Читать книгу Italienischer Traum am Gardasee - Gabriele Raspel - Страница 6

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Als Isabella das Gutshaus gegen halb zwei wieder betrat, empfing sie vollkommene Stille. Sie warf einen Blick in die Küche, doch sämtliche Bewohner befanden sich nach dem Pranzo pünktlich um zwölf wie üblich in ihren privaten Räumen zur Siesta. Sie schnitt sich eine Weißbrotscheibe zur Suppe ab, stellte dazu ein großes Glas Leitungswasser auf ein Tablett, klemmte sich die Sonntagszeitung vom Küchentisch unter den Arm und stieg damit die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung, gefolgt von ihrem zehnjährigen Maine-Coon-Kater Barney, einem imposanten Stubentiger mit einem Meter Länge von der Nase bis zur buschigen Schwanzspitze.

Ihre Wohnung befand sich neben den drei von ihren Eltern bewohnten Zimmern im ersten Stock des Ostflügels. Als Erstes betrat man das Schlafzimmer mit dem angegliederten nagelneuen Bad, das sie ganz allein benutzen durfte und das ihr nunmehr ungestörte, stundenlange Wannenbäder ohne genervtes An-die-Tür-Klopfen ihrer Mutter ermöglichte. Dass man durchs Schlafzimmer musste, ehe man ins Wohnzimmer kam, lag daran, dass Isabella natürlich das aparte Turmzimmer zum Aufenthaltsraum bestimmt hatte. Ein Prinzessinnenzimmer, befand sie, hell und mit Rundumblick auf den Lago, ausgestattet mit einer gemütlichen Sitzecke für zwei Personen im kleinen Erker, einer antiken Kommode, auf der sie ständig wechselnde Bilder ausstellte, stets gemeinsam mit einem frischen Blumenstrauß, und ihrem Schreibtisch mit dem PC. Hier gab es einen Kamin, den sie ab Herbst bis zum Frühling gern anstelle der Heizung benutzte, um es sich auf dem Sofa davor bequem zu machen und beim Knistern des Feuers zu entspannen. Natürlich hatten die Altvorderen bereits in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts eine Zentralheizung einbauen lassen, doch die galt es mittlerweile dringend zu erneuern. Auch auf dem kleinen runden Tisch am Erkerfenster stand ein frischer Blumenstrauß – vor allem im Juni bestehend aus Rosen, ihren Lieblingsblumen, die sich im Muster des Sessels wiederholten, und im Winter aus einem Strauß aus Tannengrün oder Koniferen. Der Clou des Zimmers jedoch war die Stiege hinauf auf das Turmdach. Diese Terrasse gehörte ihr ganz allein – ein weiterer Traum.

Nachdem sie sich geduscht hatte, öffnete sie im Schlafzimmer das Fenster und stützte sich einen Moment auf die tiefe Fensterbank. Wie immer bereiteten ihr das rasante Treiben der Surfer und die gemächlicheren Segler größtes Vergnügen. Kein Wunder, dass ihr Vater, ein begnadeter Landschaftsmaler, so oft wie möglich im Garten saß, um die farbenprächtigen Segel auf dem in allen Blautönen funkelnden See zu Papier zu bringen. Erst am Abend, wenn die Surfer sich in der pittoresken Altstadt regenerierten, durften die Kitesurfer auf den See, denn es galt zu vermeiden, dass es zu Kollisionen der mit großer Geschwindigkeit Surfenden kam, wobei das Kitesurfen in Isabellas Augen mehr dem Fliegen glich als dem Gleiten.

Lächelnd lauschte sie einen Moment dem Spiel des Windes, vor allem in den Sommermonaten Musik in ihren Ohren, wenn er sich in den Blättern des Tulpenbaum-Methusalems und der zahlreichen anderen Gehölze verlor, die das Haus vor den Blicken der Touristen auf der Seeseite schützten.

Sie setzte sich an ihren PC und recherchierte nach Arbeitsangeboten, möglichst in ihrer Nähe, denn sie wollte vermeiden, dass sie sich morgens und abends über die in der Saison vollgestopften Uferstraßen quälen musste. Leider konnte sie von hier aus nicht das Boot benutzen. Ein original Rivaboot, der Rolls Royce des Meeres aus den Fünfzigerjahren, war der Stolz der Familie und würde natürlich niemals verkauft werden, auch wenn der Liebhaberpreis für ein gut erhaltenes Rivaboot mehr als eine halbe Million betrug, wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte. Das durchdringend tiefe Geräusch der Riva Aquarama war typisch, ebenso wie die fugenlose, tiefrote Mahagonibeplankung des eleganten Bootskörpers. Es lag vor Limone im Hafen, da der nördliche Teil des Sees für private Motorboote gesperrt war. Sie hatte sich vorgenommen, mit ihrer Vespa zur Arbeit zu fahren, um auch in der Rushhour gut voranzukommen.

Doch heute war ihre Suche im Internet erfolglos. Sie schloss den PC und wandte sich zur Musiktruhe, auf der Barney ein Schläfchen hielt, und legte eine ihrer Lieblings-LPs auf. Sie hielt ein Zündholz an den Holzstoß im Kamin, den Paula wie üblich ab Herbst vorbereitete. Ab Januar war es mit diesem Verwöhnen vorbei, denn dann widmete sich Paula wieder ihrer Winterarbeit als Skilehrerin, bis sie im April erneut nach Riva zurückkehrte.

Eingewickelt in eine farbenfrohe Jacke aus feiner Alpakawolle, kuschelte Isabella sich auf ihr Sofa, um sich nun den Stellenangeboten in der Tageszeitung zu widmen. Dabei wurde sie begleitet von Sonatenklängen des Barockkomponisten Scarlatti, die aus der Musiktruhe glockenhell erschallten. Um diese elegante, aus rötlichem Palisander gefertigte Musiktruhe, die 1963 dank ihres damaligen modernen Designs in London beträchtliches Aufsehen erregt hatte, beneidete ihr Vater sie sehr. Mit seiner schlichten Kastenform passte dieses alte Designerstück in jede Umgebung. Es barg nicht nur ein mittlerweile ausgetauschtes, mit moderner Technik versehenes Radio, sondern vor allem einen Plattenspieler nebst Schublade für die Schallplatten. Ihr Chef hatte ihr das edle Teil zum Abschied geschenkt, nachdem sie ihm einmal verraten hatte, dass sie zwar fortschrittliche Technik liebte, beim Musikhören aber ausnahmsweise immer noch den altmodischen Plattenspieler gegenüber CD-Playern bevorzuge. Weihnachten, so hatte sie beschlossen, würde sie das Tonmöbel ihrem Vater weitergeben, denn der Umfang seiner Plattensammlung übertraf ihre noch bei Weitem, und er besaß ebenso wie sie vorher nur einen einfachen Plattenspieler, während das Palisanderholz einen herrlichen Klang erzeugte.

Ihre Füße ruhten geschützt von Chiaras handgestrickten, kratzigen Socken auf der bequemen gepolsterten Bank davor und animierten Barney, der sein Schläfchen beendet hatte, sogleich zärtlich an der Wolle zu zupfen, wie er es liebte, weswegen Chiara auch längst von teuren flauschwollenen Abstand genommen hatte und nur noch robusteren Exemplaren vertraute.

Diese Bank war für alles Mögliche gut: Zum Absetzen eines Tee-Tabletts, zum Deponieren diverser Landhaus-Zeitschriften und eben auch zum Ablegen der Füße neben dem liebevollen Barney, der diese Bank zu seinem zweitliebsten Möbel erkoren hatte, neben dem Plätzchen unter dem altertümlichen Küchenherd, der mit Holz betrieben wurde. Hier ruhte er schnurrend, wenn sich Isabella in das Zimmer zurückzog – sofern er nicht irgendwo in den zahllosen Räumen und Gängen des Hauses schlicht umfiel, um an Ort und Stelle eines seiner zahlreichen Schläfchen abzuhalten. Das Ganze in manchmal grotesken Verwinkelungen, die ihnen noch heute oft ein Lächeln hervorriefen. Barney war eine reine Hauskatze, wozu alle sich nur beglückwünschten. Nie hatte er scheinbar den Wunsch verspürt, die Welt da draußen zu entdecken. Gut so.

Wie gewöhnlich hatte Isabella die bejahrten Vorhänge aus grünem Damast, der immer noch einen wunderbaren Schimmer aufwies, nicht zugezogen – unnötig bei ihrem ohnehin nicht einsehbaren Zimmer. Ihr bot sich von hier aus ein überwältigender Blick auf den Park mit seinem seltenen, teilweise monumentalen Baumbestand. Ganz besonders zogen der beinahe vierzig Meter hohe Tulpenbaum, der auf seinem meterhohen halbkugeligen Fundament aus Wurzelwerk Halt fand, sowie die Libanon-Zeder, beide die ältesten Veteranen im Park, immer wieder die Aufmerksamkeit der Besucher von der Seeseite auf sich.

Trotz des frühen, hellen Nachmittags warf die altmodische Stehlampe bereits ihr warmes, orangefarbenes Licht auf Isabellas Sofaplatz, wobei fast alles in diesem Gutshaus alt und somit altmodisch war. Von oben vernahm sie das vertraute Knarren der Holzböden. Man war aufgewacht, dachte sie, denn die Siesta war ein Ritual, dem sich alle Bewohner unterzogen – sofern sie nicht außer Haus arbeiteten. In den oberen Zimmern wohnten Elisa, sechzig Jahre alt, die als Hauswirtschafterin fungierte, und Paula, zweiundsechzig, die als Gärtnerin Thibault zur Hand ging und im Winter immer noch als Skilehrerin in Madonna di Campillo arbeitete. Sie als Angestellte des Hauses zu bezeichnen wäre so, als titulierte man die Hofdame der Queen ein Dienstmädchen. Sie lebten in der Villa seit dem legendären fünften April 1980, als Chiara entschieden hatte, dass erstens der Franzose Thibault der Mann ihres Lebens werden würde und zweitens die beiden Frauen, die das Schicksal bereits arg gebeutelt hatte, bei ihr das riesige Haus bewohnen durften. Chiara und die Großeltern kannten beide Frauen schon zwei Jahre, da sie stets im Winter nach Madonna reisten und bei Paula immer privaten Skiunterricht genossen hatten, während Elisa einen kleinen Andenkenladen betrieb. Paula hatte nach zweijähriger Ehe erfahren müssen, dass ihr Mann sie nicht nur vor der Ehe, sondern auch während dieser schamlos mehrmals betrogen hatte. Und Elisa hatte feststellen müssen, dass ihr Freund sich mitsamt ihren Einnahmen aus der Saison verdünnisiert hatte, und hatte sich von diesem seelischen und finanziellen Schock noch nicht erholt.

Nach dem Lawinenunglück wohnten sie also in Riva. Zwar bezogen Paula und Elisa ein Gehalt, doch war ihnen zudem auf Lebenszeit ein Wohnrecht zugestanden worden. Kost und Logis waren frei, versteht sich. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich dieser Entschluss Chiaras, die sich seit ihrer Geburt als willensstarke Persönlichkeit stets durchzusetzen im Stande zeigte, als eine wahrhaft göttliche Entscheidung herausgestellt, wie alle uneingeschränkt zustimmten. Allerdings musste man sagen, dass ihre Eltern damals die drei Freunde ohnehin mit offenen Armen aufgenommen hatten.

Oben unter dem Dach gab es neben den zwei Zimmern der Frauen, ihrem gemeinsamen Wohnzimmer und dem Bad noch ein Gästezimmer, das im Laufe der Jahre gern und oft genutzt worden war. Mittlerweile diente es jedoch als Abstellkammer, seitdem es durch das Dach bei Regen so stark tropfte, dass es zu Paulas und Elisas Arbeiten gehörte, die Eimer zu inspizieren und bei Bedarf zu leeren. Natürlich hatte die Reparatur des Daches höchste Priorität.

Ja, die Hauswirtschafterin und die Gärtnerin waren in der Tat nicht nur Freunde, sondern geliebte Familienmitglieder. Ihre Arbeit beinhaltete nicht nur die hauswirtschaftlichen Belange Elisas und gärtnerischen Aufgaben Paulas, sondern auch das Reparieren des Oldtimers, einen Peugeot von 1990.

Paula besaß umfassende Kenntnisse von eigentlich allem, befand Chiara, die diese Fähigkeiten außerordentlich schätzte, denn wie sie selbst offen bekannte, war sie zu nichts anderem nütze, als eine Tochter in die Welt zu setzen und ihren Mann bei Laune zu halten. Wogegen man nur halbherzig Einspruch einlegte. Es war Chiara, die in Fällen von Meinungsverschiedenheiten als sanfte Diplomatin auftrat, wobei diese Sanftheit über ihre Willensstärke hinwegtäuschte, und die zu allen Nachbarn einen freundschaftlichen Umgang pflegte, der jährlich in einem gemütlichen Weinfest gipfelte, wenn sich die Touristen vom Acker gemacht hatten. Da sie das Herz auf der Zunge trug, bestand auch kein Grund zu Neid, denn jeder wusste um den maroden Zustand des Hauses und um die Kosten, die eine Totalrenovierung mit sich brachte. Außerdem war jedem klar, dass Thibault zwar wunderschöne Bilder malte, er jedoch allein in den Sommermonaten das Geld fürs ganze Jahr verdienen musste, um mit der Familie den Winter zu überstehen, in dem die Gäste nur noch vereinzelt eintrafen.

Der Ostflügel war nicht nur wegen des Turms ein wenig eigenwillig verbaut. Isabellas Großmutter hatte zu ihrer Zeit nur das unterste Turmzimmer für sich beansprucht und auf eine Treppe hinauf zu den zwei anderen Räumen verzichtet, da sie nicht schwindelfrei war und somit die Zimmer nicht nutzen würde. Dieser Turm war an drei Wohneinheiten angebaut worden, an die Erdgeschosswohnung mit separatem Eingang und die weiteren zwei Etagen mit je einem Zimmer.

Bei dem Gästezimmer, das dringend für Familienbesuche benötigt wurde, war rasches Handeln vonnöten, denn mittlerweile war es selbst Familienmitgliedern nicht mehr zuzumuten, in diesem Zimmer der Gefahr einer Sturzflut ausgesetzt zu sein. Und obwohl Paula und Elisa nicht klagten, war zu vermuten, dass es auch bei ihnen ab und an hereinregnete. Mithin war das komplette Dach zu erneuern – eine kostspielige Angelegenheit.

Das Bad, das man im Sommer für Isabella hatte installieren lassen, war ein zauberhafter, trotz seiner Größe sehr feminin eingerichteter Raum. Mit seinem Kristalllüster, dessen Licht im Kupfer der Badewanne schimmerte – ihr einziger Luxus, dessen Preis sie ihren Eltern in Anbetracht der kostspieligen weiteren Renovierung verschwiegen hatte –, animierte es den Badenden zum Träumen. Mit seiner bequemen Liege, die unter dem Fenster zum Garten zum Ruhen einlud, war es wie gemacht, um bei der Musik aus dem modernen tragbaren Player, den Emanuele ihr beim letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte, nach einem anstrengenden Tag zu entspannen. Außerdem stand hier im Trockenen – welch angenehmes Attribut – ein Kleiderschrank, in dem vier weitere Gäste hätten übernachten können und der nicht nur die Handtücher und die Bettwäsche aus Jahrzehnten beherbergte, sondern auch Isabellas »begehbare« Garderobe geworden war.

Neben ihrer Wohnung lagen die Räume von Chiara und Thibault – das Bad und ihr Schlafzimmer, in dem er bei schlechtem Wetter am Schreibtisch unter dem Fenster seine Miniaturen vom Gutshaus und dem Garten zu Papier brachte.

Der größte Luxus des Hauses war neben der Anschaffung eines supermodernen Herds der Internetanschluss, den Isabella durchgesetzt hatte – wenn auch unter Protest ihrer Eltern. Sie hatte sie mit Mühe dazu gebracht, einfache Handys zu benutzen. Smartphones lehnten sie kategorisch ab, ebenso wie Paula und Elisa. »Ich will doch nicht Probleme mit meiner Halswirbelsäule bekommen, wenn ich wie die anderen ständig mit gesenktem Blick meines Weges gehe«, hatte Thibault gemeint, worauf Chiara ihm heftig nickend zustimmte.

Dies waren also zwingend nötige Umbaumaßnahmen gewesen, die allerdings auch den Rest des Ersparten gekostet hatten. Für weitere bitter nötige Sanierungen, wie dem Dach, konnten sie nicht bis zur nächsten Sommersaison warten, wenn ihr Vater seine Bilder veräußerte. Es musste jetzt Geld ins Haus. Und zwar viel Geld, denn das Gutshaus – sie liebte es wie eine Mutter ihr Kind – verfiel still, allerdings mit Stil. Thibault und Chiara gaben sich alle Mühe, es für die Nachwelt zu erhalten. Wenn es auch in ihrer Familie keine Nachfahren mehr gab, weder durch Isabella noch möglicherweise durch ihren Cousin John, der, so sinnierte sie, es auch nie zu solchen bringen würde. Sie erinnerte sich daran, wie er in seinen zum Glück seltenen Ferienaufenthalten bei ihnen ihre kleine Freundin gequält hatte, die wegen einer Kinderlähmung leicht hinkte und bei den schnellen Spielen im Park nicht immer hatte mithalten können.

Von ihrem gemeinsamen Einkommen vermochten sie bisher auch gut als fleißige Selbstversorger zu leben. Dem Park zwackten sie eintausendfünfhundert mit einer stabilen Mauer umsäumte Quadratmeter Land für ihren Bauerngarten ab, dessen Ertrag den größten Teil ihrer Nahrungsmittel abdeckte. Diese Abtrennung schuf ein für das Wachstum außerordentlich förderliches Mikroklima, wie sie festgestellt hatten.

Italienischer Traum am Gardasee

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