augen.
Am nächsten Morgen erschien er ziemlich verspätet, raste mit ihr durch die Rushhour, als hinge sein Leben an diesem Meeting, sprach kein Wort mit ihr und warf sie, etwa einen Kilometer Fußweg von der Uni entfernt, an einer roten Ampel aus dem platten Flitzer.
„Keine Zeit“, murmelte Fausto und stob in entgegengesetzter Richtung davon. Sie stapfte durch den kalten Novemberregen und heulte vor Wut. Sie hatte sich extra „zurechtgemacht“. Dazu gehörte auch, dass sie nicht besonders warm angezogen war. Sie verpasste eine wichtige Klausur.
Eddas Tag verging in der miesesten Laune. Natürlich war ihr Auto noch nicht repariert, sie hing im Linienbus, klebte mit der Schläfe an eine Haltestange gelehnt, starrte ins Leere und ekelte sich nicht einmal zwischen dem müde dampfenden, hustenden Businhalt. Sie trauerte um das verlorene Paradies, das sie schon an den Fingerspitzen zu fühlen geglaubt hatte. Sie war wie eingefroren vor Unbehagen über das Ergebnis ihrer offenbar wirkungslosen Reize auf diesen Mistkerl. Die Bushaltestelle war etwa fünfzehn Minuten Fußweg von ihrer Behausung entfernt. Edda hasste Fußwege, wenn sie sein mussten. Sie schleppte sich den Berg hinauf, erreichte ihr wenig luxuriöses Zimmer, aber mit eigenem Bad, sank Minuten später in die Badewanne und rollte sich mit nassem Haar ins Bett. Der Ölofen blaffte, er hatte periodische Kleinexplosionen und vertrug sich zudem nicht mit dem kalten Wind im zu kurzen Schornstein.
Es schellte. Einmal lang, sehr lang und dreimal kurz und nach wenigen Sekunden noch einmal. Ein freudiges Sturmschellen. Ihre Neugier gewann. Da stand er, bewaffnet mit einer roten Rose.
Edda bewertete rote Rosen in Männerhänden als äußerst albern. Diese Rose aber, wurde behütet wie eine Direktleitung zu Faustos Liebe. Sie erfuhr zunächst eine langwierige Sonderbehandlung mit Zuckerwasser, um kurz vor ihrem Zerfall mit Zartgefühl in eine Schmuckschachtel gebettet zu werden. Irgendwann bestand diese Ikone nur noch aus ihrem Stängel ohne Dornen und einem Krümelhäufchen, das den Schachtelboden bedeckte.
Außer der Rose hielt er ihr eine Flasche Champagner entgegen und das bezauberndste Lächeln der Welt, wie Edda meinte. Sie leerten die Flasche gemeinsam, prosteten sich unbeholfen bei fast jedem Schluck durch den Ofenqualm zu und flüchteten danach in die Pizzeria. Sie trumpfte mit ihrem Vater auf, dem interessanten Individualisten, dem passionierten Seemann, dem Abenteurer, Erfinder, Boots- und Brückenbauer. Er staunte, und es reizte ihn ihr wenig bürgerlicher Hintergrund. Fausto plauderte von seinen Reisen, seiner Arbeit der Schreiberei, von Schwierigem und Schönem in seinem Leben, in der Welt. Schon saß Edda mitten in seinem Boot, und dort wollte sie bleiben. Sie hatte beschlossen den Anfang genüsslich in die Länge zu ziehen und Fausto etwas zappeln zu lassen. Er sollte sie eine kleine Weile glühend begehren, bevor sie ihm den längst gefassten Entschluss, sich bedingungslos zu ergeben, deutlich machen würde. Dazu kam es nicht so bald.
Er verschwand nach diesem Abend, war unauffindbar. Edda saß da und vermisste ihn bereits, nach eindreiviertel Abend seiner Bekanntschaft. Hatte sie zu hoch gepokert, sich nicht interessiert genug an ihm gezeigt? Oder zu sehr interessiert? Sie wusste nicht wo er wohnte, durchkämmte rasterartig alle Seitenstraßen des Vorortes, suchte seinen auffälligen Wagen, morgens um sechs und abends um zwölf, erfolglos. Einmal sah sie die schöne Blonde in Stöckelschuhen auf der anderen Straßenseite daher trippeln, doch ohne ihn, was Edda, trotz ihrer erfolglosen Suche, besonders erfreute. Sie suchte zwei Wochen nach ihm, dann gab sie auf. Vergaß ihn nicht, das war nicht möglich, aber andere Ereignisse reihten sich mit ihr in die folgenden Wochen und Monate und darüber schwebte ein kindliches Sehnen.
Sie orakelte sich durch den Tag, im Gedanken an Faustos Liebe oder Nichtliebe. Sie zählte bis zehn, wenn bis dahin kein einziges rotes Auto vorbeifuhr, hatte „er“ sie vergessen. Müsste sie ihn vergessen! Rote Autos waren gerade in Mode.
Auch die fünfte Straßenlaterne musste in weniger als dreißig Schritten erreicht werden, dann käme dieser Fausto zurück und dorthin, wo sie ihn so gerne hätte. Der Hund des Vermieters sollte in den nächsten zehn Sekunden gebellt haben, hörte sie den nervigen Köter nicht in diesen Sekunden, würde sie Fausto ernsthaft, gedanklich in die Wüste schicken.
In die Wüste schicken? Ein reisescheuer Provinzler musste diesen blöden Spruch in die Welt gesetzt haben. Was hatte dieser gegen die Wüste, als sei es die Hölle. Vielleicht wegen der Schlangen und dem übrigen, giftgeladenen Kriechgetier, der Vorstellung des Verdurstens am Tag, oder Erfrierens in der Nacht? Die Hölle konnte schließlich überall sein, mitten in Paris, Bangkok oder Düsseldorf am Rhein, warum bezichtigte man die Wüste? Dort hätte sich jeder normale Mensch, sogar Edda, auf diese Art Tücken der Natur vorbereitet. In Düsseldorf schien das schwieriger zu sein. Sie war der Hölle sich vergessen zu fühlen, hilflos ausgeliefert und rang sich mühsam durch den Alltag. Fausto blieb verschwunden.
An einem dieser besonders verhangenen Tage tauchte plötzlich ihre Mutter auf, das war außergewöhnlich. Edda zog es normalerweise vor zu ihr zu fahren und meistens auch nur, wenn sie Mutters Hilfe brauchte.
Vom Hauswirt hereingelassen, stand die Mamá vor dem Bett ihrer Tochter, die sich mit Kopfhörern verstöpselten Ohren seit Tagen mit „Glucks Euredicce“ identifizierte. Sie hockte in diesem Mythos und war ärgerlich mit Orpheus.
Wie konnte dieser Typ nur so dämlich sein. Wenn einem doch die Götter die Gelegenheit anboten, seine tote Allerliebste lebend wiederzusehen, das Unmögliche zu vollbringen in Aussicht gestellt wurde, dann vertraut man doch auf diese Sippe und hält sich an die Abmachung. Da dreht dieser Blödmann sich um und verdirbt alles mit seinem Misstrauen. Edda hätte die Augen zugekniffen und durch, raus aus dem Horrorstall. Sie hätte sich, wenn man ihr diese Bedingung gestellt hätte, nicht umgedreht. Ganz sicher nicht! Ihr wäre das nicht passiert, schon allein deshalb nicht, weil sie an einem Vertrauensüberschuss litt. Sie glaubte an ein Versprechen des Anderen. Und wenn sie betrogen wurde, vertraute sie eher auf nachträgliche, falsche Beteuerungen ihres Gegenübers als ihrem gesunden Menschenverstand.
Mit besorgt fragendem Blick, die Post der letzten drei Tage in der Hand, sah Mutter die verheulte Edda an und zog den Stecker aus dem Rekorder. Edda jammerte ihrer Mutter gegenüber gerne ein bisschen mehr als nötig, sie genoss deren wohltuende Anteilnahme. Nach einer ganzen Weile des Klagens, als ihr schon eine Schale Suppe an das Matratzenlager gereicht worden war, überflog sie ihre Post. Sie zerfledderte ungeduldig einen Umschlag mit spanischer Briefmarke, so heftig, dass ihr die heiße Brühe über den Bauch schwappte, und die Sternchennudeln im Dekolletee klebten. Die Verbrühung eines dreiviertel Grades ignorierend, las sie halblaut vor, ganze Wortendungen wurden verschluckt. Es war bei weitem kein Liebesbrief, aber für Edda war es viel mehr als das. Fausto lud sie nach Spanien ein, wohin er sich zurückgezogen hatte, um ungestört eine dringende Terminarbeit zu schreiben. Offensichtlich nahm er an, dass Edda ihn nicht stören würde.
Mein Palacio soll auch deiner sein, schrieb er. Wie sie später erfuhr, eine spanische Redewendung, wenn man besonders willkommen ist. Edda sprang mit nackter Brust und wedelndem Brief in der Hand um ihre Mutter herum, umarmte sie jubelnd und wühlte den Seesack hervor. Sie zog sich an, stürzte aus dem Haus in ein Reisebüro und konnte ein Flugticket buchen, schon für den übernächsten Tag. Sie schickte ihm ein Telegramm und schlief bei ihrer Mutter, deren neuer Wohnort sehr viel näher am Flughafen lag als Eddas Zimmer mit Bad. Die Suppe, in der Schale neben dem Bett, schimmelte für längere Zeit vor sich hin.
Edda war wieder zum Erleben erwacht. Sie hatte es nie verlernt sich an der Vorfreude zu berauschen, einzutauchen in dieses Gefühl, vom Kuss der Gegenwart bedacht zu sein, obwohl er durch einen Zukunftsgedanken ausgelöst worden war. Sie tanzte durch die Abfertigungshalle, Vaters alten Seesack hinter sich herschleifend, mit einem Oneway Ticket zwischen den Zähnen. Entschlossen seine Frau zu werden.
In Málaga angekommen, klemmte sie in einer zeitaufwendigen Drogenkontrolle. Das erschien ihr widersinnig, wer schleppte schon Derartiges aus dem Norden mit sich, bis fast an die Grenze Afrikas. Der Mini-Jeans-Rock und sacht ausgetretene Turnschuhe hatten sie nicht vor dem Hippie-Image bewahrt. Ihre Mutter hatte starke Einwände gegen Eddas Outfit vorgebracht, sie hatte ihre Tochter zum Abflug begleitet, in einer Aufmachung, als wollte sie über die Champs-Élysées flanieren. Es konnte auch der Seesack gewesen sein, der bei den Zollbeamten den Verdacht auf ein Lotterleben erweckt hatte.
Fausto war natürlich nicht zu sehen. War ihr Telegramm nicht rechtzeitig angekommen? An diese Möglichkeit hatte Edda nicht gedacht. Ihr war nur seine Absenderangabe unter postlagernd bekannt, keine Adresse. Sie war blauäugig losgestürzt, voller Gier nach Ankunft, ohne eine Antwort auch nur in Erwägung zu ziehen. Wild entschlossen schritt sie in Richtung Ausgang, blinzelte erfreut in das mediterrane Licht, atmete mit Genuss den Süden ein und gedachte sofort zu bleiben. Mit zwölf Mark fünfzehn in der Tasche konnte man allerdings nicht weit kommen. Sie würde den nächsten Bus in Richtung Touristenmeile ausmachen, sich dort einen Job als Kellnerin suchen und Fausto eine zuckersüße Postkarte schreiben, ohne Absenderadresse. Dazu kam es nicht, er tauchte schmunzelnd hinter einem breiten Betonpfeiler auf, hatte amüsiert ihre leichte Verlorenheit belauert und genoss es, trotz erwartet, eine willkommene Überraschung zu sein. Braungebrannt, mit einer schiefen Damensonnenbrille maskiert, stand er vor ihr. Fausto war kein modisch orientierter Mann, das störte sie nicht im geringsten, sie fand ihn einfach nur umwerfend, egal was er am Leibe trug oder nicht.
Edda ließ sich in seine Welt fallen. Sie fuhr mit ihm in seinem flachen Wagen, der noch flacher geworden war. Fausto hatte wenige Abende zuvor, an einer unübersichtlichen Kreuzung eine rote Ampel übersehen. Er zeigte sie Edda später, man konnte sie wirklich nur sehen, wenn man wusste, dass sie dort stand.
Eine unmögliche Ampel, bestätigte Edda eifrig, es sei wirklich nicht seine Schuld, dass er dadurch unter einen Containerlastwagen geraten war. Wie durch ein Wunder, mit nur einem gebrochenen kleinen Finger und einer Beule an der Stirn, war er unter dem Riesenlaster aus seinem Wagen hervorgezerrt worden. Nach diesem Akt waren der Lastwagenfahrer und Fausto, eng umschlungen in die nächste Bar gewankt, und alle am Unglücksort Anwesenden feierten seinen neuen Geburtstag. Als die Guardia Civil endlich eintraf, waren alle so betrunken, dass man gar nicht auf den Gedanken einer Blutkontrolle kam. Sie hatten vollstes Verständnis und hätten nach dieser Todesnähe auch erst einmal jeden zu einem „Cientotres“ eingeladen. Er hat für mich überlebt, kam es Edda in den Sinn.
Der Flitzer war vorsichtig hydraulisch wieder aufgerichtet worden, provisorisch. Er sollte aber nicht schneller als sechzig km/h gefahren werden. Fausto fuhr schneller. Für Edda war es eine Traumfahrt, sie lehnte sich zurück und schwebte im offenen Cabrio die kurvige Küstenstraße entlang. Direkt in die untergehende Sonne hinein. Ab und zu brach sich das Licht und zitterte durch vereinzelt auftauchende Dattelpalmen, verwandelte sich vor ihren Augen in einen Sternenwald. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben bewusst das Gefühl des absoluten Glücks, so wie sie sich Glück vorstellte, und sie hatte es nicht nur aus einer Vorfreude heraus. Jetzt konnte die Welt untergehen, sie hatte gelebt. Das waren Sekunden, vielleicht auch nur Bruchteile davon, dass sie sich so weit vorfühlte. Sie war dem Leben dankbar, hatte die Lösung vor Augen gehabt und kam mit diesem Erlebnis zurück zu Fausto, sah ihn von der Seite an und sprach etwas benommen, wie an sich selbst gerichtet.
„Was zum Teufel ist Liebe und warum ist sie so schön und trotzdem so tragisch?“ Edda hatte einen Startschuss abgefeuert, ihn aufgefordert, ihr mit philosophischem und spirituellem Geplänkel unter die Arme zu greifen, als hätte er auf diesen Startschuss gewartet, als sei er auf diese Frage vorbereitet gewesen.
„Liebe ist nicht schön“, sagte er ernst, „aber sie erzeugt Schönheit. Liebe ist auch keine Erotik oder was man ihr sonst noch alles so gerne unterschiebt. Die Liebe lässt uns in eine Unendlichkeit reisen, eine Unendlichkeit, die wir unbewusst ersehnen. Sie schneidet uns währenddessen aber nicht ab von der Welt, sondern lässt uns gleichzeitig das weltliche Dasein fühlen. Sie kann von dem unerwünschten Wissen der Vergänglichkeit befreien und Augenblicke zu Ewigkeiten werden lassen.“
Genau das hatte Edda gerade erfahren, war es möglich, dass er das bemerkt hatte? Fausto zündete sich eine Zigarette an, er fuhr langsamer. Wie in einzelne kleine Geister zerteilt, schwebte der Qualm aus dem Cabrio.
„Der Unterschied, zwischen dem Gefühl der Liebe und der Idee der Liebe, ist erschreckend“, sagte er. Edda liebte den Ton seiner Stimme, aber der letzte Satz wirkte etwas bedrohlich auf ihre Stimmung.
„Liebe birgt den Anspruch auf eine Begegnung der Seelen, wenn das stattfindet, wenn ihre Stimmen sich verständigen, ist die Liebe unsterblich. Es gibt eben nur Liebe oder keine Liebe, alles andere sind Reflexionen oder falsche Wunschvorstellungen. Das habe ich mir nicht ausgedacht, es ist eine überlieferte Weisheit, der ich nach bescheidenen Überlegungen zustimme. Auch kann die Liebe niemals tragisch sein, Edda, um auf deinen Seufzer zurückzukommen, die Tragik zeigt sich eher dadurch, dass unter ihrem Namen eine Erwartung gelebt wird, die zwangsläufig zu Enttäuschung führt. Man hat sich selbst getäuscht und wird enttäuscht, aufgeweckt, zurück in die Realität geworfen. Das ist tragisch, nicht die Liebe. Doch selbst die Illusion der Liebe, die sogenannte rosarote Brille, kann eben schon verzaubern, sie befreit dich zwar nicht von der Zeit, doch sie kann eine Lichtung dort hineinschlagen und du erhaschst den begehrten Blick in zeitlose Ebenen. Das kann leicht zur Sucht werden, hat aber mit Liebe wenig zu tun. Ich kann nicht aus Erfahrung sprechen, ich habe mich diesem Phänomen noch nicht genähert. Das muss wirklich nicht sein!“
Fausto nahm einen langen, ruhigen Zug aus seiner Zigarette. Er sog niemals gierig daran. Er fuhr wieder schneller. Der Fahrtwind fegte den Qualm nun stürmisch davon. Keine kleinen Geister mehr. Sie schwiegen lange Minuten. Dann schielte Fausto unsicher zu Edda hinüber, hatte sein Gerede sie verwirrt? Vielleicht sollte er ein etwas freudigeres Thema anschneiden. Sie wirkte abwesend, als wolle sie sich zurückziehen. Fast als sei sie beleidigt. Oder traurig? Er kannte sie kaum.
Dann brach er das Schweigen und sagte, wie sehr er sich über ihre Anwesenheit freue. Er erzählte auch, warum er sich nach Spanien zurückgezogen hatte und schweifte wieder ab, rutschte beinahe in ein Referat hinein.
„Das Bedürfnis sich zurückzuziehen“, meinte er, den Blick auf den Straßenverkehr gerichtet, „ist erstaunlicherweise etwas Außergewöhnliches, eher selten für einem gesunden Menschen. Es wird so viel von der Selbstfindung geredet, das ist aber in der Masse schwer möglich, da die Gesellschaft auf die freie Entwicklung des individuellen Geistes einen zu hohem Druck ausübt. Der Gruppengeist hat zwar eine notwendige Energie für das Individuum, doch sollte man sich nicht zu sehr mit ihm identifizieren, sondern sich zu trennen wissen. Man kann sehr leicht, durch den Einfluss dieser Kräfte gesteuert, am Bewusstwerden gehindert werden.“
Edda war erstaunt, wieso sprach er jetzt von Gesellschaft und Masse, in dieser zauberhaften Zweisamkeit!
„Ebenso lehne ich eine enge Bindung an einen Menschen ab. An eine Partnerin“, schob er schnell hinzu. Aha, jetzt kommt es, der Eremit auf großer Fahrt, dachte sie.
„Es ist mit vielleicht lebenslanger Anstrengung verbunden, ein wirklich individuell geformtes Ideal aufzubauen, es sich regelrecht zu erschaffen. Ein Ideal, das nicht anfällig ist für Manipulationen. Ein Ideal-Seiner-Selbst, für das eigene, das innerste Empfinden. Für die richtige Anwendung des Verstandes, der Liebe und natürlich auch der Macht. Das ist eine eigene Schöpfung und kann niemals aus dem Geist der Masse heraus geboren werden.“
Auch diese Aussagen hatte er von einem indischen Weisen übernommen, dessen Name Edda später noch sehr vertraut werden sollte. Aber vorerst hielt sie nicht viel von dieser Anstrengung, die eigenen Begierden zu überrumpeln, um sich mit etwas Edlem in der Zukunft zufrieden zu geben. Etwas, was wahrscheinlich sowieso nicht vor dem Greisenalter zu erlangen war. Sie wollte jetzt genießen, dafür würde sie ihre Seele verkaufen. Leicht trotzig und sanft überheblich antwortete sie ihm.
„Das mit dem Ideal hört sich gut an, obwohl mich das Wort für diesen Begriff abstößt. Es kommt mir überheblich vor, auch ein bisschen wie etwas Wurzelversprechendes, etwas für Haltsuchende. Falls das aber wirklich der Weisheit Anfang sein sollte, gilt es eben nur für einen selbst, wie du schon sagtest. Man sollte es mit Sicherheit anderen Menschen nicht aufdrängen, schon gar nicht missionarisch unterjubeln. Außerdem habe ich zu vernehmen geglaubt, dass du einen großen Bogen um die Liebe machst?“
Eddas Aggressionen pflegten immer noch, schon beim kleinsten Anflug von Lehrerton in der Stimme des Gesprächspartners, zu erwachen. Diesen Ton hatte sie soeben aufgefangen. Sie griff neuerdings in einem Gespräch auch gerne nach dem Gegenteil, oft auf Kosten ihrer eigenen, mühselig zusammengeflickten Meinung oder Interesses. Die Phase der verbalen Anbiederung war vorüber.
„Mit Äußerungen über dieses sogenannte „Geistige-Ideal-Seiner-Selbst“, kann man es zerstören, ich glaube nicht einmal, dass man darüber sprechen sollte. Vielleicht entweiht man es dadurch“, fügte sie hinzu.
„Geistiges-Ideal-Seiner-Selbst“. Edda hatte diesen Begriff noch niemals zuvor gehört, sie plapperte rein intuitiv in den sanften Abendwind, als sei es ihr tägliches Thema. Fausto bemerkte ein erstaunliches Konglomerat von Intelligenz und Naivität in diesem Spatz, der mit den Flügeln flatterte.
„Du gehörst also zu dieser Spezies, die sich als innerer Einsiedler sieht“, stocherte Edda, „während du draußen in der Gesellschaft, die wir auch Masse nannten, herumstöberst, dein sich windendes Ego unter den Arm geklemmt? Dich zwar für separat elitär empfindest, jedoch nach dem Beifall des Pöbels lechzt?“
Sie fühlte sich sicher, immerhin saß sie in seinem Auto. Er schwieg, sie hatte verstanden und doch nicht verstanden.
Edda war kein überzeugter Antagonist, auch wenn sie in letzter Zeit ihre Zunge in den Kneipen an diesem aufgesetzten Kontra geschwätz wetzte, obwohl sie von ihrer inneren Stimme verhöhnt wurde. War das ihr Beitrag zum Aufbegehren? Vielleicht ein Genuss, des Gegners Engagement zu messen? War es etwa nur um sich interessant darzustellen, hervorzuheben, von ihrer Unsicherheit abzulenken? Oder war es das verspätete Wehren gegen die väterliche Autorität.
Sie war auf dem besten Weg ihre Glückseligkeit in den Reißwolf zu falten. Sie bremste schnell ab, schaltete auf Harmoniebedürfnis. Hier wollte sie keinen faulen Wurm aufstöbern, aus Fausto hervorzerren oder sich ausdenken, sie wollte einfach nur ganz nahe bei ihm sein und ihn großartig finden.
Am ersten Abend tranken sie beide etwas zu viel vino tinto, mit großem Vergnügen. Sie überstanden die gemeinsame Nacht, zusammen in einem Bett, unbeschadet, und fielen am nächsten Morgen übereinander her. Es folgten außergewöhnliche Tage und Nächte, voller Durst und Leben, Gespräche und Erstaunen.
Edda war keine selbstbewusste junge Frau, keine intellektuell orientierte Studentin und fern der Emanzipation, die in aller Munde schwelte. Sie verstand es aber, ihren Mitmenschen genau das vorzugaukeln und spielte, vermengt mit diesen Werten, ihre Weibchenrolle, gepaart mit wachem Verstand. In den folgenden Tagen mit Fausto, vertrat sie hartnäckig die Meinung jeder im Gespräch auftauchenden Minderheit. Mit Worten, als sei sie in ihrer Meinung völlig unflexibel. Sie vermittelte den Eindruck starr und fest verankert zu sein. Was sie gar nicht war. Denn sie war erschreckend beeinflussbar und hätte mit dem gleichen Eifer das Gegenteil behaupten können. Aber das hatte Fausto noch nicht erkannt. Er schwang sich als Orientierungsengel auf.
„Jede Wahrheit, die zu stur befolgt wird, an die man sich fanatisch hängt, verliert an Wert.“
„Wer spricht denn hier von Wahrheit“, fiel Edda ihm ins Wort, „es ist nur in diesem Augenblick ein Standpunkt, vielleicht nicht einmal meiner.“ Er ignorierte ihr entwaffnendes Lächeln und griff den Faden über die Inflexibilität wieder auf. Hatte er einmal ein Thema auf der Zunge, wollte er es auch komplett loswerden.
„Also, das ist wichtig, Edda, man muss frische Einflüsse zulassen, ein Leben lang dem Geist die Gelegenheit bieten sich zu erneuern, oder wenigstens sollte hinzugefügt werden. Das heißt, ein immer neuer Aufbruch ist nötig. Das Leben wird permanent durch alles Mögliche, Angenehmes wie Unangenehmes, überdeckt, doch wirklich zeigt es sich erst im schöpferischen Neuwerden. Dieses bedeutet eine Verbindung mit der Gegenwart, und man kann sie nicht erfahren, wenn man sich fest bindet, egal an wen oder was.“
Das mit dem schöpferischen Neuwerden verstand Edda nicht. Sie war doch schöpferisch veranlagt und war gerade dabei in ein „Neuwerden“ hineinzuspringen, wovon redete er? Sie, unflexibel? Fausto wusste nicht wie schmerzhaft flexibel Edda sein konnte, sie wollte es ihm schon zeigen. Sie glaubte erneut den verhassten Lehrerjargon zu wittern, aber sie schwieg und zwang sich, geduldig zuzuhören.
„Der Geist muss besonders gepflegt werden, es heißt in der Welt von der ich spreche, dass das ursprüngliche Wesen des Menschen der Geist ist, als das höchste Ganze, das darf niemals stagnieren. Bevor der Mensch aber bereit ist dieses Ganze zu entdecken, bleibt er unfertig. Ein Teilstück, das sich meist unbewusst zwar, aber doch nach dem Ganzen sehnt. Der größte Teil der Menschheit versucht dieses Sehnen durch eine Partnerschaft mit einem anderen Menschen zu kompensieren, was wie wir wissen, ein Irrtum sein muss. Das Ich ist dabei schmerzhaft separat. In den Upanischaden wird das auch auf die einfache Weise ausgedrückt: Wo immer es ein „Anderes“ gibt, da gibt es auch Angst.“
Edda wurde das zu abstrakt, erstens empfand sie eine Partnerschaft nicht als Irrtum und zweitens, was gingen sie die Upanischaden an. Sie hatte zwar von diesen philosophischen Schriften aus der Urzeit gehört, doch kannte sie keinen einzigen Satz aus deren Inhalt. Sie wusste nur, dass diese Texte als Quelle der Autorität für eine höhere Wahrheit galten, von der innersten Wahrheit der Dinge sprachen. Eigentlich interessierte sie sich inzwischen brennend für diese Themen, doch nicht zu diesem Zeitpunkt. Edda wollte keine Antithese gegen die Partnerschaft von ihm hören, ihre Liebe zu ihm, nicht als zwangsläufigen Irrtum dargestellt sehen. Sie hätte zu gerne gehört, dass er sie liebe. Er war in seinem Element, bemerkte ihre Enttäuschung nicht und sah sie keinen Moment an, seine Worte ähnelten einem Selbstgespräch.
Edda hatte keine Fragen gestellt oder ihn mit einer weiteren Bemerkung aufgefordert, vor ihr, verbal in seinen Gedanken zu graben. Sie ahnte, dass er Vieles zitierte. Sie hatte seine Bibel nahe neben der Schreibmaschine liegen sehen und kurz durchgeblättert. “Die Synthese des Yoga“, von Sri Aurobindo. Wenigstens hatte sie den Namen seines geistigen Vorbildes behalten. Edda wurde stutzig, versuchte er sie mit wenig konventionellen, nach Meister-Zitat duftenden Sprüchen darauf vorzubereiten, dass er eine engere Beziehung zu ihr ablehnte, nebenbei aber alles Angenehme daran mitnahm, doch hauptberuflich nach einer Art Erleuchtung des Geistes trachtete?
Lieber Gott, bitte, lass ihn keinen Spinner sein, dachte sie flehentlich. Das Wort Geist schien ihn besonders zu beeindrucken. Was stellte dieser so umhegte Sondergeist mit dem täglichen Übermaß an Alkohol und Zigaretten an, fragte Edda sich. Auch seine Lust am Sex, er hatte sich zu ihrem Erstaunen, anfangs dabei ein wenig unbeholfen gezeigt, harmonierten nicht mit den Interessen eines Yogin.
Soweit sie über das Thema Yoga unterrichtet war, mit einigen Vorurteilen fundamentiert, hatte sie eine Menge Gerede darüber immer für eine Art Modeerscheinung oder Wichtigtuerei gehalten. Aber jetzt, aus Interesse an Fausto, war sie bereit einem Yogaverein beizutreten. Yogaschule? Yogaclub? Sie wollte sich auch einige Fachliteratur über sein Hobby besorgen. Hobby, wie sie es unbedarft nannte. So könnte sie ihm vielleicht näher sein und auch wissen, was wirklich gemeint war, wenn er von dem „Höchsten Ganzen“ sprach. Konnte man das aus Büchern erfahren? Erlernen?
Eigentlich glaubte sie mit dem Gegenwartsgefühl seit frühester Kindheit enge Bekanntschaft geschlossen zu haben. Ihr kam der Tanz der Herbstblätter in den Sinn. Doch offensichtlich hatte sie dabei etwas Wichtiges nicht mitbekommen, es schien mit größerer Anstrengung verbunden zu sein, glücklich in den Moment des Seins zu sinken!
„Das Positive generell, nicht individuell gesehen, wird immer verschluckt vom Negativen“, sagte Fausto.
Was kommt denn jetzt noch, dachte Edda ungeduldig. Sie wollte nichts wissen von dem, was er das Universelle Negative nannte. Sie sah ihn zweifelnd an und erwähnte die Geschichte von den bekannten tausend Sorgen, die durch eine Freude vertrieben würden. Fausto meinte, das sei nur ein Sekundengenuss, eine Freude kann nicht gegen tausend Sorgen gewinnen.
„Bei einer größeren Ansammlung von äußerlich schön zu nennenden Menschen, was rein theoretisch vorzustellen wäre, wirkt der einzelne nicht mehr schön. Er verliert den Anspruch auf die Schönheit durch die Relativität, durch den fehlenden Gegensatz. In der Bewertung verliert er sich. Die Gewohnheit zu messen, hat ihren Reiz eingebüßt. Doch äußere Hässlichkeit in der Masse bleibt bestehen, denn Negativität mit erhöhtem Vorkommen gewinnt an Macht. Es sieht so aus, als ob das Schlechte nicht kämpfen muss, um sich zu behaupten. Innere Schönheit allerdings gewinnt, je häufiger sie auftritt. Ein Rudel gutartiger, harmonisch ausgeglichener Menschen, die den Kampf der Natur nicht als inneres Schlachtfeld zulassen, was leider auch nur eine rein theoretische Vorstellung sein kann, würde für jedermann Empfinden als Außenstehender, ob er es persönlich gut findet oder nicht, als gut bewertet. Auch ohne einen Massenmörder in der Mitte haben zu müssen, wird das Gute erkannt. Das echte moralische Empfinden braucht eigentlich keine sichtbaren Gegensätze. Es ist aber leider zu einer von der Gesellschaft angespitzten Modifikation verschlampt, die sich dann, wie vererbt in den Geistern manifestiert hat. Von Jahrhundert zu Jahrhundert spitzer. Einst fraß man Menschen mit Haut und Haar, besonders die Herzen wurden den Verehrenswertesten der Lebensgemeinschaft zu Füssen gelegt, das war edel, das war gut. Heute gilt es schon als unmoralisch einen toten Spatz auf der Straße liegenzulassen. Es gibt sehr viele plattgefahrene Spatzen. Ich wollte nur sagen, die Moral, je zivilisierter sie ist, schlendert der totalen Degeneration entgegen, ihr Befolgen ist reines Gesetz. Der Abgrund zwischen beidem vergrößert sich beängstigend.“ Edda hatte den deprimierenden Tonfall in seiner Stimme nicht überhört.
„Eine einseitige Sicht“, sagte sie, „die Moral bestimmt doch unsere Welt. Sie ist der Motor der Zivilisation, der Kultur, der Grundstein unserer Gesetze. Der Grundstein jeder Gesellschaft. Moral ist flexibel, nicht falsch oder richtig, sie vertritt einfach nur die jeweilige Auffassung eines Stammes, einer Nation oder eines Kontinents meinetwegen. Sie hat alle Macht, denn wenn man gegen sie verstößt, meldet sich die Rechtfertigung oder das Schuldgefühl. Sie sorgt dafür, dass mehr Gesetze entstehen, und dass Menschen, die gegen sie verstoßen, bestraft werden.“ Wieder erstaunte ihn ihr kindliches Gemüt.
„Da sagst du es ja“, antwortete Fausto, „mehr Gesetze, da der Wunsch gegen die Moral zu verstoßen, in jedem Menschen stärker vorhanden ist als er zuzugeben bereit ist. Sobald sich ungesehen die Gelegenheit ergibt, bricht man gerne die Gesetze der Moral. Menschen sind im Grunde nicht gut oder böse, sie werden nur eingeteilt in jene, die nur in Gedanken die Moral überspringen und jene, die das in die Tat umsetzen. Nur die Tat trennt sie voneinander.“
„Aber wieso n u r die Tat“, protestierte Edda, „sie ist doch das Ausschlaggebende, nicht umsonst heißt es, an ihren Taten werdet ihr sie erkennen.“
„Nein, an ihren Gedanken wären sie zu erkennen. Sie kennen sich zwar meist nicht einmal selbst, aber sie sind lange nicht so gut, wie sie behaupten, nur weil sie ihre antimoralischen Gedanken nicht ausleben. Genau Jene sind die von mir so gefürchteten Moralisten, welche das gesunde moralische Empfinden enthauptet und über den Stumpf ihre staatlichen Gesetze gestülpt haben.“
Eines Tages wurde Fausto von seinem Verlag zurückbeordert, er musste innerhalb weniger Stunden abfliegen. Sein Auto, von Edda inzwischen wie ein vertrauter Mitwisser angesehen, wurde in einen Autozug verladen. Sie hatten in seinen Polstern oder auf der Motorhaube rangelnd, allerlei verrückte Sachen angestellt. Eine Fahrt nach Hamburg, auf den eigenen vier Rädern, hätte dieser Kumpane nicht mehr bewältigen können.
Edda wurde von Fausto am Flughafen abgesetzt, ihr Flug war einige Stunden früher angesagt als seiner. Er verabschiedete sich kurz und verschwand aus ihrem Blickfeld, ohne sich auch nur einmal nach ihr umzudrehen.
Danach sah sie ihn monatelang nicht, auch hörte sie nichts von ihm. Aber sie hatte einen großen Schatz in sich geborgen, mitgebracht. Es war ein heilendes und gleichzeitig berauschendes Zugehörigkeitsgefühl Fausto gegenüber, ein Gefühl, das sie auch ohne seine Anwesenheit erfüllte. Es war, als könne sie nur in Gedanken an ihn, richtig atmen. Fausto besetzte sie, besser gesagt, sie besetzte sich mit ihm. Edda nannte es Liebe.
Ihr Cousin, der Psychiater, dem sie ihr Gefühlschaos anvertraute, attestierte ihr Idolatrie ersten Ranges, über den Vater direkt auf den Liebsten übertragen.
Edda sah es weniger krank als abenteuerlich rosarot. Sie stürzte sich in die Literaturwelt des Yoga, erfuhr von Meistern und etwas weniger meisterlichen Besserwissern über das Sein. Sie orientierte sich mit großer Skepsis und fand ihren Fausto gar nicht mehr so abgehoben. Schon nach dem Verschlingen weniger dieser Bücher, wollte sie am liebsten nach Indien abreisen, natürlich nicht ohne ihn. Doch ihr Liebster war unauffindbar. Außerdem stand ihr Abschlussexamen einer Indienreise im Weg. Sie schob Philosophie und Yoga zwischen ihren Uni-Kram.
„Der Individualismus ist für die Vollkommenheit wichtig und ebenso notwendig wie der Gruppengeist“, las sie. Hatte Fausto das in Verbindung mit seinem Selbst-Ideal nicht anders gesehen?
Dabei versuchte Edda das Wort Vollkommenheit zu übergehen, ähnlich dem „Ideal-Seiner-Selbst“, und es durch etwas weniger Erschreckendes in Gedanken zu ersetzen. Sie musste sich Mühe geben nicht das ganze Buch wegzulegen, nur wegen dieses einzigen Wortes, das ihr gegen den Stich ging. Sie wollte über Einsamkeit und Individualität lesen, von „Experten“ darüber erfahren, von Leuten, die sich damit auskannten, die der Einsamkeit etwas Positives abgewinnen konnten, die in die Tiefe geblickt hatten. Sie erwartete ein fertiges Rezept in den Büchern zu finden, aber wenn man schon gleich am Anfang von Vollkommenheit sprach, fühlte sie sich fehl am Platze. Fehl in diesem Buch, bei diesem Denker. Edda zwang sich weiterzulesen, obwohl sie nicht vollkommen werden wollte. Sie gestand das einem Baum zu oder einer Landschaft, aber bei einem Menschen hielt sie das für unmöglich und auch unnötig.
Zurück zu Gruppengeist und Individualität. Beide Kräfte, so las sie, ergäben zusammen das berühmte anzustrebende Gleichgewicht.
Aha, diese Vollkommenheit sollte also nur dem Gleichgewicht zugeschrieben werden, nicht dem Menschen direkt! Sie hatte also wieder übereifrig kombiniert, einem Satz ihre Interpretation untergeschoben, bevor sie den nächsten las. Fausto vertrat die Gruppe, die ganze Welt und alles was nötig war. Edda war das Individuum, welches die Kräfte, wie vorgeschlagen, zu vermischen gedachte. Sie verstand darunter eine symbiotische Bindung und betitelte diese mit Liebe. Ihr Ideal, zwei ineinander vernarrte Menschen, die nur sich sahen und sonst niemanden liebten. Nach Faustos Meinung, ein Egoismus zu zweit. Sie schwebte in ihren Gedanken über die Buchseiten hinaus und starrte ins Leere, dachte an einen von Faustos Monologen, dem sie unwillig gefolgt war und ihn trotzdem nicht aus ihrem Kopf verbannen konnte. Erwartete er von dem Zusammenspiel zweier Menschen, die sich nahe gekommen waren, wirklich etwas so anderes als sie? Sie erinnerte sich an seine Worte.
„Zwei Menschen, die ihre Trennung vom „All Eins“ so lösten, dass sie gemeinsam in der Illusion schwebten nicht allein zu sein, die Fremdheit des Anderen einfach mit ihren Projektionen übermalten, lebten schlicht und einfach im Irrtum.“
Edda empfand schon das Wort „All Eins“ als ihren Feind. Sie hatte auch den Eindruck, wenn er von diesem „All Eins“ sprach, dass er das Wesentliche darüber zwar intellektuell erfasst zu haben schien, aber fühlte er es auch? Fehlte es ihm vielleicht an Glauben? Faustos Gesichtsausdruck veränderte sich, wenn er dieses Wort erwähnte, das war ihr aufgefallen. Der Zug um seinen Mund wurde leicht bitter oder sogar traurig. Eine Trauer in Begeisterung, nannte sie es. Als empfinde er es als schmerzhaft von dieser so gelobten Art des Seins getrennt zu sein. Schmerz, mit der Begeisterung der Sehnsucht gepaart. Edda überlegte, wie man seinem Glauben zur Geburt verhelfen könne.
Sie legte ihre Unterlagen für ihre Diplom Arbeit zur Seite und stapelte versunken, auf der Suche nach Hinweisen, seine Bücher durch, die sie sich aus seiner Wohnung besorgt hatte. Er hatte ihr in Spanien einen Zweitschlüssel überlassen, damit sie nach dem Kaktus sähe und den Briefkasten leere. Für Edda war die Schlüsselübergabe ein Liebesgeständnis gewesen.
Sie stieß auf C.G.Jungs Welt der Symbole und ihre Bedeutung im kollektiven Unterbewusstsein. Hier sollten sich diese Symbole auf die Psyche so auswirken, dass sie Assoziationen hervorriefen, welche die Vorstellungskraft mobilisieren und stärken. Mit dieser jeweils individuellen Imagination ließe sich der Glaube aufbauen. Das klang für Edda nachvollziehbar. Leider konnte man sich schwerlich ein Symbol des „All Eins“ bildlich vorstellen und schon gar nicht solch ein Etwas, das von Fausto auch als solches beachtet und täglich geschmückt werden sollte. Vor dem er vielleicht sogar meditieren würde. Ein sichtbares Symbol, stets an seiner Seite?
So legte sie sich die Theorie mit den Symbolen zurecht. Und dann entschied sie, ein Mandala für ihren Liebsten zu malen, ein einzigartiges, das seinem Glauben auf die Sprünge helfen sollte.
Und wie sah es mit ihrem eigenen Glauben aus? Edda überlegte, an was glaubte sie selbst, wirklich. Dabei fiel ihr nur die Liebe ein. Dafür, so entschied sie, benötige sie keine zusätzliche Fantasie oder die Reise in das kollektive Unterbewusstsein auf den Pfeilern der Symbole. Sie beschloss eine kleine Liste zu erstellen, an was sie glaubte oder gerne glauben würde. Ein Spiel auf einer äußeren Ebene, bei dem sie gedachte ihren Glauben überprüfen zu können. Es entstand nur eine Wunschliste, keine Glaubensliste. Sie hatte Wunsch mit Glauben verwechselt.
Eddas Gedankengänge wankten zwischen kindlicher Naivität und wissenschaftlichem Verständnis. Hin und Her. Die wenigen Kritiker ihrer Bilder warfen ihr vor, sie male zu symbolisch. Vielleicht hatte das seine Bedeutung, sehnte sie sich nach einem greifbaren Glauben? Eigentlich, wenn sie intensiv lauschte, fühlte sie, seit jeher, stark und sicher und ohne Zweifel, eine höhere Intelligenz in und über sich. War ihr das nicht Glaube genug? Sie müsste nur das Lauschen üben!
Über diese Sicherheit hatte sie nie zuvor nachgedacht, geschweige denn, sie in Worte verpackt. Und nun hatte Fausto an diesen Umrissen gerüttelt, und der zusätzliche Inhalt vieler seiner Bücher bohrte sich in die Tiefe und drang zurück in ihr Bewusstsein. Sie fühlte sich dadurch, wie eines wertvollen, unbewussten Geheimnisses beraubt. Der Vorwurf des fatalen Irrtums, in dem sie Faustos Überzeugung nach lebte, um sich mit Hilfe der Zuneigung zu einem Geliebten aus der Einsamkeit zu hieven, beleidigte sie.
Sie liebte ihn, ohne Wenn und Aber. Sie war bereit und würde gerne alle Erkenntnis der Welt verraten haben, inklusive sich selbst, nur um das Gefühl der unbedingten Zugehörigkeit zu Fausto, mit ihm an ihrer Seite leben zu dürfen. Ihr Wunsch nach Zugehörigkeit wollte nicht im „All Eins“ herumirren, er strebte unbedingt personengebunden einer Erfüllung zu. Das war offensichtlich nicht in Faustos Sinn, denn er war immer noch wie vom Erdboden verschluckt.
Edda war sehr beschäftigt mit ihrem Abschlussexamen. Es gelang ihr die Gedanken an Fausto weitgehend auf die Nächte zu verbannen, und wenn er sich störend zwischen ihr Lernpensum schob, praktizierte sie ihre neuerworbenen Kenntnisse der Atemübungen aus der Welt des Yoga. Sie zählte und schnaufte, abwechselnd aus ihrem linken, dann aus dem rechten Nasenloch, hielt die Luft an und versuchte so ihre Einsamkeit und Enttäuschung zu überwinden. Bis ihr schwindelig wurde. In der Nacht fielen die Erinnerungen über sie her, ungeschützt lag sie da und vermisste den Klang seiner Stimme.
„Der Einsame wird von unserer Gesellschaft als Kranker dargestellt“, hatte Fausto behauptet. „Wie ein Eimer Rohöl hunderttausende von Litern Trinkwasser verderben kann, verdirbt er sein funktionierendes Umfeld. Der Einsame ist ein Glied in der Kette, und so wie ein fauler Apfel im Obstkeller kann er den anderen schaden, die Gesellschaft anfaulen. Anstatt sich auf den Konsum zu konzentrieren, rührt er an unerwünschte Wahrheit, stiftet Unruhe. Das wird als krank eingestuft. Der Einsame sollte zum Wohle der Gesellschaft vor seiner Krankheit bewahrt, therapiert oder am besten ausgestoßen werden, verbannt. Beinahe ein Todesurteil, oder schlimmer noch, wie es damals schon Ovid empfand, als man ihn an das Schwarze Meer abschob.“
Die Sache mit Ovid hatte Edda gleich nachgelesen, als sie aus Spanien zurückgekommen war. Sie stellte sich nun die Strände des Schwarzen Meeres vor, bevölkert von Einsamen. Unüberschaubare Ladungen von faulen Äpfeln kollerten begleitend am Wellenrand vor und zurück.
So also bewahrte man das Gemeinwesen von dieser, besonders von Politikern gefürchteten Pest, die anscheinend auch in Edda hauste. Man versuchte mit dem Drill dagegen schon im Kinderhort zu beginnen. Gesellschaftliche Solidarität sollte die wichtigste Bedingung darstellen, um nicht als bemitleidenswert oder sogar anormal zu gelten. Jeder Einzelne musste als Teil des Ganzen erkennbar sein, ansonsten bedeutete er eine Gefahr für die Anderen, für die Normalen, für das System in dem sie funktionieren sollten.
Das hatte man verpasst Edda klarzumachen, sie hatte als Kind allein im Wald herumgespielt, gehaust. Deshalb also, habe ich immer krampfhaft versucht irgendwo zugehörig zu sein, hatte sie damals zu Fausto gesagt.
„Das Unbehagen der Einsamkeit begleitet die Menschheit nun einmal seit ihrer primitivsten Zeit“, hatte Fausto sie getröstet. „Sie begleitet jeden Menschen! Es sei denn, er spielt, von der Furcht getrieben, das Theater des „Sich Betrügens“ perfekt. Der erste Schritt dagegen ist ein wenig erfolgreicher doch unaufhörlich praktizierter Versuch der Einsamkeit mit dem Liebeswunsch zu begegnen, um ihr zu entkommen. Damit wird aber nur die Möglichkeit des individuellen Erkennens endgültig verraten.“ In diesem Punkt schien sich Fausto besonders sicher zu sein, er hatte ihn immer wieder angesprochen.
Aber wieso denn endgültig, meinte Edda damals, man könne doch, wenn man es einige Male ausprobiert hätte und dann bemerke, dass man auf diesem Weg der wahren Einsamkeit nicht entfliehen könne, aufgeben, von vorne beginnen und immer noch die andere Richtung einschlagen, einen Neubeginn wagen. Das könne man schließlich immer wieder im Leben.
„Nein“, hatte er geantwortet, „man verliert sich in der Menge und findet nicht mehr den nötigen Ausgangspunkt, man verliert die Verbindung zum instinktiven Vertrauen in die Einsamkeit, man verliert sich selbst in der Masse.“
Ja was denn nun, hatte Edda gedacht, Masse oder Individuum? Sie wollte die Sache nicht im Ganzen erfassen, ihren Traum nicht verhöhnt davonschleichen sehen. Fausto bestand auf der bewussten Einsamkeit, als wichtigste Basis für die geistige Entwicklung. Das konnte er ernsthaft behaupten, vor einem rund getrunkenen Deckel, mitten in der vollbesetzten Kneipe sitzend.
Edda wusste inzwischen von Vielem etwas, von Manchem etwas mehr, aber von nichts genug, um behaupten zu können, sie sei Expertin. Kein Gebiet gehörte zu ihr. So wie sie später viele Länder kennenlernte aber nirgendwo wirklich zugehörig war, kein Zuhause empfand. Geographisch blieb sie überall eine Fremde, und kein Experte akzeptierte sie unter Experten. Nicht einmal Freundschaftsexperten hielten sie zuständig für Freundschaft. Es gab genügend Menschen, die immerzu von ihren zahlreichen besten Freunden zu berichten wussten. Die für diese durchs Feuer gingen, sich eine Hand abhacken ließen oder sogar beide Hände der Glut zu opfern bereit waren. Edda hatte solche Freunde nicht, keiner handelte mit seinen Gliedmaßen im Vertrauen auf die Aufrichtigkeit ihrer Freundschaft. Doch sie erinnerte sich mit zärtlicher Zuneigung an ihre kleine Schwester, die sich todesmutig, mehr als einmal, mit gesammelter Kleinkindkraft zwischen Edda und ihren gemeinsamen Erzeuger geworfen hatte, um seine von Schlägen gesteuerten Erziehungsversuche an Edda zu verhindern. Die Kleine hatte dem Vater gegen das Schienbein getreten und sich mit einer Heidenangst zwischen ihn und Edda geworfen. Sie war übrigens nie getauft worden. Einmal hatte sie sich in seiner Wade festgebissen um ihn abzulenken, um Edda zu beschützen.
Den Bierschaum vorsichtig rüsseln, diese Geste saß sehr tief, selbst wenn sie, was nicht oft vorkam, ihre Oberlippe vom unvermeidlichen Konturenstift verschont hatte. Eine gezeichnete feine Linie, etwas dunkler im Ton als ihr ebenfalls nicht wegzudenkender Lippenstift. Eine Linie, die ihr nicht einmal annähernd den in Jungmädchenjahren ersehnten Schmollmund verlieh.
Eine besonders herzlich scheinende, vollbusige, wulstlippige Geliebte ihres Vaters, hatte ihr vor Jahren, als sie sich noch im Zwitterzustand befand, ihren Sexus und etwas Weiblichkeit an sich zu entdecken suchte, dringend zu dieser Linienführung geraten. Damit Edda etwas femininer aussähe. Denn, mit ihrem schmalen langen Mund, ihrer schmalen langen Nase, ihrem schmalen langen Körper und ihren kurzen breiten Händen, wirke sie leider sehr maskulin. Wusste diese Beraterin etwa nicht, dass Edda die meisten jungen Jahre ihres Lebens genau das zu sein versucht hatte, dem Vater einen Sohn zu ersetzen, im Vier-Mädchen-Haus.
Doch nun war die Zeit gekommen, nun wollte auch Edda eine Frau sein. Sie hatte Dutzende von Konturenstiften seitdem angespitzt. Sie hatte ihren Gang tänzerisch aufrecht ausgefeilt, kleinere Schritte geübt. Nicht mehr breitbeinig wie ein Seemann von einem Bein auf das andere geplumpst. Nein, einen Fuß gezielt vor den anderen gesetzt, trainiert, bis sie mit geschmeidiger Eleganz über den Schulhof stolzieren konnte, die lange Nase, die gar nicht so lang war, in die Höhe gereckt. Nun wollte sie verführerisch, mit Stil kokett und begehrenswert sein. Ebenfalls, wie Vater es sich nun wünschte. Es hatte viele Jahre benötigt bis dieser Wurm, der sich um dieses Outfit gewunden hatte, vertrocknet war.
Edda begann mühsam eigene Vorstellungen zu entwickeln, über das, was sie zu sein beabsichtigte und wie sie sich kleidete oder schminkte. Sie hatte jene üppige, stupsnasige Circe boshaft Speckschwarte genannt, in Anwesenheit des Allmächtigen, und sie wurde seines Hauses verwiesen. Das hatte sie nicht erschüttert, mehr oder weniger hatte sie wohl genau das angestrebt, denn sie wusste, ein Bruch mit dieser Frau, war ein Bruch mit ihrem Vater. Aber Edda hatte es erst vor kurzem gewagt, als sie Fausto schon in der Hinterhand glaubte. Sie hatte immer noch die Gewohnheit aufrecht gehalten, stets bewundernd von ihrem Vater zu erzählen, besonders Fausto erfuhr wiederholt und kritiklos von dessen Bocksprüngen. Diese Geschichten quollen unermüdlich aus Eddas Mund an Faustos Ohr, bis er dem, kurz vor dem Ende ihrer ersten gemeinsamen Wochen, mit einem einzigen Satz ein Ende bereitet hatte.
„Im Sanskrit gibt es das Wort Papa, das bedeutet, das Unterworfen-Sein unter die vitale Unreinheit.“ Edda hatte ihn fragend angesehen.
„So steht es in den Erläuterungen zu den Sanskrit Begriffen“, hatte er achselzuckend hinzugefügt, „das Unterworfensein unter die vitale Unreinheit, unter das Begehren und den falschen Impuls den wir Sünde nennen. Papa, welch ein Wort.“
Sie hätte beinahe einen Mirabellenkern verschluckt. Ihre Zunge hatte schon eine ganze Weile damit gespielt, ihn beinahe glattgelutscht. Die vitale Unreinheit, im Zusammenhang mit Papa, hatte ihr das Blut in die, von spanischer Sonne getönten Wangen gejagt, doch sie hatte zu dieser Erläuterung geschwiegen.
Edda ersehnte sich schon lange nichts mehr von der Speckschwarte, dieser Hure, wie Mutter sie ausnahmslos nannte. Schon gar nicht ihren vollen Mund, mit dem bewusst geformten, albernen Loch in der Mitte, das sie entstehen ließ, wenn sie ein männliches Wesen erblickte. Ein winziges Löchlein, in das knapp ein Streichholz gepasst hätte, das sich trotz eifrigen Übens nicht zwischen Eddas damals noch kindliche Lippen hatte zaubern lassen. Denn Vater hatte dieses kleine Loch als den Gipfel der Erotik gelobt. Auch über ein etwas größeres Loch dieser Dame war Edda von ihm genauestens informiert worden. Mit einer Packung Henna hatte sie damals gehofft diesem Ideal, das von einer rotbehaarten Vulva umsäumt wurde, näher zu kommen. Der brühend heiße Brei hatte ihrem noch spärlichen Schamhaar das gewünschte Caobarot beschert und einen von Brandblasen gekrönten Venushügel. Niemand bewunderte die feurig rote Pracht.
Die unzähligen Giftpfeile der Kritik und Eifersucht, an beiden Fronten, vermisste Edda kein bisschen. Auch die Aufmerksamkeit des Vaters nicht mehr, sie hatte sich aus diesem Begehren hinaus gewunden, hatte sie doch den tierischen Überlebenstrieb ihres Vaters geerbt. Der Gedanke an diese Wirren um des Vaters Gunst und Willen, ließen sie allerdings nicht kalt, und der Konturenstift steckte immer noch griffbereit in ihrer Handtasche.
Etwas an ihrem Erinnerungsvermögen wollte keine Ruhe geben, es rann und stolperte durch dunkle Gassen, suchte nach Daten und Fakten der Geschehnisse aus dieser Vaterzeit, es drängte nach Klärung. Sie hatte Fausto nur zum Teil in jene Zeit eingeweiht.
So wie eine Zunge nach einer Mahlzeit automatisch, irritiert erregt im Mund herumfuhrwerkt, die Zahnreihen nach Erhebungen der Reste abtastet, die sich in die Rillen gequetscht hatten, so versuchte sie den unbewussten Schmerz aufzuspüren. Sie wühlte in Löchern und tiefen Ausbuchtungen, in denen er sich vergraben haben konnte. Edda wollte auch die Schuld und all den Kram erdrosselt wissen. Sie wollte ihren Zahnschmelz der Seele glatt und sauber wissen, zur Zufriedenheit der imaginären Zungenspitze, die sich dann leicht gegen den Gaumen gepresst nach hinten wölben würde, und endlich Ruhe gäbe.
Sie übte sich in der Gedankenhygiene, versuchte Schritt für Schrittchen störende Emotionen zu ignorieren, es funktionierte manchmal sogar. Fausto hatte Recht, man musste sich mitten in einem üblen Gedanken stoppen, ihn bewusst dreimal wiederholen und dann hinauswerfen. Man musste einfach mal klar Schiff machen da oben, den alten Kalfater-Dreck herauspuhlen und frische Luft zwischen die Planken lassen. So hätte es ihr Vater ausgedrückt. Da war er wieder!
Fausto hatte behauptet, Gedanken kämen von außen, besonders schlechte Gedanken seien wie lästige Kobolde, pfeilschnell kämen sie angeschossen, aus dem Nichts, mitten hinein ins Hirn. Man hätte die Möglichkeiten seine Kopffenster und Türen vor ihnen zu verrammeln. Sie einfach nicht hereinzulassen. Sind sie aber doch wieder durchgewitscht, in einem Moment, in dem man sich in Sicherheit wiege, sich gereinigt fühle, kämen sie von allen Seiten, von oben, unten, hinten, seitlich, regelrecht sichtbar durch unbedachte Schlitze wieder hereingestürmt. Machten sich breit und wichtig, übernähmen das Ruder im Nu, und schwupps, säße man wieder in seinem Gedankenmüll fest. Fausto ermunterte sie, nicht aufzugeben.
„Wiederhole es jeden Tag, viele Male bewusst, es hilft, und irgendwann gibt es dann den richtigen Platz für die jeweiligen Gedanken. Du kannst sie abrufen wann es dir passt, du musst dich nicht mehr mit einem wilden Mix herumschlagen, du bist kein Sklave deiner Gedanken mehr.“
Das müsste ein erhebendes Gefühl sein, dachte Edda, und wenn ihr ein Ansatz dessen gelang, triumphierte sie innerlich. Doch dann bemerkte sie auch, dass die andere Seite in ihr, ihre Wunsch-Angst- und Illusionsliste, die recht umfangreich war, ihren Stammplatz verteidigte, sich gegen diese massiven Reinigungsattacken wehrte. Dann wurde sie wieder unsicher, massive Gegenargumente schoben sich dazwischen. Sie meinte plötzlich wünschen zu müssen, sich besser doch nicht ganz von den alten Gewohnheiten zu trennen. Wie viel Ruhe würden ihr diese Übungen geben, wie viel Frieden und Gleichgewicht würde sie erreichen, und welche Portion brauchte sie überhaupt davon. Würde sie etwa langweilig auf ihre Außenwelt wirken, sie war doch keine gefasste, des Lebens überfüllte Großmutter. Was strebte sie da eigentlich an?
Edda hantierte oft mitten in ihren Übungen mit dem beunruhigenden Gedanken, dass sie, wenn sie Faustos Anweisungen streng befolgte, aufhören könnte sie selbst zu sein. Zumindest der Mensch, der sie war. Sie wollte sich und alles Mögliche an sich zwar ändern, doch wer will schon wirklich raus aus seiner Haut. Von welchem Teil ihres Selbst würde sie getrennt werden auf diesem Pfad. Würde überhaupt etwas von ihr übrig bleiben? Was war es eigentlich genau, was Fausto so anpries, was sie neugierig, doch auch mit Furcht anpeilte. Sollte man wirklich lernen seine Gedanken zu beherrschen, wäre das nicht roboterhaft, die Spontanität vernichtend, würde es freies Erleben beeinträchtigen?
Fausto hatte erwähnt, dass das, was man dadurch gewänne, alles Positive zugleich und die schönsten Wünsche der Welt, wie Rattenköttel in der Zuckerdose erscheinen ließe, im Vergleich zu dem Empfinden des „All-Eins-Seins“, dessen erste Station auf dem abenteuerlichen Weg des Bewusstseins, die Gedankenhygiene sei.
Schuster bleib bei deinen Leisten, bremste Edda misstrauisch ab, mit dem „All-Eins“ konnte man sich ja immer noch später intensiver beschäftigen. Sie wollte erst einmal doch lieber auf ihrer gewohnten Ebene kämpfen, ihr Ego wollte Futter. Es gründelte nach einer Technik, das lebendige Ziel ihrer Liebessucht erreichen zu können oder wenigstens erst einmal wirksam anzustoßen. Wenn diese Technik, so dachte sie, aus mangelnden Kenntnissen nicht anschlägt, wobei sie ausschließlich sich selbst diesen mysteriösen Mangel zuschrieb, zieht das Glück an mir vorüber. Verliert sich die Zugehörigkeit, zufrieden mit der Hörigkeit? Sollte sie passen, ihr Pulver in das große All schicken, ihre Liebe ausweiten ins Unendliche, wie Fausto es propagierte. Sollte sie nicht weiter darum zanken, es ihm ankleben zu können? Warum, fragte sich Edda, warum musste es unbedingt Jener sein, der ihre Vibrationen empfangen und verwerten, sich ihr nahe fühlen sollte, so wie sie sich ihm. Dieser Mensch empfand offensichtlich nicht die geringste Sehnsucht nach ihrer Anwesenheit, vergaß wahrscheinlich ihre Existenz, wenn sie nicht gerade vor ihm stand oder lag. Eine Begegnung, ein Sehen, ein Spaß, ein Genießen, ein Vergessen, und er schlenderte seiner Wege. Edda fühlte sich wie auf der richtigen Fährte im falschen Wald, ohne sich davon abwenden zu können.
Sie schrieb sentimentale Gedichte. Dort raschelten die Sehnsüchte wie trockenes Pergament zwischen ihren Fäusten. Angerissene Liebesbekenntnisse taumelten durch die Lüfte, ähnlich welkem Laub, beinahe schwerelos, ziellos und ohne Empfangsstation. Diesem losen Blattwerk hatte sie sogar einen besonderen Duft angehängt, und in seinem Schweben schien es noch an Weite zu gewinnen, drehte Kreise und passte sich dem Takt des Windes an. Blatt für Blatt tanzten sie geduldig durch ihre Texte, Sehnsucht für Sehnsucht begleitete das dürre Laub, und dazu nagte es immerzu in den entlegensten Winkeln ihrer Seele.
Edda schrieb und schrieb, immer wieder aufs Neue, als seien Worte nicht verbrauchbar. Das erstickte ihre Pein vorübergehend, lenkte ab wie ein Gegenfeuer. Nebenbei gab sie ihre Examensarbeit ab, musste in die mündliche Prüfung, bestand mit viel Glück und hatte ihren Abschluss in der Tasche, bevor sie Fausto wiedersah. Ihre Gefühle für ihn drängten nach Leben.
Sehnsucht scheint unbestreitbar mein Ziel zu sein, unkte sie schriftlich ins Leere. Was macht es noch aus, seine Augenlider zu küssen, am Haaransatz das Salz zu schmecken, seine Haut zu messen mit den Fingerspitzen, das zu tun, mit aller Sehnsucht oder auch nicht. Mit Hingabe und aller Zeit des Himmels und der Welt, mit ihm an meiner Seite zu träumen, oder ohne ihn. Sich ihn nur herbeizuwünschen, diesen Fausto, was machte es noch aus, es änderte nichts.
Edda hatte sich in der Sehnsucht nach Fausto festgeschraubt. Sie versank, schnürte sich ihr Selbstmitleid bis unter das Kinn, wie Rettungsringe aus Blei. Trotzdem ging sie regelmäßig, zweimal in der Woche in ihre Hatha Yoga Gruppe und füllte während der Übungen ihre Gedanken mit überschäumendem Liebesleid. Anschließend hing sie mit der Yoga Decke unter dem Arm in Faustos Stammkneipe herum. Bei jedem Öffnen der Tür blickte sie hoch. Sie vermisste Fausto immer noch, sie hatte ihn mehr als drei Monate nicht gesehen.
Einige Standardsätze auf zwei Postkarten aus Kolumbien, das war alles, was Edda von ihm in Händen hielt, außer ihrer inneren Verbindung, die einfach keine Ruhe geben wollte. Sie übte Abstand von ihm zu gewinnen und auch ihren frisch geborenen Wunsch, geistig zu erwachen, zu verhöhnen. Mit Fausto in der Ferne fand sie all sein Gerede doch wieder idiotisch, vielleicht für weltfremde Spinner geeignet. Sie wollte leben, normal leben und die Liebe genießen, nicht darunter leiden. Was sollte das für ein Leben sein? Jede Minute des Lebens an diese blöde Vervollkommnung denken, feststecken im Bann der Disziplin, die scheinbar ununterbrochen notwendig war, um dieser Supermensch zu werden? Sie betrank sich lieber mit Alt Bier, wenigstens wusste sie danach genau, warum es ihr schlecht ging. Edda litt fürchterlich nach jedem übermäßigen Alkoholgenuss.
Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen und ihr einen Job in einem berühmten Architekturbüro verschafft. Glühend von ihren Kommilitonen beneidet, sollte sie im Herbst beginnen. Edda nahm diesen Vorzug gelassen hin, während sie sich ihrem Liebesentzug widmete. Herumhängen und Jammern, den ganzen Sommer lang. Einige ihrer Trinkgefährten versuchten sie mit nutzlosen Sprüchen aufzuheitern, mit Kinobesuchen oder einer keuschen Umarmung. Edda ließ niemanden näher an sich heran. Eines Tages luden zwei der hartnäckigsten Tröster sie zu einer Fahrt ans Meer ein. Nach Holland?! Das versprach Tröstung. „Jenever, oude kaas en haringen.“ Matjesfilets, frisch aus dem Fass, enthäutet, ohne Rückgratgräte, ganzleibig in rohe Zwiebelwürfel geschwenkt und geräuschvoll in den Mund geschlungen, mit dem Kopf im Nacken. Sie war begeistert.
Überall in dem kleinen Ort am Meer waren Plakate angebracht, die eine Vernissage in einer leeren Fabrikhalle ankündigten, mit dem heutigen Datum. Eine Keramikausstellung lokaler Künstler. Es ging hierbei nicht um Gebrauchskeramik, und das interessierte Edda. Doch als sie am Abend mit ihren Begleitern die Halle betrat, wurde ihre Aufmerksamkeit mehr von den Klängen des klassischen Flamenco in Anspruch genommen als von den Ausstellungsstücken. Dabei blieb ihr Blick an dem Gitarristen hängen, der die Eröffnung mit seinem Spiel begleitete. Sie glaubte ihn zu kennen, kannte ihn aber nicht. Das war erregend und musste unbedingt vertieft werden. Die Keramik trat in den Hintergrund, ihre Begleiter langweilten sich. Edda näherte sich dem Gitarrenmann, sie schlich um seinen Hocker herum, wie um den heißen Brei. Sehr heiß. Seine Konzentration galt dem Zupfen der Seiten, als säße er allein auf einem Fels, abseits der Menschheit. Die Leute traten sich auf die Füße. Er bemerkte niemanden. Edda war fasziniert.
Das Stück war beendet, er blickte hoch und Edda glotze. Er lächelte. Ihre Zunge war wie verknotet, das Gehirn betäubt, kein Wort wollte sich bilden. „Wo bekommt man denn einen frischen Matjes“, entschlüpfte ihr nach endlos erscheinendem Schweigen. Hatte sie den Verstand verloren! Wiederholungen, nichts als Wiederholungen?!
„Morgen Vormittag, um elf auf dem Marktplatz, gegenüber der alten Linde“, hörte sie ihn antworten. Eine fast schlaflose Nacht folgte. Dann traf sie ihn, Ruben, den Island Fan, der am einzigen Fischstand des Wochenmarktes, ein Fahrrad zwischen den Beinen, lässig auf dem Sattel sitzend, plötzlich hinter ihr stand. Er hatte sich ihr, während sie die Straße nicht aus den Augen gelassen hatte, von der anderen Seite lautlos genähert. Edda stolperte rückwärts über ihn und seinen wackeligen Sitzzustand. Mit dem halben Fisch im Hals lag sie auf ihm. Sie entschuldigte sich unbeholfen und klaubte, lächelnd vor ihm kniend, mit ihren Fischfingern die Zwiebelwürfelchen aus seinem Haar. Er war kein bisschen ärgerlich. Sie bestellten noch einen Matjes und den nächsten, aßen einen Fisch nach dem anderen und beobachteten sich dabei grinsend. Beide waren ein wenig einfallslos verstummt, in dem Verlangen einander kennenzulernen. Aus dem Wunsch heraus, den Moment zu wahren. Von der drohenden Wahrscheinlichkeit gebannt, sich nie wieder zu begegnen, wenn man sich jetzt trennte, waren sie in das übermäßige Verzehren von Matjesfilets geraten.
Edda stoppte das schweigende Schleichen umeinander. Sie murmelte ein Zitat über das große Akzeptieren der Geschehnisse, eines Autoren, den er zufällig besonders verehrte, obwohl er mit diesem Zitat nicht seiner Meinung war. Ihr Murmeln, laut genug, er hatte es gehört. Sein Interesse an Edda wurde von ihm mit einer einladenden Handbewegung auf seine Fahrradstange akzentuiert. Und Edda fuhr mit. Sie ließ ihre beiden verdutzten Verehrer einfach stehen. Schräg auf dieser Fahrradstange sitzend, zwischen seinen Armen eingeklemmt, sein Gesicht und den Fischatem ganz nahe, fühlte sie sich, trotz der leichten Quetschungen im Vaginalbereich, wie im zweiten „Siebten Himmel“.
Er trampelte sie bis vor eine gemütliche Kneipe, in der sie einen Jenever auf den Fisch kippten. Edda war so beschwingt, dass sie nicht einmal ans Kotzen dachte, obwohl der Heringsschwarm in ihrem Magen unruhig hin und her schwamm. Sie fühlte sich erregend hingezogen zu diesem Fremden, warf alle Bedenken über Bord und wollte seine Nähe. Sie saßen einige Stunden zusammen, wobei hauptsächlich sie das Gespräch unterhielt. Dabei gelang es ihr zu verschweigen, dass sie kein einziges Werk seines Schriftsteller Favoriten kannte. Einem, vor ewigen Zeiten verstorbenen Poeten aus Portugal. Sie hatte das Zitat in Erinnerung gehabt, zufällig herausgeklaubt aus einer Literaturzeitschrift am Bücherstand im Bahnhof. Edda bemühte sich ihren Begleiter zu fesseln. Er zeigte sich amüsiert von ihrem Geplauder. Es roch nach Seemannsgarn.
Ein Sonnenstrahl schlich sich durch das Lindenlaub über der Gracht, fiel durch das Fenster direkt in Eddas Gesicht. Ruben saß ihr gegenüber. Sie wusste, dass dieser Lichtstrahl ihre Augenfarbe faszinierend erscheinen ließ. Edda war voll im Einsatz, sie rückte der Verzauberung ihrer Augenfarbe nach. Langsam, zentimeterweise rutschend, dem Rhythmus der Zeit gehorchend, bot sie dem goldenen Strahl ihre Iris. Etwas weniger spektakulär als ein Klopfen an den Lampenschirm, doch scheinbar nicht weniger erfolgreich. Ruben sah ihr in die Augen, während sie von einem Urgroßvater sprach, der bei Kap Horn sein Bein verloren hatte. Sie rutschte kaum merklich, bis es nicht mehr ging. Beinahe wäre sie von der Holzbank geplumst. Sie konnte eine betörende Schauspielerin sein, die den Blick hinter die Kulissen wie zufällig zuließ, und den Zuschauer sich einzig fühlen ließ. Ruben benötigte diese scheinbare Einzigkeit nicht.
Sie verbrachten einen langen Nachmittag zusammen, bis in den Abend hinein. Er fuhr sie danach mit seinem Fiets zur Pension und sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Sie sprang von der Herrenstange. Ruben meinte, ungeheuer nett lächelnd, sie könne sich übrigens diese Rutscherei sparen, ihre Augen seien auch ohne den Sonnenglanz beeindruckend. Dann wuschelte er eine halbe Sekunde mit der Hand über ihr Haar und fuhr davon. Diese Haargeste fand Edda enttäuschend. Ihr Erröten wegen der Lichtentlarvung sah er nicht mehr.
Am nächsten Tag, ihre Bekannten waren ärgerlich abgereist, sie hätte keinen Teamgeist hieß es, überkam sie große Ernüchterung. Vor lauter Selbstdarstellung, vielleicht auch aus Furcht Unerwünschtes zu hören, hatte sie kaum etwas über Rubens Privatleben erfahren. Nun, als er ihr seine drei Kinder vorstellte, war sie sprachlos. Er hätte gestern leider vergessen, dass er heute mit dem Abholdienst der Kinder beauftragt war. Sie hatten einen Zahnarzttermin. „Spangenkram“, sagte Ruben, „wir sind gerade zurück.“
Bilderbuchkinder, zwischen elf und fünfzehn. Auch eine holländische Bilderbuchfrau erschien wenig später auf der Bildfläche. Freundlich, rund und blond.
Es fehlt nur das weiße Spitzenhäubchen, dachte Edda, die kurze Nasenspitze reicht ihm bis ans Brustbein. Eddas Augenaufschlag und ihre Wahrnehmung hatten sich blitzartig verwandelt, von einer Schleiereule, in die eines hungrigen Habichts. Sie war auf den ihr so bekannten Ast des ordinären Vergleichens geflattert und beschrieb sich selbst als würdiger, als viel passender zu Ruben. Sie wurde mit Herzlichkeit von dieser Frau begrüßt. Das war Edda fremd, da sie üblicherweise immer als Rivalin behandelt wurde, sobald eine Frau sie erblickte. Diese Begrüßung empfand sie fast als beleidigend, sie wurde von ihr sogar für den nächsten Tag zum Kaffee eingeladen.
Bemerkte denn niemand hier, dass sie in den Mann verliebt war! Edda wunderte sich über die höfliche Freundlichkeit seiner Frau. Aus ihren strahlend blauen Augen, Sternchenaugen, blickte, nein blinkte, etwas Wissendes, das eher dem Blick einer gläubigen Nonne nach einem heimlichen Date mit Jesus Christus ähnelte, als einer Mutter mit drei in der Pubertät befindlichen Töchtern. Sie blickte ihren Mann sacht und devot an, als sei er ein kranker Heiliger, umarmte ihn kurz und bat um die Wagenschlüssel.
Edda war erstaunt, dass dieser mollige, hübsche Engel einen Führerschein besaß, sich anscheinend im weltlichen Leben zu bewegen wusste. Ihr Haarschnitt glich dem einer Klosterbewohnerin, sie trug aber einen sehr kurzen Rock mit Rüschenbund am Saum, was sie noch kürzer und kugeliger erscheinen ließ.
Vielleicht, dachte Edda, wollen ja manche Menschen gerne noch kleiner erscheinen und eiförmig, Größe ist bekanntlich nicht immer schön. Sie konnte es nicht lassen!
Sehr viel später erfuhr Edda, dass Ruben und Marietta nicht verheiratet waren, weil er das nicht für nötig befunden hatte. Ruben war noch ein Schüler der Oberstufe des Gymnasiums gewesen, als er zum ersten Mal Vater wurde und mit zweiundzwanzig zum dritten Mal. Das reichte ihm als Experiment. Marietta hatte lange auf eine magische Kraft ihrer Zuneigung zu Ruben vertraut. Seit sie ihn als Vater ihrer Kinder auserkoren hatte, gedachte sie ihn mit dieser Magie zu infizieren. Ruben war resistent gegen ihren Virus, empfand die Situation aber auch nicht als negativ, er liebte die Nähe zu seinen Kindern, nur das zählte. In den letzten Jahren ihres gemeinsamen Haushaltes fiel seiner Frau nichts anderes mehr ein, als ihn ständig mit geduldigem Lächeln nach seinen Wünschen zu fragen. Nachdem die zweite Tochter ihren ersten Liebeskummer an seiner Brust ausgeweint hatte, zog er zu seiner Mutter. Es hatte kein böses Wort gegeben. Ruben zankte nicht. Niemals!
Wie Edda später erfahren sollte, war ein unordentliches Bett am Mittag, für Marietta ein Symptom für generelle Liederlichkeit und der Verlorenheit zu Gott. Wie war es möglich, dass ein Mann wie Ruben mit dieser Frau drei Kinder gezeugt und ihr so viele Jahre zur Seite gestanden, bei ihr verweilt hatte. Und dann war sie auch noch Krankenschwester! Edda war diese langjährige Partnerschaft unbegreiflich, seine Zuverlässigkeit ließ sie nicht unbeeindruckt, genau so etwas suchte sie.
Später schnitt sie Ruben gegenüber ein Fausto-Thema an, der beantwortete das, was Fausto als Phänomen bezeichnet hatte, knapp und sachlich aus der Sicht des Mathematikers. Für ihn war alles Geschehen erklärlich, und wenn es das tatsächlich einmal nicht war, suchte er nicht nach einer Erklärung. Er krallte sich nicht an Unbeweisbarem fest, da es für ihn keiner Klärung bedurfte. Trotzdem, er wich nicht aus. Ruben konnte sogar romantisch sein, wie sie später herausfand, er konnte Trauer oder Freude ausdrücken, aber Realität wachte stets an seiner Seite. Edda erschien es, als glaube Ruben nie, er wusste oder er wusste nicht. Es gab das Nichts ebenso, wie die Null existierte, nur sein Begriff war etwas weniger eingeschränkt. Das hatte mit Mathematik zu tun, als übergeordnete Macht der Metaphysik, von der Ruben gar nichts hielt. Dort stürzte man sich seiner Meinung nach nur auf Spekulationen. Er hielt ebenso wenig von der Rederei über die Seele und schon gar nichts von ihrer Kenntnis über die Vorexistenz. Ruben hatte sich mühelos auch durch die Platoniker gefressen, doch das Prinzip der Bewegung schrieb er nicht der Seele zu. Es sollte für ihn pure Physik sein, so wie der Äther in die Welt der Chemie gehörte, zu den Oxyden der Kohlenwasserstoffe und nicht ins Himmelreich.
Edda hörte gerne seine knappen Kommentare und dachte, die beiden Männer, die sie nun liebte, könnten gegensätzlicher nicht sein. Immerhin, mit Gegensätzen kannte sie sich aus, sie lebten in ihr. Aber sie irrte mit ihrer Meinung, sie hatte noch nicht die Nähe dieser beiden Gegensätze erfasst.
Ein schönes Wochenende, ein verlängertes Wochenende und ein neues Glück. Edda war wieder zum Leben erwacht, sie hatte wahrhaftig ihren Fausto vergessen, zuerst für einige lange Minuten und dann sogar für Stunden. Ab und zu hatte er sich noch einmal in ihre Gedanken gedrängt, selbst auf der Fahrradstange war er kurz mitgefahren. Edda fühlte sich wie genesen nach einer langen Krankheit, als sie am Dienstagabend zurückkam. Mit ihrer Reisetasche und einer Einkaufstüte traf sie auf ein schnelles Bier im „Schornstein“ ein. Da saß er, Fausto.
Er hatte schon fast „den Deckel rundgetrunken“. Sie sah seinen Bierdeckelrand von kleinen Bleistiftsenkrechtstrichen geziert. Jedes bestellte Glas zeigte einen Strich an, ein getrunkenes Bier. Sie konnte sehen, er hatte also schon einige Stunden auf sie gewartet. Er war aufgesprungen und murmelte etwas von vermisst haben, nahm Edda stürmisch in die Arme und küsste sie. Edda zeigte sich ein wenig abseits von wilder Leidenschaft, sie musste sich aber zügeln. Er nahm ihr das gespielte Desinteresse nicht ab, lachte sie an, und sie blieben den ganzen Sommer zusammen. Beinahe wie ein richtiges Paar.
Anfang Oktober hatte ihr Job begonnen. Fausto schrieb und telefonierte, er nahm sie manchmal mit zu Freunden, oder auch zu verschiedenen Presseveranstaltungen. Überall stellte er Edda als seine Freundin vor, was ihr sehr schmeichelte, denn das galt als ein besonderes Zugeständnis für Fausto. Sie wohnte größtenteils bei ihm, unten in dem kleinen Vorstadtort. Seine Wohnung lag näher an der Kneipe und war auch sonst bequemer als ihre Behausung auf dem Berg.
Edda kam abends erschöpft von ihrem Büroalltag zurück, ein Alltag, den sie sich anders vorgestellt hatte. Dann stand Fausto da und lachte ihr liebevoll entgegen, er umarmte sie wie nichts Vergleichbares auf der Welt, sie schwebte. Und plötzlich ließ er sie fallen. Er konnte verschwinden, von einer Minute zur anderen, für Tage oder auch länger. Er verwöhnte mit Liebe und vergaß Edda, ohne Vorwarnung, wie in einem Atemzug. Seine Worte hallten in ihr nach. „Liebste, mein Schatz, meine Königskobra“ auch Worte wie, „zeitlose Wahrheit des Glaubens und des Seins“, wobei er den Akzent auf zeitlos klemmte.
Sie wartete ständig auf ihn. Ihre Suche nach einem greifbaren Verbindungsglied zwischen Theorie und Praxis war erschöpfend, sie konnte dieses Instrument nicht ausmachen. Fausto verstand es, verbal in die Mysterien des Lebens einzutauchen, so deutlich und einfühlsam, dass Edda mit ihm schwamm und sich am liebsten in seinen Worten aufgelöst hätte. Sie stolperte von Silbe zu Silbe hinter ihm her, wie an einer unsichtbaren Kette. Doch wenn er nicht in ihrer Reichweite war, klatschten ihre Sinne und ihr Liebeswille wie gegen eine Wand. Dann fühlte sie sich wie ein Fisch an Land, der zappelnd, bis zur letzten Faser seiner Schwanzspitze, über einen ausgetrockneten Betonboden flappt.
Sie liebte seine Gestalt, und sie liebte es, wie ihre Körper sich fanden, nichts Ungeschicktes mehr. Ihre sexuellen Begegnungen hatten den Reiz nicht eingebüßt, sie waren vertraut und trotzdem immer wieder erstaunlich neu, als würden sie von einer koketten Scheu begleitet.
Eines Tages entdeckte Edda, dass er alles, was er je gelesen hatte und was in sein Interessensgebiet passte, speichern konnte. Er hatte es nicht nur erfasst, er konnte es auch bei Bedarf aus seinem Gedächtnis hervorholen. Ein lebendiges Nachschlagewerk. Fausto wusste aus reinem Interesse, nicht zum Schaumschlagen, so wie Edda es bisher an sich und ihrem Umfeld erlebt hatte. Man wusste etwas, um entweder ein Examen zu bestehen oder andere Menschen zu beeindrucken. Sie maß es an dem lauten Getöse ihres Vaters. Faustos Art von selbstsicherer Kompetenz war ihr neu. Edda faszinierte die spielerische Gabe seines Lernens und sein Gedächtnis. Sie selbst musste während des Studiums viele Lektüren fünfmal lesen und hatte sie trotzdem einige Wochen später vergessen. Für ihre Auffassung war Fausto ungeheuer belesen. Ihm waren außerdem alle nennenswerten historischen Daten geläufig, besonders der Kriege und Putschversuche auf diesem Globus. Keine Untat, seit der Mensch sich des aufrechten Ganges bediente, war ihm unbekannt. Fausto schien so ziemlich über alles, worüber man lesen konnte, Bescheid zu wissen, nur vor der Mathematik und der Medizin hatte er Halt gemacht, das langweilte ihn. Auch auf dem Gebiet der Kunst und Musik wusste er sich nicht zu bewegen, da besaß er nur die Kenntnis eines Normalbürgers. Das hatte Edda in ihrem Eifer noch nicht bemerkt.
Dass er kein Musikexperte war, beeinträchtigte allerdings nicht seine bemerkenswert schöne Stimme, die er mit drei eingeübten Griffen in zwei Oktaven auf der Gitarre eindrucksvoll begleiten konnte. Er hatte nie die Notwendigkeit oder das Interesse gefunden über diese drei Griffe hinauszugelangen. Seine vorgetragenen „Mariachis“ ließen regelmäßig alle anwesenden Damen in die Knie sinken, einschließlich Edda. Nicht eine der schmachtenden Pseudo-Emanzen verstand diese Machotexte, die natürlich von ihm in Spanisch gesungen wurden.
Edda bewunderte ihren Fausto maßlos, sie war stolz auf ihn und wollte ihn besitzen. Das hatte sie so zu wünschen gelernt, was man liebte, wollte man haben, für sich haben, allein! Das allerdings, war nicht ganz in seinem Sinn. Seinen Widerstand auf diese Forderung bekam sie schmerzlich zu spüren.
Sie hatte inzwischen seine Mutter kennengelernt, die ihr gleich beim ersten Treffen augenzwinkernd von ihrem besonders trotzigen Sohn erzählte. Diese Mutter lachte und meinte, nichts unversucht gelassen zu haben, um ihm den Trotz auszutreiben. Das sei leider nicht geglückt, aber wenigstens sei er mit acht Monaten „sauber“ gewesen und hätte frühzeitig gelernt mit dem „guten“ Händchen beim Essen den Löffel zu halten. Das hätte sie unglaubliche Geduld und ihn viele Tränen gekostet, sagte sie stolz. Er war Linkshänder.
So also lernte Fausto, wie man niemals einen Nagel mit dem Hammer treffsicher, mit kurzen gleichmäßigen Schlägen auf den Kopf traf, ohne ihn zu krümmen. Das hatte Edda ihm voraus. Er hantierte im Zeitlupentempo mit dem Geschirr, falls er es abwusch, und er reiste mit ungebrochenem Trotz gegen Frauengenörgel durch die Welt.
Edda tauchte ein in diesen Menschen, sie hätte Hymnen vortragen können über diese beiden linken Hände. Bewundernd umrundeten die Fingerkuppen, ihrer breiten praktisch veranlagten Töpferpfoten, die Nagelbetten seiner Schwanenhalsfinger.
Tintenkleckser, nannte ihr Vater ihn, beäugte Fausto abfällig und bedrängte Edda, diesen Mann sofort zu verlassen. Er hatte ihn nur einmal berochen, sich wieder als Platzhirsch aufgeführt und wie gehabt, ohne einmal Luft zu holen, erlaubt sein Urteil zu fällen. Ein weiterer Grund, den schon erkämpften Abstand zu ihrem Vater zu erweitern. Ein Abstand, gestrickt aus tausend Maschen der Wut und Schuldzuweisung. Mit jedem Schritt dieser Entfernung schmiegte sie sich enger an Fausto. Sie koppelte sich ein, klemmte, klebte und stülpte ihr ganzes Sein über ihn. Sie vertraute ihm Wünsche und Geheimnisse an. Fausto konnte ein geduldiger Zuhörer sein und ein sensibler Ratgeber, aber er war wie ein Fisch, der ohne großes Getöse zwischen den Worten davonglitt, wenn es ihm zu viel wurde. Ein Fisch, der leichtflossig davonschwamm, nur seinen Geruch hinterlassend.
Feierabend! Edda hatte eine schleppende Autostunde durch monsunartigen Dauerregen hinter sich. Der linke Scheibenwischer hatte auf der Überholspur, mitten auf der Autobahn, seinen Gummistreifen abgeworfen und danach nur noch spärlich die Sicht freigekratzt. Sie war rechtslastig gefahren. Anschließend, in der Kneipe am Wohnort angekommen, versuchte sie Fausto zwischen den Rauchschwaden zu entdecken. Sie flüchtete in kleine Atemfelder, die wie lichte Streifen träge im hinteren Schatten der Kneipe hingen, die nur ein wenig hüpften, wenn jemand die Tür aufstieß. Ein Müdegetrunkener, der die Szene verließ oder ein Durstiger, der eintrat. In einen kleinen Durchbruch zur Außenwand, etwa zwölf Zentimeter im Durchmesser, war ein alter Ventilator geklemmt, dieser diente sonst als einzige Luftquelle. Sein müdes Schnarren mischte sich unter das Stimmengewirr. Nur die Veteranen, die ganz treuen alten Trinker, konnten sich noch an das Funktionieren der Musikanlage erinnern, die eher einem Traktor glich, als einem Gerät, das Musikklänge hätte wiedergeben können. Die Verstärkerboxen nahmen ein Drittel der beiden Enden hinter der schlauchartigen Theke ein. Sie gehörten zur Kneipe, wie der zu später Stunde stets betrunkene Wirt, unnütz und nicht wegzudenken. Jeder zahlte, was er glaubte getrunken zu haben. Auf allen Tischen lagen die Bleistiftstummel herum für die Striche, die man sich ab und zu auf den Deckel kritzeln sollte, wenn der Wirt dazu nicht mehr in der Lage war. Mit dem Bierzapfen wechselte man sich ab. Die Zapfanlage hatte sich robuster gegen helfende Hände erwiesen als der Plattenspieler.
Wenn der Schankwirt morgens seine lichten Momente hatte, reichte es immer gerade noch aus um die Kasse zu stürzen, neue Bestelllungen zu machen und die Lieferanten hinzuhalten. Es funktionierte auf seine eigene Weise. Seit vielen Jahren war dieser Ort für den größten Teil seiner Gäste ein zweites oder auch erstes Wohnzimmer. Edda hatte sich auch hier um Zugehörigkeit bemüht, obwohl sie die ständigen Politgespräche, glühende Parolen und Illusionen nicht verinnerlichen konnte. Sie blieb das Kind und wollte spielen, sie weigerte sich an Demos teilzunehmen, spitzte aber trotzdem die Ohren und manchmal auch ihre Zunge, an dem intellektuellen Geblubber dieser Zeit. Sie war hauptsächlich darauf bedacht hübsch auszusehen. Sie rauchte keine Zigaretten, hatte nie geraucht und konnte diesen Genuss nicht nachvollziehen. Trotzdem lebte sie viele Stunden, beinahe täglich, wie ein Schornsteinfeger im aktiven Schlot. Sie hatte sich damit abgefunden, dass ihr morgens der Schädel brummte und die Augenlider geschwollen waren, da sie glaubte entscheiden zu müssen, zwischen brennenden Augen und Kopfschmerz mit einem funktionierenden Sozialleben der Kneipe, die sinniger Weise „Zum Schornstein“ hieß, oder einer Frischlufteinsamkeit ohne Nachwehen.
Sie kannte zu jenem Zeitpunkt niemanden, außer Ruben, der nicht übermäßig viel rauchte und sich nicht genauso regelmäßig volllaufen ließ. Es gehörte einfach dazu, zu jedem Treff im Schornstein. Doch seit Edda mit Fausto zusammen war, hätte sie lieber die Einsamkeitsvariante vorgezogen, mit ihm. Aber wenn sie vom Büro nach Hause kam, saß er meistens schon am Biertisch. Sie hing an seinen Lippen und mit jedem Tag, dem sie ihm länger lauschte, identifizierte sie sich mehr mit seinem Gedankengut. Ein bekanntes Gefühl der Richtungsweisung reichte ihr die Hand. Edda fühlte sich, seit sie mit Fausto zusammenlebte, schwindelerregend schnell vertraut mit seinen Meinungen. Da sie immer noch keine eigenen Meinungen hatte, die ein brauchbares Fundament aufwiesen, sie noch in dem Gap zwischen Vater und Fausto steckte, hangelte sie sich in Faustos Richtung. Rückwärts wollte sie nicht. Instinktiv! Nur wenn es um Liebe oder Glück ging, hatte sie eine eigene Meinung, da widersprach sie ihrem Liebsten.
„Was verstehst du denn unter Glück?“, fragte Fausto sie eines Abends spöttisch, als sei das Wort Glück eine witzige, von ihr erfundene Idee. Edda hatte ihm etwas vom Glücklichsein zu zweit vorgesäuselt. Sie hatten über Frieden und Harmonie geschwätzt, und dass sich doch jeder Mensch eigentlich danach sehne. So meinte Edda. Er vertrat die Ansicht, dass das Glück, von dem sie schwärmte, nur die pure Langeweile bieten könne.
Edda war kein Artikulationsgenie wie er, auch konnte sie nicht ruhig und sachlich argumentieren. Sie fühlte sich schnell angegriffen und ereiferte sich zu sehr im Gespräch, um von ihm ernst genommen zu werden. Den Bildungsdefizit versuchte sie durch heftige Wortwahl zu übertünchen. Sie sah hübsch aus und wusste, wenn sie sich nicht gerade geprüft fühlte, geheimnisvoll zu lächeln. Doch an Faustos Seite wuchs der innere Protest, sich ausschließlich damit zufrieden zu geben.
Edda war eine Spätentwicklerin. Schließlich hatte sie ja auch erst an ihrem sechzehnten Geburtstag “ihre Tage“ bekommen. Sie las heimlich seine Bücher, stürzte sich in Themen, von denen sie nicht einmal geahnt hatte, dass so etwas in Buchstaben gefasst werden könnte. Sie wollte vor allem wissen, was er wusste, und sie trainierte ihr Gedächtnis auch für Fachbegriffe. Eines Tages wagte sie einen sensationellen Sprung, sie begann Fragen zu stellen. Sie konnte plötzlich sagen, “Was ist Das“, „Wer ist Das“, oder noch sensationeller, „Ich weiß es nicht.“ Worte, die sie niemals vorher, außer als Kind vor ihrer großen Schwester, von sich gegeben hatte. Vor anderen Menschen zuzugeben, dass sie dies oder jenes nicht wusste, machte ihr plötzlich Spaß.
„Also, was bedeutet für dich Glück?“, fragte Fausto erneut.
„Glück ist das Gegenteil von Neid“, antwortete Edda, „nicht von Unglück.“
„Und was ist Neid? Wenn du schon nicht erklären willst, was du unter deinem angestrebten Glück verstehst, aber bitte, Edda, lass uns nicht bis ins Endlose mit dem Gegenteil operieren.“
„Glück ist ein Gefühl, im Zustand so relativ, dass ich es dir hier und jetzt nicht auseinandersetzen will. Aber frag doch deine Gurus, diese Experten im Definieren und Suggerieren von Glücksgefühlen“, erwiderte Edda gespielt spöttisch, „ich treffe mit meiner Meinung darüber, bei dir, bestimmt nicht ins Schwarze. Und Neid, das geht mir eher von der Zunge, es ist die Energie der Ignoranz.“ Fausto setzte sein Bierglas ab und horchte erstaunt auf, das war nicht Eddas Jargon.
„Bei dreißig Grad im Schatten fröstelte es mich, konnte ich den Neid spüren, als deine Frau in mein Dekolletee geglotzt hat.“ Edda hatte zu viel getrunken. Sie war immer noch verärgert und irritiert über diese Fausto Ehefrau, von deren Existenz sie erst vor kurzem durch Zufall erfahren hatte. Er behauptete gelassen, sie lebten seit einem Jahr getrennt.
Ich oder der Hund, hatte Fausto seine Ehefrau vor die Wahl gestellt, als Adolf, der Foxterrier, auf sein Bett gekackt hatte, und er anschließend, unachtsam vor Empörung, auf einem der zahlreich, vom Hund nachlässig versteckten Markknochen ausgerutscht war.
„Adolf bleibt, hatte sie heroisch erwidert, oder ich will ein Kind.“ Fausto war nicht erpressbar und so nannte er sich getrennt lebend. Sie zog mit Hund und ohne Kind zu ihrer Freundin, um ihn erst einmal zu erschrecken. Das erschreckte ihn aber nicht, im Gegenteil, denn er hatte genug von dem unaufhörlichen Gezeter seiner unglücklichen, jungen Ehefrau. So lächelte er, zwischen einer parallelen und nächsten Liebschaft, Edda entgegen.
Seine Frau war damals zur Kneipentür hereingestürmt, der Qualmschleier stob auseinander. Sie hatte sich stehend an den vollbesetzten Stammtisch gesellt und mit schriller Stimme von ihrem Angetrauten verlangt, sofort mit nach Hause zu kommen, sie hätte mit ihm zu reden.
Fausto hatte ihre Worte nicht beachtet, er hatte sie nur freundlich begrüßt und in seiner ruhigen, aufreizenden Art das Gespräch mit seinen Tischfreunden fortgeführt. Der Geruch nach freigelassenen Darmblähungen und schweißverklebten Achseln in Acrylpullovern, mit billigem Deodorant vermischt, hatte Edda an diesem Abend besonders gestört. Oder suchte sie einen Grund sich unbehaglich zu fühlen und zu verschwinden.
Adolfs Frauchen hielt sich einige Minuten lang standhaft. Schweigend, mit zusammengekniffenen Lippen und vorwurfsvollem Blick, stand sie an Faustos Seite und versuchte Edda zu ignorieren, was ihr nicht gelang. Sie hatte von Edda erfahren und war zurückgekommen. Sie machte den Eindruck einer schönen, magersüchtigen Fee. Irgendwann war sie einfach umgekippt. Fausto schritt mit einem eleganten Satz über die am bodenliegende, stöhnende Ohnmächtige hinweg und bestellte sich ein neues Pils an der Theke, ohne von ihr Notiz zu nehmen. Er war, während sich der Schaum in seinem Glas unter dem Zapfhahn bäumte, zur Toilette gegangen.
Edda sah sich, in ihrer funktionstüchtigen Fantasie, eines Tages selbst vor dem Stammtisch liegen. Zum ersten Mal war sie vor ihm zurückgeschreckt. Sie glaubte den sichtbaren Beweis erlebt zu haben, dass Fausto ohne Gefühl fühlen konnte. Wie konnte Edda auch wissen, dass die Ohnmachtsanfälle dieser Fee immer dann stattfanden, wenn ihr Ehemann nicht wunschgemäß reagierte.
Als er vom Abort zurückkam, war seine Frau verschwunden, seine Königskobra allerdings auch.
Letzten Endes, dachte Fausto, lag im Handeln der Frauen nichts anderes als der blanke Eigennutz. Erst faselten sie von Liebe und dann, wenn er seinen Kurs einhielt und ohne Rechtfertigung etwas anderes tat als sie es von ihm erwartet hatten, wurden sie zickig. Für ihn waren diese Wesen bisher austauschbar gewesen. Zuerst beschenkten sie ihn großzügig, halfen ihm, warfen sich ihm aufopferungsgierig entgegen. Er hatte um nichts gebeten. Sie legten sich ihm geradezu vor die Füße, sie genossen das Zusammensein mit ihm und seine Begabung Erleben zu vermitteln.
Fausto war immer wieder erstaunt wie wenig ihm diese Frauen zugehört hatten. Er hatte doch nichts verheimlicht, nichts versprochen und sich deutlich erklärt, und plötzlich nannten sie ihn Windhund oder Betrüger. Dabei war er nur genauso wie immer, hatte das gezeigt, was sie alle anzog, so faszinierte. Seine Unberechenbarkeit. Die wollten sie und wollten sie doch nicht, plötzlich sollte er sich ändern, zum Teufel mit den Frauen. Hoffentlich entpuppte Edda sich nicht auch als bürgerliche Hystere, die es darauf abgesehen hatte einen Stamm mit ihm zu gründen und ihn zum Sesselhocker umfunktionieren wollte.
Seine Grunddevise, sich nicht für andere Menschen verantwortlich zu fühlen, war leider durch Edda ein wenig aus dem Gleis geraten. Sie ging ihn etwas an. Sie war keine Weibergeschichte. Deshalb war er auch beunruhigt, dass sie ohne Abschied die Kneipe verlassen hatte. Na ja, sie würde oben in seiner Wohnung auf ihn warten, und diese hässliche Szene mit seiner Beinahe-Ex, würde er ihr schon in Ruhe erklären können, würde zwischen ihren Umarmungen verblassen. Er freute sich auf die Nacht mit Edda und merkwürdigerweise auch auf die nächste und übernächste Nacht. Das ließ ihn vor Schreck ein nächstes Bier bestellen.
Nur nicht hetzen, dachte Fausto. Und dann kam noch ein Bier und noch eins. Er trank aus Trotz gegen sein Gefühl für Edda. Als er endlich zu später Stunde in sein Bett kroch, war es kalt und leer.
Edda rauschte über die Autobahn durch die Nacht, Richtung Norden, auf dem Weg zu ihrer Großmutter. Sie fuhr nachts gerne große Strecken. Das gleichmäßige Geräusch des Motors beruhigte sie und an Schlaf war sowieso nicht zu denken gewesen. Sie war ärgerlich, wollte üben, nicht an Fausto zu denken.
Wie und wann lugt das Potenzial der Entwicklungsfähigkeit aus seinem Stammbaum hervor, gibt es einen gesunden Stammbaum? Eine gesunde Orientierungsfähigkeit, über die nur labyrinthisch, unzählige Nebenschubladen gestülpt sind, die wie Lebenssekunden ablenken, die man eigentlich übersteigen könnte? Sich aber doch lieber hineinschiebt um weitere Zeit getötet zu haben? Zeit, die doch gar keinen Anspruch hat, die nur verrinnt, wenn man es ihr gestattet. Zeit die sich aufbäumt, zu Würfeln gefriert, aus den Schubladen bricht oder zerfließt. Und wieder ein Schritt in welche Richtung? Zeit, wenn sie doch keine Rolle der Wirklichkeit spielt, sich nur aufgesetzt erhebt, sich nicht befindet, nicht weilt, trotzdem sehnlichst in Empfang genommen werden kann und als schlüssellose Einrichtung der Menschheit unumstritten triumphiert. Entwicklung ohne Zeit? Es findet ein Prozess statt, und das ist messbar. Die Suche nach diesem Maß könnte ein großer Spaß sein, könnte alle Zeiten überrumpeln.
Edda hatte es geschafft einige Kilometer lang nicht an Fausto zu denken. Zur Abwechslung war sie einmal verschwunden. Sie wollte ihn strafen, ihn spüren lassen, wie es sich anfühlte, wenn man einfach sang- und klanglos verschwand. Sie war sehr ungehalten wegen dieser durchsichtigen Fee, davon hätte er ihr wirklich erzählen können.
Edda hatte schon ihre Studentenbude gekündigt und den Umzug in Faustos Wohnung geplant. Sie waren doch ein Paar, auch wenn er oft wochenlang unterwegs war. Nach diesem letzten Auftritt kam sie in Bedrängnis mit ihren Umzugsplänen. Er konnte erschreckend konsequent sein. Wer glaubte sie zu sein, dass er sie anders behandeln würde als seine Ehefrau oder die anderen Gespielinnen.
Sie brauchte ein paar Tage Abstand. An seiner Windschutzscheibe hatte sie eine Nachricht hinterlassen, mit der Hoffnung, er würde sich melden. Vielleicht, wenn er sie liebte, würde er ihr sogar nachfahren?
Ein Tipp der Großmutter, Edda solle sich, bevor sie sich ernsthaft mit einem Mann einließe, erst einmal genau ansehen wie er seine Mutter behandelte. Ähnliches stünde ihr dann auch bevor, abgesehen natürlich vom aktiven Liebesleben. Na danke, dachte Edda. Auf diesem Stuhl wollte sie nicht sitzen.
Sie machte lange Spaziergänge durch die nach Meer riechende Landschaft. Schleswig-Holstein, Meer umschlungen, hieß es in dem Lied. Sie schaffte es nicht, Fausto kam immer wieder dazwischen. Ihre Großmutter war Blumen- und Landschaftsmalerin und hatte Edda schon von frühester Kindheit an, wann immer sie in den Ferien dort war, mit Farben und Leinwand bekannt gemacht. Der Geruch von „Rote Grütze“ mischte sich mit Leinöl und Holunderbeersaft. Der Keller war voll mit gelagerten Äpfeln und Eingemachtem. Kein Ton von Fausto.
Eine Woche später war Edda zurück, der Schuss war nach hinten losgegangen. Weit und breit kein Fausto. Sie fand einen Zettel auf dem Kopfkissen. “Musste nach Rio, melde mich telefonisch bei dir, abrazo, Fausto.“ Erst viele Monate später stellte sich heraus, dass die schöne Blonde, die auch noch in den Startlöchern hockte, Eddas Autozettel vernichtet hatte, bevor Fausto ihn hätte entdecken können.
Er hatte den Auftrag eine Serie zu schreiben, über deutsche Auswanderer in Brasilien. Dabei handelte es sich auch um die vorherige Generation, besonders um Nazis im Exil. Es muss da wohl einige interessante, unvorhersehbare Aspekte für Fausto gegeben haben, denn er blieb sehr viel länger dort, als die Redaktion bereit war an Unkosten zu übernehmen. Der erste Teil war längst erschienen, als Fausto immer noch nicht zurück war. Auf einen Anruf wartete Edda vergeblich.
Bis er irgendwann nachts vor ihrer Tür stand, sie in die Arme nahm und sich zu ihr ins Bett kuschelte, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Er hätte einen Guru gefunden und erst den Rückflug angetreten, als keine seiner Kontaktredaktionen mehr bereit war, ihm weitere Vorauszahlungen auf ungeschriebene Artikel zu übersenden.
Edda war misstrauisch diesem Guru gegenüber, wusste sie doch inzwischen, dass Fausto nicht für den Personenkult zu begeistern war. Sie glaubte eher an eine schöne Frau im fernen Lande. Das bestätigte sich sehr bald, als wöchentlich die Briefe aus Übersee in Faustos Briefkasten flatterten. Er überflog die Briefe in Eddas Anwesenheit und ließ sie offen auf seinem Schreibtisch oder auf der Terrasse liegen. Sie flatterten davon oder auch nicht, jedes Wort war in Spanisch geschrieben. Edda fand es unwürdig, indiskutabel, abscheulich, Briefe eines Anderen ohne dessen Zustimmung zu lesen, aber diese Briefe flogen einfach wie von selbst in ihre Hände.
Sie fühlte sich elend, weil sie versuchte sie zu entziffern und noch elender, da es ihr nicht gelang. Nur Worte wie, Cariño, beso oder Querido, kannte sie aus Faustos Liedern. Edda meldete sich an der Volkshochschule für einen Spanisch Kurs an, und als Fausto davon erfuhr, war er begeistert. Er hatte die Briefe völlig vergessen und sprach öfter Spanisch mit ihr, um ihr die Melodie der Sprache, wie er sagte, näher zu bringen. Er unterrichtete sie gerne und hörte die Vokabeln ab. Als der nächste Brief aus Übersee in Eddas Harmoniebedürfnis hieb, meinte Fausto lässig, auf Eddas fragenden Blick hin, „eine Kollegin.“ Er rückte von seiner Schreibmaschine ab und drückte langsam, wie bedächtig, seine Zigarette in der überquellenden Untertasse aus, um sich die Fingerspitzen nicht zu beschmutzen, und als täte er dies zum ersten Mal. Es schien doch eine besonders enge Verbindung zu geben, zwischen seinem Körperlichen und Gedanklichen, zwischen rauchen und schreiben. Fausto konnte seine Schreibsensoren nicht in Gang setzen, ohne eine brennende Zigarette zwischen den Fingern zu halten.
Er beendete die beginnende Fragestunde ohne ein weiteres Wort und setzte sich im Lotus-Sitz einfach dorthin, wo er gerade gestanden hatte, auf den Teppichboden. Im perfekten Lotus. Was Edda erstaunlich fand, da ihre Oberschenkelmuskeln schon den halben Lotussitz boykottierten. Er hielt seine Hände leicht geöffnet nach oben gerichtet, mit geschlossenen Lidern, ohne Zigarette und antwortete nicht mehr. Eine Stunde oder länger konnte er so verharren, ohne sich zu bewegen. Dann stand er auf, reckte sich kurz wie ein Kater und mit einem klaren, freundlichen Blick verschwand er hinunter in den „Schornstein“. Wie ist es möglich, dachte Edda besorgt, dass dieser wache Geist sich jetzt mit Bier zu betäuben wünscht. Sie hatte keine Ahnung von Faustos unbewusstem Wunsch, auf diese Weise eine Erdung erzielen zu können. Keine Betäubung!
Fausto war nun seit einigen Monaten geschieden. Eines Tages machte er Edda den Vorschlag eine größere Wohnung zu mieten, anstatt der beiden Behausungen, die sie immer noch getrennt und doch zusammen bewohnten.
„Das wird aber schwierig sein, als nicht verheiratetes Paar“, meinte Edda zum Spaß. Sie hatten einigen Ärger mit seinem prüden Vermieter gehabt, wegen Eddas ständiger Anwesenheit ohne Ehebescheinigung.
„Wenn das der einzige Grund ist“, antwortete Fausto zwischen den Zeilen aufblickend, „dann heiraten wir eben. Ich muss hier aus dieser Bude raus, Adolfs Pisse hängt im Teppichboden fest.“
Eigentlich hatte sie sich lieblichere Motive zum Heiraten gewünscht, nun sollten es also Mietvorschriften und Hundepisse sein. Sie ergriff den gesponnenen Faden schnell, bevor er riss, lachte und sagte, „O.K. Wir machen einen Termin beim Standesamt.“ Drei Wochen später war sie Faustos neue Ehefrau. Sie hatten eine geräumige Wohnung mit Dachterrasse gefunden, dort hing Fausto stundenlang in seiner Hängematte und malte mit der brennenden Zigarette zwischen den Fingern, Kreise in die Luft. Wie abwesend. Es passierte oft, dass er sich dann plötzlich unbeholfen aus dieser Stoffwiege rollte, an seinen Schreibtisch stürzte und die ganze Nacht an der Schreibmaschine saß. Tippte und rauchte.
Edda hatte seinen Namen angenommen. Sie war sehr stolz auf ihren Ehemann. Sie würde an seiner Seite keine magersüchtige Fee werden. Den fernen Protest ihres Instinkts, der sich schattig und ein wenig klebrig, wie eine Staubschicht auf der Schallplatte ihrer Glücksmusik, bemerkbar machte, wischte sie energisch zur Seite.
Sie lagen gemütlich im Bett, Fausto rauchte und las in einem Buch von Lama Govinda. Einen ganzen Nachmittag lang waren sie gemeinsam den Rufen ihrer Sinne gefolgt und lümmelten sich nun dem Abend entgegen. Er blätterte in dem Buch und meinte, es sei eine interessante Reisebeschreibung über Land und Geist.
„Der Meditierende muss sich sein Ziel vergegenwärtigen...“, las er vor. Edda unterbrach ihn sofort.
„Ich bin keine Meditierende und habe nicht vor, mein Leben in permanenter Andacht mit gekreuzten Beinen zu verbringen und auf das große Licht zu warten. Ein dreifaches OM? Nein danke.“
Sie griff nach dem Rotweinglas. Fausto sah leicht verärgert zu ihr hinüber. „Warum verspottest du das OM, ohne auch nur das Geringste darüber zu wissen? Das vedantische Symbol, das Mantra des Brahman-Bewusstseins, jegliches Wort und jeglicher Gedanke blühen aus dem großen OM hervor….ach lassen wir das, außerdem, sei doch nicht immer gleich so ablehnend, niemand spricht hier von dir, Edda. Du steckst voller Vorurteile und scheinst dich außerdem nur für Lektüren zu interessieren, mit deren Vorgehen du dich identifizieren kannst.“ Er hob seine Stimme am Ende dieses Satzes etwas an, so dass ein leichter Frageton auftauchte, das schwächte seinen Vorwurf im ersten Moment ab. Doch dann fügte er hinzu, „das halte ich für beschränkt, Edda.“
„Du hältst mich für beschränkt?“ Edda war aufgesprungen, sie rannte nackt, mit dem Glas in der Hand, ärgerlich vor ihm auf und ab. Es kostete ihn Mühe ernst zu bleiben.
„Nein, nicht dich halte ich für beschränkt aber deine Art, Bücher zu lesen. Nichts interessiert dich, wenn es nicht mit dir zu tun hat, direkt oder indirekt, oder mit deinen Wunschvorstellungen. Das halte ich für beschränkt und für einen direkten Hinweis in Richtung egozentrischer Intoleranz.“
Edda sank zurück auf das Bett. Sie wollte das Liebesnest noch ein wenig länger warmhalten, romantische Beteuerungen hören und sich einzig in seinen Armen fühlen. „Warum hast du mir das nicht vor der Hochzeit gesagt“, war ihr schwacher Einwand.
„Sei nicht albern“, sagte Fausto trocken. „Es interessiert mich Edda, m i c h und in diesem Falle wäre i c h gerne der Meditierende. Willst du es nun hören oder nicht?“
Sie hatte kein bisschen Lust auf Govindas Wolkenreise durch Tibet, aber sie nahm sich zusammen und versuchte zuzuhören. Er macht genau das, was er mir vorwirft, dachte sie schmollend, er wäre selbst gern dieser Mönch mit der Karnevalsmütze. In dem Buch war ein Foto des Autors zu sehen.
Fausto setzte noch einmal an. „Der Meditierende muss sich sein Ziel vergegenwärtigen….“ Er stoppte und blickte kurz auf Edda. Sie schwieg, mit geschlossenen Augen.
„….vergegenwärtigen“, setzte Fausto zum dritten Mal an, „….er muss die Richtung im Herzen haben, dann ist es gleich, welche Methode oder Wege er wählt zu seiner Verwirklichung...“
Er, der, er! Edda bemerkte sofort, dass man hier keine Frauen einbezog, aber sie sagte nichts. Fausto las weiter, „...ob er gefühlsmäßig vorgeht und schöpferisch, oder verstandesmäßig und analytisch, er wird auf das Ziel zuschreiten.“
Dann murmelte er einige folgende Sätze unverständlich, bevor er fortfuhr, „…das gelingt nicht, wenn er an den Schöpfungen seiner Vorstellung haftet, denn diese unterliegt der auflösenden integrierenden Aktion des Einschmelzungsprozesses, der Fähigkeit eine Welt zu schaffen und wieder aufzulösen. Es zeigt mehr als alle mechanische Analyse des Verstandes, die wahre Natur allen Haftens und Begehrens.“
Na wunderbar, er hatte wieder einmal ins Schwarze getroffen. Diese Worte, nach ihren erhebenden Stunden engsten Beisammenseins, verwandelten ihre Liebeslust in einen ausgewrungenen Waschlappen, der zum Trocknen über einer verchromten Leiste hängt. Wenn das sein Gedanke war, nach solchen Küssen, dann hatte sie ein Problem. Sinnlosigkeit allen Begehrens! Wollte er etwa zu Stein erstarren?
Fausto war ins Badezimmer gehuscht und Edda nahm das Buch zur Hand. Sie fand den Absatz, „das Ziel vergegenwärtigen“ und las ihn weiter. Dabei fiel ihr auf, dass Fausto nicht alles vorgelesen hatte, sondern die Sätze vereinfacht, für sie mundgerecht interpretiert, oder besser, auf ihren beschränkten Verstand ausgerichtet vorgelesen hatte. Eine individuelle Simultanübersetzung für das schöne Dummerchen? So sah er sie also! Er hatte keinen Schimmer durch welchen Blödsinn, aus seinen überquellenden Bücherregalen, sie sich schon geduldig durchgefressen hatte. Denn auch das tat sie meistens nur in seiner Abwesenheit, als wollte sie heimlich „schlau“ werden. Eine Frechheit, ihre Auffassungsfähigkeit zu bestimmen, das würde sich ändern, er würde schon sehen. Außerdem fühlte sie sich manchmal wie das Ziel einer Gehirnwäsche seiner Ideen. So reagierte Edda immer noch auf Druck. Und das sagte sie ihm.
„Es tut mir wirklich leid, dass du dich von mir bevormundet, bedrängt fühlst“, antwortete Fausto ein bisschen traurig. „Du weißt, es sind nicht meine Ideen, es sind Jahrtausend alte Weisheiten, die Wahrheit pur. Das hat mit mir gar nichts zu tun, ich wollte gerne versuchen dir Einiges davon näher zu bringen, damit du es über mich vielleicht besser verinnerlichen kannst, um deinem Streben nach dem Morgen, gehetzt von der Flucht vor dem Gestern, ein Ende zu setzen.“
Sie wollte keinen Psychokram, nicht jetzt und schon gar nicht an Einiges aus dem Gestern erinnert werden. Woher wusste er, dass sie von dort noch etwas Gewaltiges mit sich schleppte, sie hatte ihm nicht ihren gesamten Müll offenbart. Ihre Liebe zu Fausto besaß noch ein wenig die Überlegenheit des Anfangs, ihr schöner Traum, in dem sie keinen Gedanken des Irrtums ausbrüten wollte. Diese Überlegenheit behütete sorgsam ihre ersten gemeinsamen Monate, gegen jede Wahrheit.
Edda vergegenwärtigte sich später oft dieser sonnigen Tage. In ihrer Erinnerung hatten sie seltene Kraft, sie verstanden es, drohendes Grau schon bei zartester Landung blitzschnell an die Seite zu schieben. Sie sehnte sich nach bedingungsloser Hingabe zu ihm, doch das gestattete Fausto ihr nicht. Das Wesen der Hingabe, dem man sich unbedingt nähern sollte auf dem Weg des Yoga, sei zwar das Annehmen und nicht beurteilen, hatte Fausto ihr versucht auseinanderzusetzen, aber doch nicht im Zusammenhang mit einem Menschen, sondern mit einer Seins-Form.
Edda kannte noch eine ganz andere Art von Hingabe, da überließ sie sich ohne Wenn und Aber einer höheren Macht. Sie stürmte abends, oder in den Nächten wenn Fausto verreist war, hinunter in den geräumigen Keller, den sie als Arbeitsplatz zur Verfügung hatte und tobte sich in künstlerischer Tätigkeit aus. Der darauffolgende Tag im Büro schmerzte sie dann weniger aus Müdigkeit, als aus dem Umstand heraus, den langen Tag nicht in greifbarer Nähe ihres unvollendeten, nächtlichen Abenteuers verbringen zu können. Sie konnte sich voll und ganz diesem Tun hingeben, außerdem erlebte sie in Verbindung mit der Kreativität das Einsamkeitsgefühl als positiv. Das war leider noch immer nicht in ihr Bewusstsein gelangt, denn wenn Fausto nicht in ihrer Nähe war, jammerte sie über ihre Einsamkeit. Obwohl die Verflechtung mit der Kunst ihr ein konstantes Gefühl des Lebensinteresses gab, suchte sie es in Verbindung eines anderen Menschen. Sie glaubte nicht, dass ihre eigenen Kräfte ausreichend seien, es auch zu leben.
Wenn Edda in ihre künstlerische Arbeit abtauchte, schien ihr Leben randvoll an Sinn zu sein, stark und unabhängig vom Lieben oder Geliebtwerden. Traute sie diesem Sinn nicht? Empfand sie es nur als Flucht in ihr Versteck oder war es ihr wahres Eden? Denn in diesem Teil ihres Daseins gab es keine Zweifel für sie, abgesehen von Material oder Ausdrucksform dessen, was sie gerade bearbeitete. Der Verfolgung existenzieller Zweifel waren in diesen Gefilden große Riegel vorgeschoben, sie hatten keinen Zutritt zu diesem Raum. Dort begegnete ihr eine ganz andere Art von Kampf, lustvolle, aufbauende Auseinandersetzung des Schaffensprozesses in der Gegenwart.
Eddas Einsamkeit war niemals von innerer Leere begleitet gewesen. Sie kannte diese Arbeit nicht als Beschäftigungstherapie, sie wurde ihr stets von innen diktiert. Obwohl, die grundsätzliche Order glaubte sie von außen zu empfinden, von dem, was sie inzwischen göttlich nannte und nicht wirklich in sich vermutete. Sie glaubte eher nur eine Zwischenstation dieser Kraft zu sein, an einen schöpferischen Impuls, der von selbst nicht in ihr vorhanden sein könnte. Glaubte sie nicht an Faustos „All Eins“?
Edda drückte der Schuh der Schuld, sie fühlte sich tief im Inneren, sehr tief, schmutzig, unwürdig. Sie verbarg ein Etwas vor sich selbst und die Dornen dieses Etwas hatten das Göttliche in ihr vertrieben. Das zumindest glaubte sie.
Edda politisierte nie, auch das hatte Fausto an ihr bemängelt. Eine politische Null hatte er sie genannt. Sie konnte sich nicht über Politiker, ihre Parteien oder deren Machenschaften ereifern. Ihr kam alles falsch vor, und sie hatte weder die Idee noch das Wissen für einen Verbesserungsvorschlag. Also hielt sie den Mund, wenn es um Politik ging.
Militärstaat, Diktatur, Polizeiübermacht, Rassismus. Diese Worte tauchten tausendmal und öfter im „Schornstein“ auf. Sie hatte einen laienhaften Überblick, eine Vorstellung von diesen Begriffen und verband sie mit etwas Negativem. Aber sie glaubte auch eine miserable Verwirklichung dessen zu sehen, was sich auf der Welt Demokratie nannte, oder was man unter dem Namen der Gleichberechtigung in die Tat umgesetzt hatte. Auch hier empfand sie sich, weder für einen aktiven noch für einen verbalen Einsatz, als nicht zugehörig. Es ging sie etwas an, doch sie stand abseits. Andere stritten für sie.
Edda empörte sich nicht, so wie Fausto, über das bedauernswert langsame Fortschreiten der allgemeinen Menschwerdung. Sie steckte selbst mitten drin in dieser Werdung und wusste mittlerweile, dass man besonders bei dieser Art von Entfaltung mit Rückschlägen rechnen musste. Oder mit totalem Stillstand. Und wenn überhaupt, nur mit kleinsten Fortschritten, etappenweise. Geduld, dachte Edda, wenn Fausto über die Pest der Ignoranz wetterte, wer war denn schon jemals angekommen?
Sie war schon für die forschen 68-er unbrauchbar gewesen. Sie konnte nicht demonstrieren, konnte ihren Unmut nicht hinausbrüllen. Schon gar nicht in einer großen Gruppe von Menschen, die angeheizt von der Energie der Masse, sich für oder gegen etwas ereiferte. Sie fürchtete den Terror, die Bestrafung, das Illegale. Sie hielt sich für feige. Terror war ihr zur Genüge aus dem persönlichen Umfeld der elterlichen Vergangenheit bekannt, sie hatte ihn zu intensiv erlebt, um sich ihm jetzt auch noch, fern des Elternhauses und in der Öffentlichkeit, anzuschließen.
Edda bewunderte die Revolutionäre der Weltgeschichte zwar, oder tapfere Vorreiter einer guten Sache, aber sie hätte sich niemals aus freiem Willen einer Revolution angeschlossen, wäre nicht dem allerkleinstem öffentlichen Protest beigetreten, es lag ihr fern, für Recht und Freiheit lauthals zu protestieren. Sie wollte ihre Menschwerdung als Insel verwirklichen, sie lieber vorsichtig auf Zehenspitzen holen und nebenbei nachsehen, was es denn nun wirklich mit diesem „All Eins“ auf sich hatte.
Sie empfand, die von Fausto beschriebene, fern von Rattenkot stationierte Glückseligkeit, seit ihrer frühen Jugend. Obwohl ihr das nicht bewusst gewesen war. Für sie war es immer eine Art Versteck gewesen, sie nannte es allerhöchstens, ein Sich-Vergessen. Bisher hatte ein Wächter in ihr dieses Empfinden vor dem Zugriff des Intellekts bewahrt.
Als Fausto ihr zum ersten Mal dieses, wie er es nannte, wahre Daseinsgefühl beschrieb, fühlte sie eher Bedauern als Erstaunen, mit dem Gefühl, als würde ihr ein ureigenes, wortloses Geheimnis genommen, benannt und öffentlich bekannt gegeben. Eine ähnliche Empfindung hatte sie einige Male später in Verbindung mit ihrer Kunst. Sie war abgetaucht, hatte sich und die Welt vergessen und von irgendwoher gelenkt ein Werk entstehen lassen. Sie war wie immer, nicht ganz zufrieden über das Resultat und wollte gleich zum nächsten spurten. Eine Art Sucht, sie wollte mehr davon. Beinahe glaubte sie, Zugang zu einer neuen, bisher unbekannten Art sich dreidimensional auszudrücken, gefunden zu haben. Dann wurde ihr in einer Zeitschrift oder einem Fernsehbericht genau das von ihr allein jungfräulich geglaubt Empfangene präsentiert. Als Neuheit!
Fausto machte sie auf das kollektive Unterbewusstsein aufmerksam. Sie erinnerte sich, darüber hatte sie ja schon im Zusammenhang mit den Symbolen gelesen. Also war sie doch ein Glied in der Kette, sie gehörte doch dazu! Wie sonst konnte man sich diese Verbindung erklären. Zum gleichen Moment, an verschiedenen Plätzen der Welt, hatten Menschen, ohne miteinander oder über andere kommuniziert zu haben, ihre höchst eigenen Inspirationen auf dieselbe, bisher unbekannte Weise zum Ausdruck gebracht. Alle schöpften irgendwie aus demselben Kessel, dachte Edda und unterhielt sich mit Fausto darüber, sie erwähnte sein Lieblingswort.
„Na ja, mit dem „All Eins“ hat das noch lange nichts zu tun“, meinte er ein wenig überheblich, so empfand es Edda. “Aber es ist eine Richtung dorthin.“ Er freute sich, dass sie angebissen hatte.
„Ich sehe das mit meiner Schreiberei ähnlich, außer der schriftstellerischen Begabung und einer nötigen Portion Fantasie, benötigt man besonders den dichterischen Glauben. Der verbindet mich mit allen anderen Schreiberlingen. In diesem Glauben treffen sich oft die gleichen Ideen. Er ist dem vernunftsmäßigen Glauben eigentlich überlegen, wenn du dir unter diesem Unterschied etwas vorstellen kannst?“ Edda stutzte, Glaube aus Vernunft? Wie widersinnig!
„Der dichterische Glaube ist menschlicher, er hat die empfundene Realität der jeweiligen Person in sich, er besitzt zwar auch das allgemein Reale, hat es aber eher wie eine Basis in sich, von dort geht er aus, entwickelt sich daraus, schraubt sich in die Höhe mit seinem Fantasieglauben. Ein Reichtum, der zwar auf der Wirklichkeit basiert, sich aber darüber hinaus erweitert, in die wesentliche Vielfältigkeit des Seins greift. Dieser Glaube ist auf jeden Fall der Vernunft überlegen.“
War das nun seine Meinung oder wieder eine dieser verwirrend ausgesprochenen Wahrheiten? Edda war ein wenig müde dieser, ihrer Meinung nach, oft albernen Rederei. Immer nur Worte, die sich wichtig machten, die ihre natürlichsten Empfindungen und täglichen Gedanken in einen philosophischen Hokus Pokus mit erfundenen Schwierigkeitsgraden umwandeln wollten. Worte, die zu den normalen Dingen ihres Lebens eine verbal gestrickte Entfernung schafften, sie laut dieser Worte komplizierter zu sein schienen als eine Mondlandung. Sie jonglierte doch beinahe ihr ganzes Leben lang mit diesen beiden Welten, er trug Eulen nach Athen. Warum sagte Fausto „Dichterischer Glaube“, als sei das etwas Außergewöhnliches. Warum sagte er nicht einfach, Fantasie, individuelles Empfinden oder Vorstellung. Natürlich ist sie real, da man sie wahrnimmt, egal ob es vom Gegenüber oder dem Rest der Welt messbar ist oder nicht. Eine individuelle Realität, deshalb ist sie von höherem Wert, nicht weil sie aufbaut auf allgemeiner Realität, sich potenziert, wie albern. Das kann man doch auch simpler ausdrücken, zum Beispiel, mein Hunger ist nicht deiner, aber realer für mich als für dich. Das sagte sie ihm, er lächelte sie milde an.
Dieser Blick irritierte Edda immer wieder, sie fühlte sich zur Schülerin degradiert. Nur weil sie dem Bildungsgrad seiner Welt nicht entsprach und ihr Lippenrot öfter erneuerte, durfte er ihren ersehnten Status, den einer ernst zu nehmenden Gesprächspartnerin, doch nicht überlächeln. Das kann man alles lernen, dachte sie trotzig, doch in die Welt der Fantasie muss man hineingeboren sein, und da ist er unbestritten ein Analphabet. Oder zumindest mir unterlegen. Schnell schwächte sie ihren blasphemischen Gedankensprung, Faustos Genius gegenüber, etwas ab.
Machte sie etwa den Fehler ihres Vaters, sich mit der Überlegenheit ihres Gegenübers messen zu wollen? Die Fantasie war ihr heilig, außerdem war sie das einzig wirksame Mittel, das Edda gegen die Angriffe aus ihrem Seelendunkel einzusetzen wusste, eine konsequente Steuerung in Richtung Fantasie. Damit war sie aufgewachsen, es war eine Intelligenz für sie gewesen, die lebenswichtig war, immer noch. Sie tat das mit Leidenschaft und vertraute der Intuition. Sie fühlte sich von der zeitlosen Wahrheit des Glaubens berührt, ihr „Roter Faden“, der sie schützte, ohne dass sie es wusste. „Ist es denn nötig zu glauben?“, wurde sie einmal gefragt. Darauf wusste sie keine Antwort, genauso hätte man sie fragen können, „Ist es nötig eine Frau zu sein?“
Edda hatte in Faustos „Bibel“ gelesen, „Love is the crown of all being“, das zitierte sie vor ihm, als er ihre dichterische Liebesqualität wieder einmal mit Erklärungen über das Wahre in den Schatten stellen wollte. Warum sollte der Liebeswunsch die Entwicklungsmöglichkeit und alle Wahrheit zerstören? Edda hatte ihn auf ihr Lieblingsthema gelenkt.
„Weil Liebe und Liebe auf zweierlei Pferden geritten wird, auf dem abgeklatschten Wort als allgemeiner Begriff und als seine wahre Bedeutung. Allgemein wird Liebe als eine verpflichtende Bindung verstanden, sogar als festes Versprechen an eine Person, aber das Gegenteil ist das Gefühl dieses Phänomens. Liebe ist nicht ein winzigster Teil dessen, was ihr aufgehalst wird. Darüber kennst du längst meine Meinung. Verantwortung, Besitztum, Ehe, Kinder usw. All das knüppelt sich zwischen die Beine der Liebe und vertreibt sie.“ Edda schluckte schwer an Faustos Antwort. Hätten wir also ein Kind zusammen, dachte sie und verdünnte gehörig ihre Aufmerksamkeit auf seine folgenden Worte, wäre es ein Stolperknüppel für unsere Liebe? Denn er hatte gesagt, Kinder und so weiter. Sie spürte die Enttäuschung bis ins Knochenmark kriechen.
„Zu diesen Knüppeln gehören besonders, die Moralbegriffe, das Geld, Gesetze, sogar die Religion. Eine endlose Reihe ihrer Feinde steht Schlange, bevor man in ihre Nähe gelangt, falls man dieses Glück ihr zu begegnen überhaupt erfährt“, ereiferte sich Fausto.“
Jetzt sollte er zugeben, dass er durch mich die Liebe erfährt, dachte Edda. Sie sah ihn glühend an.
„Edda, wie oft haben wir schon darüber geredet. Ein Teil in uns sehnt sich permanent nach einer Verbindung mit einem anderen Menschen, der Wunsch sich zu komplementieren ist stets präsent, es fehlt immer etwas, was man in seinem Gegenüber unbewusst sucht oder sich vorspielt gefunden zu haben“.
Warum drückte er sich nicht in der ersten Person Singular aus, warum sagte er immer, man oder wir. Warum nicht, ich, Fausto. Edda wollte, wenn es um das Thema Liebe ging, nichts Allgemeines mehr hören.
Er sprach weiter. „Manchmal kann man zwar dadurch eine kurze Pause der Suche erlangen, doch letztlich, wenn man es auf diesem personengebundenen Weg sucht, reist diese Erfüllung der wahren Vereinigung vor uns her, wie die Karotte an der Angel vor dem Maul des Esels.“ Zuerst bin ich der faule Apfel und nun auch eine Karotte, super romantisch, dachte Edda zickig. Sie verstand ihn gut, wollte es aber nicht für ihre Belange wahrhaben.
„Man hat ihren Duft vor der Nase“, sagte Fausto, er war noch mit der Karotte beschäftigt, „man erblickt sie schon ganz nahe, aber diese kurze Entfernung bleibt konstant bestehen, wie das wiederkehrende Sehnen. Man stößt immer wieder nur auf die Reflexionen seiner eigenen Projektion. Man atmet schneller und nennt es Liebe. Natürlich muss sich herausstellen, dass niemals ein anderer Mensch seinen eigenen Projektionen gerecht werden kann. Bei manchen Paaren fällt der Schwindel ganz schnell auf, bei anderen kann es Jahre dauern, oder es versinkt ein Leben lang im Meer der Kompromisse. Das Eingeständnis, die Liebe als Trampelpfad zu missbrauchen und vollbeladen mit seinen Bedürfnissen im Gepäck über sie hinwegzustampfen, anstatt in ihren Höhen zu schweben, ist schmerzhaft und wird meistens verdrängt. Vorzugsweise wird noch einmal das Altbekannte mit einem neuen Partner durchgehechelt, bevor man das Konzept umschreibt und der Liebe um der Liebe willen wirklich ins Auge sieht.“
Edda hatte manchmal den Eindruck, als misstraue er jedem einzelnen Laut seiner eigenen Worte, als sagten sie nicht das, was er wirklich hervorziehen wollte, als sei er behindert und seine Worte nur Krücken, nur eine provisorische Art sich etwas Wichtigem zu nähern, als stecke er in einem unfertigen Zustand fest, fern der wahren Verständigung.
Fausto verreiste wieder einmal für unbestimmte Zeit. Edda litt, vermisste ihn wie gehabt und vergaß sobald er zurück war, seine bedrohend wirkenden Worte über die Liebe. Plötzlich konnte sie ihn wieder anfassen, ihm in seinen Hintern kneifen und ihren nackten Fuß an seinem Körper reiben. Seine Worte waren wie ihre Orakelspiele, sie galten für sie nur, wenn es ihr passte. Das, was sie nicht wahrhaben wollte, versuchte sie zu überhören oder zumindest nicht mehr störend darüber nachzudenken. Die Worte hockten in der Ferne.
Es schien, als hätte sich Fausto auf seinem Weg ins Licht ein wenig in der Richtung geirrt, als hinge er fest auf einer intellektuellen Ebene. Dazu beschwerte ihn vermehrt der Alkohol, wirkte behindernd auf seine Bemühungen zu schweben. Sein innerer Blick schlurfte durch das Dickicht der Wiederholungen. Immer öfter bemerkte Fausto die Fußabdrücke vorhergegangener Wanderungen seiner Gedankengänge, sie wiederholten sich tückisch und waren zahlreich verteilt, stets vor ihm am Ort sichtbar. Wie Abdrücke eines Denkers, der schon vor ihm dagewesen ist. Diese Abdrücke grinsten ihn höhnisch an, seine aufgewärmte Begeisterung erstarb beschämt. In diesen Momenten erkannte er seine Gedanken ganz klar als gedankliche Bemühungen, die er schon unzählige Male hinter sich zu lassen geglaubt hatte. Er dachte, lebte, liebte, reiste, aß und trank, wie im Kreise, mit dem Buch auf den Knien, dem Glas in der Hand und der Zigarette zwischen den Lippen. Nun verlangten diese Gedanken störend deutlich danach, nicht noch einmal gedacht werden zu wollen. Nicht von ihm! Doch auch Faustos Synapsen waren Gewohnheitstiere, sie fanden keine neuen Wege, sie sausten pausenlos um die selben Kurven.
„Die Zeit, ja die Zeit müsste der Angelpunkt sein“, begann er von neuem. „Die Zukunft ist abwesend, noch nicht geboren, sie kommt nach uns. Ein Fakt. Der Moment der Zukunft kann also nie geboren werden, er liegt immer davor. Zukunft und Vergangenheit haben ihre eigene Wahrheit, sie schlummert im Uterus der Zeit. Sie ist die Zeitlosigkeit. Kann ich mich in diese Zeitlosigkeit hineindenken, gleich Gegenwart? Nein, es muss ein anderer Ort sein als die Gegenwart, denn das ist Bewusstsein außerhalb der Zeit, nicht ohne sie. Dazu der Standpunkt des Bewusstseins, für das Unbewusste gibt es keine Zeit. Erstrebenswert also doch, das Zeitlose Bewusstsein.“
Ein Karussell! „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sind Messmarken des Bewusstseins, wie Raum und Zeit.“ Fausto hing in seiner Hängematte, er dachte sich die Gehirnwindungen wund, oft murmelte er seine Überlegungen leise vor sich hin. Edda war besorgt. „Edda, solange ich noch Zweifel habe, bin ich noch nicht dem Wahnsinn verfallen“. Diesen Satz hatte Edda auch schon einmal irgendwo gelesen.
„Der Gleichzeitigkeitseffekt ist jenseits der Zeit, man müsste zwischen den drei Zeiten frei schweben können. Aber wo ist man in diesem Zwischenraum? In diesem Gap, zwischen Gestern und Heute, zwischen Vergangenheit und Zukunft des Gestern. Wie groß ist dieses Gap? Demnach müsste es viele dieser Zwischenräume geben, unendlich viele. Zwischen Allem könnte es diesen Raum geben, nicht nur zwischen den Zeiten. Auch zwischen den Noten, den Zeilen, den Worten, dem Leben? Das Wort Zwischenraum betitelt dieses Phänomen sehr treffend. Ich bin fast sicher, man kann in diesem Raum zwischen der Zeit und Allem verweilen, vielleicht ist Zwischenzeit der Tod, oder entspricht der Zeit nach dem Tod und vor der Wiedergeburt.“
Edda schwieg, diese Zwischenzeit als Raum interessierte auch sie. Mit Reinkarnation hatte sie allerdings wenig im Sinn. Nur hätte sie das in Worten nicht so ausdrücken können oder wollen, ohne ihn zu verletzen. Sie fand diese Gedanken unnütz und verrückt, man kam mit ihnen doch nicht von der Stelle, niemand konnte mit Sicherheit darüber Bescheid wissen. Für sie waren solche Überlegungen immer noch verwirrend, wenn nicht sogar destruktiv. Auf jeden Fall sollte man sie im Griff haben.
Faustos Gedankenlamento hatte sie wieder traurig gestimmt. Warum konnte er sich nicht einfach an ihrem Zusammensein erfreuen. Er dachte laut vor sich hin und erwartete Eddas Einsatz. Eine Flasche Ballentine´s stand griffbereit neben seiner Hängematte. Edda sah besorgt auf den Flaschenpegel. Fausto grinste. “Ich muss mich doch erden“, war sein Einwand.
Sie war gerade nach Hause gekommen, wie immer erschöpft von ihrem Büroalltag, den sie verabscheute. Sie freute sich Fausto zu sehen. „Edda, mein Herz, ich bin sicher, man kann lernen zu entscheiden, nach Belieben zwischen jeweils einer der drei Zeiten zu weilen.“ Sie sah ihn an und versuchte sich nach dem ausführlichen Begrüßungskuss einen Weg durch die Wohnung zu bahnen. Der Eisschrank war leer. Er hatte nicht eingekauft. Die Küche war ein Saustall, und sie war hungrig.
„Die Römer sind gegangen“, sagte Fausto, „sie sind vor uns gegangen, O.K.? Was sie schon hinter sich haben ist noch vor uns. Das heißt, ihre Vergangenheit steht uns noch bevor. Edda, wo bist du denn, kannst du mir folgen!“ Edda nestelte an einem eingetrockneten Stück Gouda herum und versuchte ihm Gehör zu schenken.
„Es gibt demnach mehrere Vergangenheiten, A, die individuelle, B, die universelle und C, die wahre Vergangenheit, jene, welche in der Gegenwart lebt. Eine Vergangenheit, die jede Zeit aufhebt, sie antreibt ohne zu vergehen.“
Die Haustür krachte ins Schloss, sie war geflohen. Täglich, nach ihrem Bürotag auch noch einzukaufen, zu kochen, Geschirr abzuwaschen und zusätzlich der Forderung gerecht werden, seine Gedankenspiele aufmerksam zu verfolgen, kostete sie ungeheure Mühe. Sie machte einen Haken, mied den Supermarkt, fand sich im „Schornstein“ wieder, aß ein Stück Käse mit Senf und trank ein Alt Bier. Seit Monaten erwartete sie am Abend die Alternative, Küchendienst oder Pizzeria. Diese Routine war nun durchbrochen, sie hatte sich der Option Käse mit Senf gestellt. Faustos Verhalten dem Alltag gegenüber war ihr zur Anstrengung geworden. Er rührte keinen Fingen im Haushalt und würde sich eher ein Bein brechen, beim Übersteigen seiner nach dem Gebrauch liegengelassener Klamotten, als irgendetwas einmal zur Seite zu falten oder sogar zu säubern. Er hatte noch nie seine Wohnung geputzt. Keine Wohnung! Damit vergeudete Fausto nicht seine Zeit. Das war bisher auch nicht nötig gewesen, es hatte immer Frauen gegeben, die sich der Illusion hingaben, in Faustos Leben zu gehören, wenn sie sich eifrig darum bemühten seinen Mist zu lichten. Jetzt war Edda da! So, hatte sie sich das nicht vorgestellt.
Die täglich notwendigen Griffe, um einen Haushalts aufrecht zu erhalten, gab es nun einmal, das Leben hatte das Traumpaar, Edda und Fausto, nicht davor verschont. Diese Notwendigkeiten drohten ihr Spiel zu verschlingen, und wie Fausto meinte, in Zeterei über den Müll oder Abwasch abzurutschen. Seit einiger Zeit bemängelte sie, mit Unmut gewürzten Worten, seinen Realitätsverlust. Er fand sie, seit genau jener Zeit, nämlich seit sie ins Büro ging, spießig. Das war für Edda keine Beleidigung, da sie gerne ein wenig spießig gewesen wäre, denn das hatte sie in ihrem Elternhaus vermisst.
„Sei nicht so ungemütlich“, beklagte Fausto sich, wenn sie sich überwunden hatte den Staubsauger in Gang zu setzen und leere Flaschen, Zigarettenkippen und stapelweise gelesene Zeitungen entsorgte, die überall ihren Platz hatten. Ihr lag auf der Zunge, entweder kommt eine Putzfrau zweimal in der Woche, oder ich gehe. Dann fiel ihr die Adolf Geschichte ein, und sie schwieg. Er sollte von selbst erkennen, dass eine Putzhilfe dringend nötig war. Um seine Frau zu entlasten! Auch dieser Gedanke gefiel Edda nicht, sie wollte ihren Liebsten ja nicht erziehen. Auf keinen Fall!
Fausto war sehr mit seiner Lichtsuche beschäftigt. Neben dieser Suche und seiner Schreiberei blieb wenig Sinn für die Nestpflege. Er kümmerte sich äußerst selten um den Abwasch, und falls er sich dazu herabgelassen hatte, erledigte er ihn mit eigener Methode. Wenn Geschirr und Besteck bis zum letzten Löffel benutzt waren, verschwand oft, falls sich die angetrockneten Reste nicht sofort und auf der Stelle lösen ließen, ein Teil davon im großen Müllsack. Ein Einweichen der Teller lag außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Es passierte nicht immer aber recht oft, dass gebrauchtes Geschirr im Müll landete, und Fausto, bevor Edda zurück war, mit einer neuen Billiggarnitur für die Küche wieder auftauchte. Er benutzte es dann direkt aus den Kartons.
Edda hatte ihren Fulltimejob, sie huschte außerdem sehr oft in den Keller, ihr Atelier, und sie war sehr mit der Pflege ihrer Liebe zu Fausto beschäftigt, die sich zum großen Teil im „Schornstein“ abspielte. Der Haushalt löste sich von seinem Begriff, das Chaos war vorhersehbar. Sie aßen im „Amalfi“ ihre Pizza, und die Wäsche kam gebügelt aus der Wäscherei zurück. Das verschlang Unmengen an Faustos Einkommen, was zu dieser Zeit noch kein Problem war. Er hielt diese Ausgaben für selbstverständlich, da er es anders nicht kannte. Er schrieb mit Engagement und wenig Leidenschaft. Alles, was er zu Papier brachte, verkaufte sich, und da er jetzt keine Romanprojekte mehr vor der Brust hatte, schrieb er am liebsten Drehbücher und für den Rundfunk. Eine Rundfunk Serie, die er fabriziert hatte, ging durch die ganze Welt, das freute ihn, aber es war eine verhaltene Freude. Über seine Arbeit als Schriftsteller und seinen ganz persönlichen Kram, redete Fausto in der Kneipe nicht. Seine Trinkkumpanen wussten was er beruflich machte, jedoch setzte er sich niemals damit in Pose. Als er aber eine kleine Filmproduktion, mit einem korrupten Partner, zum Leben erweckt hatte, zu einem kurzen Leben, sprach sich das in der Damenwelt wie ein Lauffeuer herum. Sie umschwirrten ihn noch aufdringlicher, obwohl er nur pädagogische Filme drehte. Für Eltern, Lehrer und Jugendliche geeignet und hauptsächlich auch mit diesen als Akteure. Fausto hatte auch eine Ausbildung als Regisseur und Kameramann in New York absolviert. Ein Film hatte ihm sogar, kurz bevor Edda ihn kennengelernt hatte, einen begehrten, hochdotierten Preis in Berlin eingebracht. Ohne Zweifel, er verstand etwas von diesem Fach, aber gegen die ganz Großen kam er nicht an. Ähnlich verhielt es sich mit seiner literarischen Laufbahn. Er brachte zweimal ein beachtenswertes Buch zustande und verzettelte sich danach im Labyrinth der Wiederholungen. So verlor sich seine Qualität in Wiederholungen mit forciertem Charme. Seiten, die schon rot von ihm geschrieben worden waren, die er nur blau einfärbte, im Glauben etwas Neues geschaffen zu haben. Seine Kritiker zerrissen ihn, und seine Leser verloren das Interesse. Das störte ihn nicht, nicht so, wie man hätte annehmen sollen. Im Gegenteil, außer dass die Tantieme schwanden, fühlte er sich erleichtert. Er schrieb mit neuem Elan, Essays, Artikel und Berichterstattungen. Sogar Literaturkritiken, unter einem Pseudonym. Sie waren gut, waren gefragt, doch hatten sie den geforderten journalistischen Stil, mit welchem er sein schriftstellerisches Talent auf Eis gelegt hatte. Früher hatte er sich geweigert auf Bestellung zu schreiben und behauptet, er schreibe doch nicht um zu verkaufen, er sei doch kein Schreibknecht! Jetzt schrieb er nur noch im Auftrag und für gute Bezahlung. So drehen sich Meinungen und Tatsachen unaufhörlich um sich selbst, als könnten sie nicht beständig sein, als seien sie der Gravitation verpflichtet.
„Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“, meinte Fausto, wenn Edda ihn, unsicher geworden, auf solch einen seiner Widersprüche aufmerksam machte. Wenn er diesen Ton anschlug, hatte er seinen gesättigten Erdungsgrad erreicht. Edda beängstigte dieser Satz und dieser Zustand, ebenso wie der Spruch: „Das Leben endet sowieso tödlich.“ Das war nicht Fausto, er wollte provozieren und auch das war nicht er. Sie wollte sich auf ihn verlassen können, ihn anhimmeln dürfen. Das nahm er ihr, wenn er auf diese Weise provozierte oder sich mit Plattitüden brüstete. Edda hatte geahnt, von Anfang an, dass sie sich mit ihrem Anlehnungsbedürfnis an ihm die Zähne ausbeißen könnte, und trotzdem gab sie ihre Art ihn zu lieben nicht auf. Lieber riskierte sie einige Zahnlücken.
Fausto machte seine Arbeit wie nebenbei, er trank und reiste, liebte Edda, wenn auch neuerdings etwas abwesend, und er versank mit Leidenschaft in Sri Aurobindos „Synthese des Yoga“. Täglich, schon bei Tagesbeginn, während Edda noch schlief. Auch wenn es am Abend zuvor hoch hergegangen war, im Morgengrauen hockte er vor diesem Buch. Edda blinzelte manchmal schlaftrunken zum Schreibtisch hinüber, nach ihrem Empfinden las er es aufmerksamer und vor allem inniger als der Papst die Bibel.
Fausto leitete wieder einmal eine seiner Fluchtaktionen ein. Er kam nicht „Mariachis“ singend aus der Dusche, sondern kramte wortlos, mit lautem Gepolter, im Flureinbauschrank nach seiner winzigen Gepäcktasche. Oft nannte er Edda morgens zärtlich, meine Königskobra, wenn sie das Haar zerwühlt, ihn anblickte, er sich paralysiert fühlte und bei ihr bleiben wollte. Er bewunderte mit Furcht das Weibliche, für ihn von Schlangenhaftem durchwoben. Er betrachtete seine Frau gerne und erfand spottende Kosenamen für ihre erstaunlich geformten Füße.
Trotz seines mangelnden Einsatzes für Haus und Hof, Edda war sich sicher angekommen zu sein. Sie würde sich weiter aufrichten um für i m m e r an seiner Seite zu leben. Sie würde ihn nicht wieder davonziehen lassen. Am liebsten würde sie mit ihm verschwinden. Sie könnte sich als Fotografin umschulen lassen und ihn auf allen Recherchen begleiten. Auf allen!
Aber sie lag nur still da, im zerwühlten Morgenbett, wie ein paralysiertes Kaninchen vor dem Geist des Gefressenwerdens. Sie fühlte sich festgeschweißt. Gleich, in der nächsten Sekunde würde der Zug sich in Bewegung setzen, Entfernung schaffen. Sie fand einfach keine Worte, keine Tränen, und sie konnte nicht abspringen, den Zug nicht aufhalten. Sie hörte das Schuften der Lokomotive wie ihre Herzschläge, das Pfeifen des Schaffners und das Zuschlagen der Türen. Ein kurzer Kuss des Abschieds, und weg war er.
Dann erst löste sich die Starre. Edda stürzte aus dem Bett zum Fenster und sah ihn, wieder einmal, leichten Fußes davongehen. Seine schönen Hände ruhten niemals in den Hosentaschen, sie bewegten sich im Gleichgewicht seitlich seines schreitenden Körpers. Sie bewegten sich, als sähen sie Edda an, winkten traurig zurück, mit dem Ausdruck seiner Seele in ihrem leichten Schwingen.
Und wieder keimte sofort die Sehnsucht nach seiner Rückkehr, wuchs mit jeder Minute seiner Abwesenheit. Lebendig am Marterpfahl. Würde Edda verbrennen, an dieser Liebe ersticken? Sie vielleicht, aber ihre Liebe zu Fausto nicht. Die wollte nicht zu kalter Asche werden, tief in einem Abgrund der Vergangenheit verscharrt. Jeden Morgen erwachte sie mit Edda, reckte sich ins Leere, aus dem Trübsinn des Alltags enthoben. Traurig und voller Hoffnung.
Edda hebelte eine Parallelaktion, die sie vorwiegend ihrem Körper spendete. Sie hatte einem sexuellen Verlangen nachgegeben und versuchte Fausto währenddessen zu vergessen. Was sich als nicht möglich erwies. Ihre Seele und mehr, glaubte sich bei ihm. Sie wollte leben, sie wollte lachen und schön bleiben. Sie wollte keine Gramesfalten züchten. Trotzdem stolperte sie eilends aus diesem kurzen Vergnügen wieder heraus. Es klappte nicht, sie fühlte sich als Verräterin.
„Freiheit und Hingabe sind Fundamente der Liebe, Demut ist die Stütze geistiger Stärke“. Diese Worte hatte Edda in Großbuchstaben unter Glas verbannt. Versteckt, an der Innenseite der Einbauschranktür hängen. Ab und an öffnete sie diese furnierte Tür und linste hinein. Es entsprach ihrem Empfinden des Verzichts, sie hatte diesen Spruch in einem esoterischen Blättchen entdeckt und ergötzte sich daran. Keiner ihrer Bekannten aus dem „Schornstein“ hätte das lesen dürfen, besonders die Frauen nicht, diese steckten ausnahmslos in einem Emanzipationswahn und hätten diesen Satz in die falsche Kehle bekommen. Edda glaubte ihn verstanden zu haben, sie sah es nicht im Sinne der katholischen Kirche, sondern eher als ein Befreiungsversuch ihrer festgeschraubten Wunschvorstellungen.
Wiederholung, Agonie der Menschwerdung? Willkommene Einrichtung gegen die Entwicklung? Das Wesen Mensch, kaum geboren, in seinen permanenten Wiederholungen schon zum Stillstand gezwungen? Geburt ist Sterben? Hoffnungsvolles Sein, auch ohne Fortschritt, ist mehr Sein als Tod! Ist die Blindheit der Schutz dieser vorüberhuschenden Existenz, die gegen geistige Entwicklung streikt? Wie weit kann ein Rückzug sich hinziehen, über die vollkommene Auflösung hinaus? Warum umwuchern Angst und der Griff nach der Leere den Menschen wie selbstverständlich, als bestünde er aus ihnen? Werden Umstände der Entwicklungsmöglichkeit übersehen, aus der Furcht heraus sich nach Innen zu wenden oder aus wirklichem Unvermögen, aus der Unreife heraus, die mit ein bisschen Bemühen doch vertrieben werden könnte? Warum strebt es allgemein nach der Augenwischerei in seiner Bequemlichkeit, die sich von der ungetrübten Substanz des Geistes entfernt, von der Möglichkeit einer wahren Begegnung mit dem Sein? Warum sind die einfachsten Wege so unzugänglich, so wenig ausgetreten, kaum entdeckt, nicht bevölkert? Warum diese unendlich scheinende, generelle Unterbelichtung?
Edda fühlte sich schwindelig, ein wenig so, als hätte sie leichte Vergiftungserscheinungen von diesen Themen, die sich ihr aus den Bücherseiten entgegenstemmten und Einlass in ihr Bewusstsein forderten.