Читать книгу Eine mysteriöse Entführung - Gabriele Schillinger - Страница 6

Ein neuer Schritt im Leben

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Nachdenklich blickte Helene aus dem Fenster. Die kleine Wohnung war nicht ihre erste Wahl gewesen. Ein runtergekommener Wolkenkratzer in einen Vorort, den sie zuvor noch nie betreten hatte. Zwei alte Aufzüge, welche nicht nur ständig kaputt waren, sondern auch schmutzig. Manchmal hatte Helene sorge, sie könnte sich darin eine Krankheit holen, doch sie musste 18 Stockwerke hoch, was zu Fuß sehr anstrengend war. Bei der Wohnungstüre war ein Spalt, durch den sie das Licht im Stiegenhaus sehen konnte. Wenn jemand vorbeiging und gerade eine Zigarette rauchte, qualmte der Geruch durch den Schlitz. Die Nachbarn waren laut. Ein Paar stritt ständig, schien sich Dinge nachzuwerfen und dann gab es eine hörbare Versöhnung. Auf der anderen Seite der Wohnung schrie die ganze Nacht ein Baby, oberhalb hüpften mehrere Kinder rücksichtslos herum und unter ihr wohnte ein junger Mann mit einem eigenwilligen, viel zu lauten Musikgeschmack. Ganz zu schweigen von seinem stets offenen Fenster aus dem sich Cannabisgeruch schlich.

Also alles zusammen eine richtig ungemütliche Wohnung …

Helene musste vorsichtig sein, damit sie nicht wieder in eine Depression fällt. Der Richter verpflichtete Karl auch ihre Therapiestunden zu zahlen, solange sie notwendig waren. Obwohl ihm die Zahlung widerstrebte, überwies er zuverlässig das Geld.

Ed hatte Helene beim Umzug geholfen. Da sie, außer persönlichen Dingen, nichts aus dem Haus mitnahm, ging es eher um den Transport der neuen Möbel und deren Aufstellung. Am letzten Tag bestellten sie chinesisches Essen und tranken eine Flasche Rotwein dazu. An diesem Abend wollte Ed sein Glück versuchen. Er zog Helene vorsichtig an sich und küsste sie. Doch Helene erwiderte nicht, schob ihn zur Seite ohne Gewalt anzuwenden. Ed war ihr zwar ans Herz gewachsen, aber nur als guter Freund oder Bruder, nicht als Liebhaber. Insgeheim hatte sie schon lange Angst vor diesem Augenblick, denn ihr entgingen seine Gefühle für sie nicht. Die beiden schauten sich mit Tränen in den Augen an. Jeder von ihnen wusste, dass ab diesem Zeitpunkt keine normale Freundschaft mehr möglich war. Ed kippte sein Glas Wein aus, umarmte Helene noch einmal und ging. Obwohl nun alle Möbel in der Wohnung waren, wirkte der Raum unendlich leer. Helene sackte auf das Sofa, schlug sich die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Ed gab ihr in schwierigen Zeiten viel Halt. Warum musste er sich nur in sie verlieben?

Die Tage vergingen langsam, der Fernseher lief nahezu rund um die Uhr. Beim Blick aus dem Fenster waren lediglich Unmengen kaputter Dächer zu sehen. Freundinnen waren keine mehr in Helenes Leben, die hatte Karl in den letzten Ehejahren alle vergrault. Immer, wenn eine zu Besuch war, kam er ihnen viel zu nahe. Die einen sprangen dann entweder mit ihm ins Bett oder ließen sich nicht mehr blicken. Andere wiederum entfernten sich während Helenes depressiver Phase. Und Ed … er fehlte ihr.

Helene hatte die eigene Familie nie kennen gelernt. Ihre Mutter hatte sie als Baby bei einem Kinderheim vor die Türe gelegt. Bald darauf starb sie selbst an einer Überdosis Heroin. Vater hatte sie keinen angegeben und ihre Drogensüchtigen Freunde konnten auch keine Auskunft über den Erzeuger geben. Alle Nachforschungen, den Erzeuger zu finden, verliefen im Sand. Wahrscheinlich schwängerte sie damals einer ihrer Freier. Helenes Mutter bot angeblich öfter ihren Körper für Geld an, um sich Drogen kaufen zu können.

Karls Eltern starben beide bei einem Flugzeugabsturz. Da sich in der Familie niemand fand, der ihn aufnehmen wollte, kam er im Alter von fünf Jahren in die gleiche Kindereinrichtung wie Helene. Die Tatsache, keine Familie zu haben, war einer der Gründe, weshalb sie sich von Anfang an gut verstanden. Viele der anderen Kinder hatten noch Eltern. Sie wurden denen aus unterschiedlichen Gründen zwar weggenommen, aber einige kamen immer wieder zu Besuch. Anfangs fühlten sie sich als Bruder und Schwester, doch mit dem Alter bemerkten sie, wie sehr sie sich voneinander angezogen fühlten. Als sie 18 Jahre alt wurden suchten sie eine gemeinsame Wohnung. Das Lehrgeld war nicht sonderlich hoch, aber eine kleine Unterkunft ging sich aus. Karl war bisher Helenes einziger Mann in ihren Leben.

Um sich mehr leisten zu können, organisierten sie sich ein Fahrrad und fuhren am Wochenende Botengänge aus. Bald konnten sie den Führerschein finanzieren und ein gebrauchtes Auto kaufen. Karl führte nun größere Pakete aus. Dann folgten ein Lieferbus und schließlich ein Klein- LKW. Die Aufträge wurden immer mehr, sodass Karl seinen Job als Büromitarbeiter kündigte und sich selbständig machte. Helene kündigte ebenfalls ihre Arbeitsstelle, um im gemeinsamen Betrieb die Buchhaltung und die Koordinierung der Aufträge zu übernehmen. Das war der Beginn der Spedition, welche nun mit mehreren Sattelschleppern auch Länderübergreifend belieferte.

Nun saß Helene nichts tuend in dieser kleinen Wohnung, in der sie sich trotz des Lärms der Nachbarn sehr einsam fühlte.

Sie musste sich unbedingt eine Beschäftigung suchen. Ein Job musste her.

Bald darauf bewarb sie sich auf mehrere Zeitungsinserate. Leider kamen viele Absagen zurück. Die einen meinten, sie wäre überqualifiziert, ein anderer wiederum bemängelte ihre Ausbildung, oder die längere Zeit im Krankenstand. Dann kam überraschend ein Anruf, in dem man sie bat, zu einem Bewerbungsgespräch zu kommen.

Nervös stand sie vor dem Spiegel. Was zog man bei einem solchen Treffen überhaupt an?

Natürlich war sie schon oft bei Firmenbesprechungen dabei, oder präsentierte vor dem Personal verschiedene Firmenerneuerungen, doch diesmal ging es um sie. In die Rolle eines Mitarbeiters zu schlüpfen war wahrhaft eine Herausforderung. Sie wollte sich weder dominant, noch wie ein kleines Mäuschen präsentieren, aber wie wirkte man einfach nur entschlossen?

Da stand sie nun vor einem großen Pharmaziegebäude. Helene kannte die Firma bereits, denn sie war Kunde der Spedition. Hoffentlich würde sich dieser Umstand nicht als Nachteil herausstellen. Das Gespräch verlief überraschend gut. Obwohl der Personalchef genau wusste, wer Helene war, sprach er diese Tatsache nicht an.

So wie es schien, suchten sie jemanden mit genau den Fähigkeiten, die Helene mitbrachte. Noch vor Ort bekam sie eine Zusage und in ein paar Wochen sollte sie mit ihrer Arbeit dort beginnen. Helene war sehr erleichtert, niemand gab ihr das Gefühl nur wegen Karl, oder aus Mitleid die Stelle bekommen zu haben.

Es war ein tolles Gefühl wieder gebraucht zu werden. Beschwingt ging sie durch eine Einkaufsstraße. Spontan entschied sie sich mit einem Kleid zu belohnen. Ihre positive Laune steckte auch andere an und der Verkäufer schien förmlich mit ihr zu flirten.

Als sie auf den Lift wartete um in ihre Etage zu gelangen gesellte sich eine weitere Mieterin vom Haus zu ihr. Es dauerte wieder einmal ewig, bis der Aufzug seinen Weg zum Erdgeschoss fand. Die Wartezeit veranlasste die beiden ein wenig zu Plaudern. Wie sich herausstellte wohnten sie im gleichen Stockwerk. Die Frau stellte sich als Barbara vor und bemerkte Helenes gute Laune. Freudig erzählte sie von ihrem Bewerbungsgespräch. Kurz bevor sie ihre Wohnungstüren aufgeschlossen hatten, schlug Barbara spontan vor, dass sie die Jobzusage eigentlich gebührlich feiern sollten. Nach kurzer Überlegung stimmte Helene dem zu. Später machte sie sich dann mit einer Flasche Wein auf zu ihrer Nachbarin. Es entwickelte sich zu einem netten Abend mit überraschend guten Gesprächen. Nie hätte Helene gedacht in diesem seltsamen Haus auf eine derart interessante Frau zu treffen. Barbara war intelligent und verfügte über ein großes Allgemeinwissen. Zudem hatte sie ihr Herz an der richtigen Stelle. Sie lachten, grübelten und spotteten über ihre Exmänner. Es tat einfach gut mit jemandem ausgelassen zu reden und das, ohne sich verstellen zu müssen.

Leicht angetrunken taumelte sie wieder in ihre Wohnung. Die Sonne würde bald aufgehen, also zog sie die Fenster zu und legte sich zufrieden ins Bett.

Am Nachmittag weckte sie das Läuten vom Telefon. Benommen nahm sie ab und bereute es in der Sekunde. Karl war in der Leitung. Dieser Anruf sollte ihm bestätigen, dass es Helene schlecht ging und sie ohne ihn nicht zu Recht kam. Obwohl die Scheidung schon einige Zeit rechtskräftig war, dachte er noch immer, seine Exfrau würde bald wieder an seiner Seite sein. Einen Mann wie Karl verließ man nicht einfach. Dachte er.

Schadenfroh fragte er nach der viel zu kleinen Wohnung und wie sie die langen Tage so ganz alleine verbrachte.

Helene nahm ihm schnell den Wind aus den Segeln. Sie erzählte, wie schön ihr Heim doch war, trug extra dick auf um ihn zu ärgern. Auch von der Jobzusage erzählte sie und wie sehr sie sich auf die neue Herausforderung freute.

Karl jedoch lachte, meinte frech, Helene würde die Arbeit in dem fremden Betrieb nie bewältigen können, weil sie niemals richtig gearbeitet habe.

Helene spürte die Wut in ihr aufsteigen, war jedoch noch viel zu müde, um darauf zu reagieren und beendete spontan das Telefongespräch. Karl war entrüstet, sie hatte einfach aufgelegt. Hatte er doch eine depressive, frustrierte Helene erwartet. Jedoch nicht mit ihrem Zynismus und selbstsicheren Stimme. War da vielleicht ein anderer Mann im Spiel? Könnte er sie etwa verlieren?

Helene setzte sich auf die Bettkante. Ihr Kopf brummte und die Augen waren trotz langem Schlaf schwer offen zu halten. Sie war anscheinend nichts mehr gewohnt, ob es Barbara auch so ging?

Trotz erfrischender Dusche und starkem Kaffee war dieser Tag gelaufen. Einzig der Fernseher und eine kuschelige Sofadecke begleiteten sie bis zum erneuten schlafen gehen.

Am nächsten Morgen ging alles wieder besser. Der Eiskasten wollte gefüllt werden, also begab sich Helene zum Supermarkt. Da sie genug Zeit zur Verfügung hatte spazierte sie durch jeden Gang, was zur Folge hatte, dass sie mehr in den Einkaufswagen packte als vorgesehen.

Wieder zu Hause entdeckte sie einen Zettel den jemand unter der Türe durchgeschoben hatte. Er war von Barbara. Sie bat Helene einmal kurz bei ihr vorbei zu schauen. Nachdem die Einkäufe verstaut waren begab sie sich zu ihrer Nachbarin. Barbara brauche lange, bis sie endlich die Türe öffnete. Der Grund war ein verstauchter Knöchel. Da sie es am Vormittag eilig hatte, bereits spät dran war, und nicht auf den Aufzug warten wollte nahm sie hurtig die Stufen. Sie übersah, dass jemand im Stiegen Aufgang etwas verschüttet hatte und stürzte. Dabei verdrehte sie sich den Fuß, der auch sofort anschwoll.

Nun war Helene froh mehr eingekauft zu haben als geplant, denn sie kochte am Abend gleich für zwei. Nach dem Essen erzählte sie Barbara von Karls Telefonanruf.

Helene fühlte sich bei ihrer neuen Freundin sehr wohl. Sie konnte mit ihr über alles reden und einfach sein wie sie war. Mit jedem Glas Wein wurde die Stimmung heiterer und der Exmann gab Nahrung für viele Lachanfälle. Bevor sie wieder ging, brachte sie Barbara noch eine Decke, damit ihr auf der Couch nicht kalt wurde. Barbara zog Helene näher an sich und küsste sie auf den Mund. Helene erstarrte kurz, woraufhin sich Barbara schnell entschuldigte. Nachdem noch kurz geklärt wurde, dass die Beziehung lediglich eine Freundschaft bleiben sollte, endete der Abend. Helene war ihrer Nachbarin nicht böse. Sie vermutete bereits ihre Neigung zu Frauen. Da sie mit Barbara noch nicht so lange befreundet war, wie mit Ed, könnte eine Freundschaft noch immer funktionieren. Zudem war Ed verliebt in Helene, bei Barbara waren es blos die Hormone. Andererseits könnte durchaus schon Zeit für unverbindlichen Sex sein, aber dann besser mit jemand Fremdes.

Es war ein besonderer Tag. Helenes erster Arbeitstag. Hin und hergerissen zwischen Freude auf die neuen Aufgaben und Angst, den Anforderungen nicht zu entsprechen, meldete sich ein nervöser Magen. Das Frühstück würde heute wohl nicht über einen Bissen Brot hinausgehen.

Aufgeregt stand sie vor dem Kleiderkasten, der zwar nicht so voll wie früher war, aber noch genug, um nicht zu wissen, was sie anziehen wollte. Endlich fiel die Entscheidung auf eine dunkle, elegante Hose und eine helle Bluse, da läutete das Telefon. Sofort dachte Helene an einen erneuten Kontrollanruf von Karl. Wütend nahm sie den Hörer ab. Am anderen Ende war jedoch nicht Karl, sondern ihr neuer Vorgesetzter. Er teilte sein Bedauern mit, aber er musste Helene für den Job kurzfristig absagen. Tatsächlichen Grund gab er keinen an, doch schien die Entscheidung von einer Gehaltsstufe über ihm zu kommen.

Helene war bestürzt. Verwirrt schaute sie den Telefonhörer an, aus dem nur noch das Freizeichen erklang.

Die Aussicht auf eine Arbeitsstelle hatte sie motiviert ein neues Leben zu beginnen. Nun brach alles über sie zusammen. Was war blos los mit ihr? Warum lief ihr Leben so?

Helenes Hände zitterten. Sie war noch lange nicht stabil genug um einen derartigen Rückschritt zu verkraften. Der Schock über diese Nachricht saß tief. Es war wieder da, diese taube Leere, die Hoffnungslosigkeit und mangelndes Selbstwertgefühl. Bemerkte man etwa, dass sie nicht gut genug für den Job war? Oder wollte jemand von der Geschäftsführung doch niemanden einstellen, mit der sie einmal eine Geschäftsbeziehung hatten? Vielleicht konnte sie aber auch irgendjemand einfach nicht ausstehen.

Das Telefon klingelte erneut und diesmal war es tatsächlich Karl. Helene knallte abrupt den Hörer hin. Auf ein Gespräch mit ihm hatte sie so überhaupt keine Lust.

Nicht, dass ein Telefonat mit ihm erwünscht wäre, aber warum rief er immer im ungeeignetsten Augenblick an? Könnte er vielleicht hinter der Absage stecken? Es wäre ihm zuzutrauen. Möglicherweise hatte er den Firmenboss unter Druck gesetzt. Immerhin kannten sie sich gut und Karls Spedition machte ihm über die ganzen Jahre immer einen guten Preis.

Oder es war doch einfach nur ihre eigene Schuld?

Helene war ohne Perspektive. Sie fühlte sich so schwach, wie schon lange nicht mehr. Es war wie damals, als sie ihr drittes Kind verlor. Der erste Gedanke an den Tod schlich sich ein und bevor die Sehnsucht danach wachsen konnte, wählte sie schnell die Nummer ihrer Therapeutin. Ein langes Gespräch folgte.

Barbara ging währenddessen davon aus, dass Helene bereits ihren Arbeitsplatz zugewiesen bekommen hatte. Sie humpelte ins Badezimmer um sich zu waschen.

Als das Wasser ins Waschbecken plätscherte, dachte sie über den letzten Abend nach. Hoffentlich hatte ihr Kuss Helene nicht allzu sehr erschreckt. Gerade jetzt, wo die beiden eine Freundschaft aufbauten. Sie hatte das Gefühl ihr voll vertrauen zu können. Um nichts auf der Welt wollte sie einen Bruch riskieren. Barbara ärgerte sich sehr darüber, dass sie sich ihren Gefühlen spontan hingegeben hatte. Schuld war der gute Wein. Er hatte ihr, wie schon oft, die Hemmungen genommen, ohne Rücksicht auf Verluste.

Helene allerdings hatte das Thema schon längst abgeschlossen. Irgendjemand, der sie möglicherweise überhaupt nicht kannte, fiel eine Entscheidung gegen sie. Dieser Mensch hatte ja keine Ahnung was er ihr damit antat. Die Therapeutin hatte sie soweit einmal aufgerichtet, dass sie den Selbstmordgedanken vorerst einmal abhakte.

Am Abend erzählte sie Barbara von der Absage. Die war total bestürzt. Nach einem langen Gespräch kehrte Helene wieder in ihre Gedanken zurück. Sie hatte schon so viel in ihrem Leben geschafft, warum zerbrach sie derart an diesem Anruf? Ja, es war ein Rückschlag, aber vielleicht nur, weil sie ihre ganze Zukunft davon abhängig machte.

Die Therapiestunden taten ihr gut. In den Gesprächen wurde klar, dass es noch zu früh war um an einen Job zu denken. Ein Misserfolg am Arbeitsplatz könnte sie nur noch mehr schwächen und ihr einen Rückschlag versetzen. Es war nicht gut, die Lebensfreude nur an eines zu knüpfen. Zuerst sollte Helene wieder die Schönheiten ohne Verpflichtungen finden. Musik und Natur sollten da gut helfen. Es wurden ihr daher lange Spaziergänge, Schaumbäder und Musikabende verordnet. Zuerst belächelte Helene die Vorschläge, doch bald bemerkte sie, dass es ihr gut tat.

Karl wurde zunehmend nervöser. Seine Exfrau legte entweder gleich wieder auf, wenn er anrief, oder sie hielt das Telefonat derart kurz, dass er nichts Neues über sie herausbekam. Selten hatte er die Möglichkeit ihr Selbstbewusstsein zu boykottieren. Er war überzeugt, dass sie ohne ihn nicht leben konnte, nichts alleine auf die Beine stellen konnte. Seine Selbstwahrnehmung war im Laufe der Jahre getrübt und sein Sexleben hob das Ego, höher als gut für ihn war. Karl vergaß, dass Helene einen großen Anteil bei der Gründung der Firma hatte und ebenso an deren Wachstum. Alleine wäre er beruflich nie so weit gekommen. Er veränderte die Vergangenheit durch Selbstmanipulation und bemerkte es nicht einmal. Genauso wenig fiel ihm das Schrumpfen seines Kontoguthabens auf. Die vielen Liebschaften kosteten eine Menge Geld. Immerhin gab er sich als angesehener Mann, da konnte er sich schlecht kleinlich benehmen. Ebenso erzählte er von seiner ungerechten und undankbaren Exfrau. Nur die engsten Vertrauten und langjährigen Mitarbeiter kannten die Wahrheit über das ursprünglich geglaubte Traumpaar.

Karl merkte seine zunehmende innere Unruhe. Es machte ihn wahnsinnig nicht zu wissen was Helene tat. Er musste etwas unternehmen.

Barbara wurde zu ihrem persönlichen Motivator. Sie baute Helene nahezu jeden Tag auf, indem über Helenes Erfolge bei der damaligen Firmengründung geredet wurde. Da Barbaras Fuß wieder in Ordnung war, bestand sie darauf, vier Mal die Woche mit ihrer Freundin einen Spaziergang zu unternehmen. Die frische Luft und die Sonnenstrahlen taten beiden gut.

Als Helene wieder einmal von einem Therapiegespräch nach Hause kam, bemerkte sie, dass ihre Wohnungstüre nicht verschlossen war. Hatte sie etwa vergessen abzusperren?

Kurz darauf erstarrte sie. Jemand war in ihre Wohnung eingebrochen und hinterließ sie in einem furchtbaren Zustand. Mit zittrigen Fingern wählte sie die Nummer der Polizei.

Die Beamten klopften an jede Türe im Stockwerk um die Nachbarn zu befragen, aber niemand wollte etwas von dem Einbruch bemerkt haben. Nicht einmal Barbara, die ansonsten sehr aufmerksam war, hatte etwas Ungewöhnliches gehört. Der Verbrecher hatte es in diesem Haus wohl leicht, denn der Lärmpegel war ziemlich hoch und so fügten sich die Einbruchsgeräusche wahrscheinlich dem ein.

Sowohl den Polizisten als auch Helene war unklar, weshalb gerade in ihre Wohnung eingebrochen wurde. Sie hatte keine Wertgegenstände, außer dem Fernseher und der war noch an seinen Platz. Meist hatten es die Täter in solchen Häusern auf elektronische Gegenstände abgesehen, doch hier schien nichts zu fehlen. Es sah fast aus, als hätte der Einbrecher etwas Bestimmtes gesucht. Der Inhalt von Kommoden und Kästen befanden sich verstreut am Boden. Geschirr und Bilder wurden mutwillig zerbrochen. Wer hatte es auf Helene abgesehen?

Barbara nahm ihre Freundin in den Arm.

Helene hatte Angst, lieber wäre es ihr gewesen, wenn es die Einbrecher auf Wertgegenstände abgesehen hätten.

Am nächsten Tag half Barbara ihr bei den Aufräumarbeiten. Vom Geschirr blieb kaum etwas übrig, was noch zu verwenden war. Sogar die Bekleidung war zum Teil kaputt. So wie es schien, war der Einbrecher voller Zorn gewesen. Das neue Schloss an der Türe beruhigte Helene nicht wirklich, denn es war genauso leicht zum Aufbrechen wie das zuvor.

Barbara fühlte mit ihrer Freundin mit, versuchte sie auf andere Gedanken zu bringen und verbrachte nun noch mehr Zeit mit ihr. Aber jedes Mal, wenn Helene das Haus betrat kam ihre Angst wieder hoch, ob erneut die Türe aufgebrochen sein könnte. Nachts erschrak sie bei jedem noch so kleinen Geräusch. Sie bereute, nicht um einen angemessenen Teil bei der Scheidung gekämpft zu haben, jetzt könnte sie das Geld gut für eine andere Wohnung brauchen. Karl nutzte damals schamlos ihre seelische Verfassung aus. Niemals hätte sie gedacht, dass er sich zu einem derartigen Ekel entwickeln würde.

Als Karl sich telefonisch wieder einmal meldete, wollte er sein Bedauern über den Einbruch bei Helene ausdrücken, doch woher wusste er überhaupt davon?

Er bot ihr im Zuge dessen doch tatsächlich an, dass sie wieder bei ihm einziehen könnte. Was dachte er sich blos dabei? Niemals zog Helene dies in Betracht.

Karl glaubte wirklich daran, Helene könnte eines Tages wieder an seiner Seite stehen und die Mutter für seine außerehelichen Kinder spielen.

Helene unterrichtete die Polizei von ihrem Verdacht, Karl könnte hinter den Einbruch stecken. Bei dem Gedanken an seine eigene Exfrau huschte den Beamten ein grinsen über die Lippen. Niemals würde er sie wieder zurückhaben wollen. Helene bemerkte seine Skepsis, hoffte aber trotzdem darauf, ernst genommen zu werden.

Die Angst in der eigenen Wohnung brachte sie in den Wahnsinn. Selbst auf der Straße drehte sie sich ständig um, weil sie an einen Verfolger dachte. Jeder, der sie auch nur kurz ansah, war verdächtig. So konnte es nicht weiter gehen.

Die Ärztin verschrieb ihr Schlaftabletten. Anscheinend dachte sie, dass der Schlafentzug ihre Phantasie übertrieben anregte. In Helenes Wohngegend wurde oft eingebrochen, auch wenn es ein wenig seltsam war, dass nichts gestohlen wurde, so glaubte die Therapeutin nicht an einen gezielt persönlichen Akt. Wahrscheinlich war die Wahl der Wohnung nur Zufall. Ein paar Jugendliche, die sich gegenseitig mit Vandalismus beeindrucken wollten.

Die Schlaftablette wirkte rasch. Helene schlief tief und fest, doch brauchte es ein paar Tage. bis sie sich daran gewöhnte. Anfangs taumelte sie und hätte 24 Stunden durchschlafen können. Diese Nebenwirkungen verschwanden aber bald.

Barbara kümmerte sich unterdessen ums Kochen. Helene vergaß meist etwas zu essen, also brachte sie ihr täglich etwas hinüber, damit ihre Freundin wieder zu Kräften kam.

Wenn Helene wieder einmal teilnahmslos vor sich hinstarrte, zerrte Barbara sie von der Couch und ging mit ihr an die frische Luft.

Die Polizei hatte noch keine Neuigkeiten was den oder die Einbrecher betraf. Der Kommissar machte auch keine großen Hoffnungen, dass sie den Fall je abschließen konnten.

Helene kam zunehmend wieder auf die Beine. Sie begann sich wieder für Themen zu interessieren, die nichts mit ihrem eigenen Schicksal zu tun hatten. Auch die Lust auf Essen meldete sich und manchmal stellte sie sich sogar zum Herd um etwas zu kochen. Sollte sich nun alles wieder zum Guten wenden?

Helene musste ihren Pass verlängern. Bei der Vernehmung wegen des Einbruchs hatte sie sich ausgewiesen und dabei bemerkte, dass er schon abgelaufen war. Am Amt waren Unmenge Leute also konnte sie sich auf eine lange Wartezeit einstellen. Sie kam mit einer anderen Frau in der Warteschlange ins Plaudern. Eigentlich waren es nur belanglose Themen, aber es tat gut mit jemanden zu reden, die nichts von ihren Problemen wusste. Genau genommen lästerten sie ein bisschen über die anderen Leute in der Warteschlange. Da war eine ungepflegte Frau, dort wiederum ein Mann mit dicker Jacke, obwohl es ziemlich heiß im Gebäude war, oder eine Mutter die ihre Kinder nicht im Griff hatte. Immer wieder fand sich ein neues Opfer zum ab lästern. Doch da gab es auch einen Mann, der einfach nur auf einer der Bänke saß. Er hatte eine Schirmkappe auf, die weit ins Gesicht gezogen war. Es war nicht zu erkennen, ob er eingeschlafen war oder auf jemanden wartete.

Die Zeit verging schneller als gedacht und endlich war Helene an der Reihe. Mit ihren Fingerabdrücken war alles aufgenommen und in ein paar Tagen würde der neue Ausweis fertig sein.

Als sie das Amt wieder verließ, bemerkte sie, dass der Mann mit der Schirmkappe ebenfalls ging. Seltsamerweise hatte er den gleichen Weg wie sie und gleich kam der Gedanke an einen Verfolger wieder hoch. Helene beschloss spontan in eine Konditorei zu gehen und setzte sich dort für eine Tasse Kaffee in den Schanigarten. Der Mann setzte sich auf eine Parkbank, mit guter Sicht zum Café. Das konnte doch kein Zufall sein!

Helene beobachtete die seltsame Gestalt und nach einiger Zeit ging er seines Weges.

Ein wenig zögerlich erzählte sie es ihrer Freundin. Barbara war besorgt, wollte es sich aber nicht anmerken lassen. Sie meinte, es könnte einfach nur ein schüchterner Verehrer gewesen sein. In Wirklichkeit glaubte aber keine von ihnen daran.

Trotz dieses Vorfalls wollte Helene eine Nacht ohne Tablette versuchen, immerhin konnte ihr Schlaf ja nicht ewig davon abhängig sein.

Genau in dieser Nacht passierte es, irgendwer machte sich an der Wohnungstüre zu schaffen. Helene erstarrte, kam der Einbrecher zurück um sie umzubringen?

Mit zittrigen Händen wählte sie die Nummer der Polizei. Die Schatten unter den Türschlitz stapften hin und her, bis Helene vor Angst einen lauten Schrei von sich gab. Anscheinend erschrak der Einbrecher, denn er lief schnurstracks davon. Als die Polizei eintraf, war er schon längst über alle Berge. Erneut versuchte der Kommissar Helene zu beruhigen und meinte, es wäre bestimmt nur ein Betrunkener gewesen, der sind in der Türe irrte. Gab es tatsächlich so viele Zufälle?

Welch ein Glück, dass Helene diese Nacht keine Schlaftablette zu sich nahm. Nun glaubte auch Barbara an keine Irrtümer, es war eindeutig. Jemand hatte es auf ihre Freundin abgesehen.

Wie auf Knopfdruck rief Karl an, der sich um das Wohlbefinden seiner Exfrau erkundigte. Steckte doch er hinter diesen ganzen Ungereimtheiten? Falls ja, dann war es eine wahrhaft böse Art sie zurückzugewinnen.

Immer, wenn sich Helene wieder ein bisschen in Sicherheit wog, schlug das nächste Ereignis zu und einmal sollte es sie gleich heftig erwischen.

Eine mysteriöse Entführung

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