Читать книгу Pannonische Geschichten - Gaby Hühn-Keller - Страница 3
Pannonische Pforte
ОглавлениеEs mag im Jahr 2005 gewesen sein, als ich zusammen mit meinem Mann zur Beerdigung meines Onkels Imre fuhr. Oder war es zwei, drei Jahre früher? Als Beifahrerin hatte ich jedenfalls die Muße, aus dem Fenster zu schauen. Da entdeckte ich an einem dieser vielen Kreisverkehre, die plötzlich auch im äußersten Osten Österreichs vor und nach jedem Dorf eine Straßeninsel umzirkelten, neben den Abzweighinweisen ein zusätzliches, eher beiläufig unauffälliges Schild. Dem entnahm ich beim zügigen Vorbeifahren, dass man sich hier an der „Pannonischen Pforte“, dem Tor nach Ungarn befinde. Ob dies nun auf der Umgehungsstraße von Fürstenfeld war oder schon vorher, unmittelbar an der Stelle, wo wir die Burgenland-Autobahn verlassen hatten, weiß ich jetzt nicht mehr. Ich stutzte nur: Aha, die Straße nagelneu, verbreitert, dem vermehrten Verkehrsaufkommen durch den Wegfall der Grenzen und dem zunehmenden Warenverkehr mit dem Osten der EU angepasst – aber, gleichzeitig eine geographisch-kulturelle Rückbesinnung, die man für mitteilenswert hielt. Oder diente das Schild lediglich der Werbung für Fremdenverkehr? Wie dem auch sei, so einen Hinweis hatte ich in 40 Jahren vorher nirgends gesehen.
Sicher, wenn Sie googeln, wird Ihnen unter dem Schlagwort „Pannonische Pforte“ der eine oder andere Übergang oder eine Region auch weiter nördlich, etwa von Wien aus nach Osten angegeben. Aber ich spreche jetzt von dieser Straße, auf der ich das Schild gesehen habe. Auf welcher ich gefahren bin, immer, wenn ich meinen Geburtsort Rábafüzes mit dem Auto aufgesucht habe: Von der Straße, die sich durch das romantische Lafnitztal schlängelt. Auf der man gerne mal bremst, um einem Reh oder einem schillernden Fasan das Queren der Fahrbahn zu ermöglichen. Die verbreiterte Straße, die Kreisel und der stärkere Verkehr tun der Schönheit der Landschaft nur wenig Abbruch. Lediglich mir mag dieser Fortschritt nicht so gut gefallen, weil eben für mich die Strecke bis zu den Grenzorten Heiligenkreuz und Rábafüzes mit persönlicher Nostalgie belegt ist. Dazu gehört für mich das Bild der alten, unveränderten Straße, die schlicht und unverkreiselt durch alle Dörfer führte.
Über diese Straße erreicht man den pannonischen Raum, dem schon die alten Römer diesen Namen gegeben haben. Illyrische Völker hatten hier gelebt. Seit etwa der Zeitenwende war er römische Provinz. Es folgte Alarich mit seinen Westgoten, später kamen die Langobarden. Ab Mitte des sechsten Jahrhunderts streiften die Awaren, ein tatarisches Reitervolk in diesem Raum umher und schließlich ab 894 die Magyaren, die Ungarn, die bekanntlich weite Teile Mitteleuropas unsicher gemacht haben, bis sie schließlich in der Schlacht auf dem Lechfeld im Jahre 955 von Otto dem Großen endgültig besiegt wurden. Von da ab sind sie sesshaft geworden. Sie haben von nun an den pannonischen Raum kulturell geformt. Ganz stimmt das so nicht. Nach ihrer Christianisierung beeinflusste die byzantinische Kultur ihre eigene. Und schon kurz vor 1200 wurden Deutsche, die Siebenbürger Sachsen angesiedelt, die ihre Sprache und Tradition beibehielten. Wieder später begannen die Türkeneinfälle und eine 150 Jahre dauernde Zeit der Türkenherrschaft. Aber all die Türkenschlachten, eine davon direkt zwischen Raab und Lafnitz bei Mogersdorf, auch Schlacht bei Szentgotthárd genannt, unmittelbar an dem Dreiländer-Eck Österreich-Slowenien-Ungarn, im Jahre 1664, waren zeitlich später als die Ansiedlung deutscher Bauern, hauptsächlich aus Bayern und Franken, in diese Gegend an der Pforte nach Pannonien.
In der Regierungszeit Kaiser Heinrichs IV. wanderten sie ab 1076 in das heutige südliche Burgenland ein (früher das ungarische Komitat Ödenburg). Sie nennen sich Heinzen, in ihrem Dialekt Heanzen oder Hienzen, im Ungarischen Hiencek. Sie haben sich über die Jahrhunderte ihren Dialekt bewahrt. Während der Zeit, als auch das heute österreichische Burgenland noch ungarisch war, wurde in den Schulen dieser Dialekt und nicht das Hochdeutsche gelehrt. Die Teilung des Burgenlandes erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg. Und da muss ich eigentlich mit meinen Pannonischen Geschichten beginnen. Denn mein Großvater lebte damals im heute österreichischen Teil. Meine Mutter wurde im Jahr 1913 in dem kleinen Flecken Markt Neuhodis bei Rechnitz, sozusagen direkt im Herzen dieses Hienzenlandes geboren. Aber, sie gehört nicht diesem alten deutschen Stamm an. Sie hatte ungarische Eltern, die mit Kind und Kegel Anfang der 1920er Jahre nach dieser nachkrieglichen Grenzziehung ins in Ungarn verbliebene Rábafüzes (deutsch Raabfidisch) gezogen waren, um den Verwandten beider Elternteile näher zu sein. Von da ab besuchten auch meine Mutter und ihre Schwestern noch ein paar Jahre eine Schule, in welcher im Hienzen-Dialekt und auch in der Amtssprache ungarisch unterrichtet wurde. Meine Mutter erlernte das Deutsche nur mäßig, da sie schon in jungen Jahren nach Budapest ging. Ihre jüngeren Schwestern hingegen gut. Sie konnten in die Sprache ihrer Umgebung hineinwachsen. Im Haus der Großeltern sprach man immer ungarisch. In Rábafüzes, wo sich mein Großvater einen kleineren Bauernhof mit einer dazugehörigen Schmiede gekauft hatte, war er der „ungarische Schmied“. Die Stammeszugehörigkeit zu nennen war wichtig, denn die meisten Dorfbewohner gehörten zu den deutschsprachigen Hienzen. Es gab auch noch den einen oder anderen Kroaten im Dorf, einige Juden und auf dem Hügel oberhalb des Dorfes lebten ein paar Roma-Familien. Die Bevölkerung war auch konfessionell gemischt. Diese gemischte Bevölkerung war typisch und koexistent gefördert unter der Jahrhunderte langen Oberherrschaft der Habsburger.
Die radikale Veränderung brachte die unmittelbare Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges. Mit Deutschland hatte auch der Kriegspartner Ungarn, der besonders den Russland-Feldzug unterstützte, den Krieg verloren. Im August 1945 trafen sich die alliierten Siegermächte USA (Truman), UdSSR (Stalin) und Großbritannien (Churchill) in Potsdam zu einer Konferenz, um für das besiegte Deutschland Gebietsabtretungen und neue Grenzverläufe festzulegen und die Vertreibung Deutschsprachiger oder Deutschstämmiger aus den besetzten Gebieten zu veranlassen. Dies betraf etwa 6000 Hienzen aus dem Raum Szentgotthárd und Körmend, die im Mai 1946 in den Landkreis Landsberg am Lech ausgesiedelt wurden. Unter ihnen befand sich auch mein Vater, der kein Hienze war aber ein deutschstämmiger Donauschwabe. Seine Vorfahren wurden zu Maria Theresias Zeiten angeworben, um sich in Südostungarn anzusiedeln. Diese Landschaft um die Stadt Fünfkirchen (Pécs) war zu dieser Zeit durch große Türkenschlachten, letztlich durch den Sieg über die Türken und deren endgültigen Rückzug geradezu menschenleer. Mit meinem Vater, der nach Rábafüzes hingeheiratet und sich als Frisör selbständig gemacht hatte, ging meine Mutter. Sie wurde amtlicherseits nicht gezwungen, mit ihm zu gehen. Sie konnte sich aber anschließen. Und mit ihnen ging ich. Selbstverständlich ungefragt. Ich war ein vierjähriges Kind.
Die vielen Male, die ich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr durch diese Pannonische Pforte zu meinem Geburtsort und in dessen nähere und weitere Umgebung, sowie überhaupt in fast alle Landstriche Ungarns gefahren bin, war ich auch immer auf einer gewissen Spurensuche nach den Wurzeln meiner Familie und der Mentalität der dortigen Menschen. Einige meiner Erlebnisse lege ich in diesen „Pannonischen Geschichten“ einem interessierten Leserkreis vor. Sie sind über viele Jahre entstanden und befinden sich einzeln in der einen oder anderen Anthologie oder in literarischen Zeitschriften, auch in meinen Familiengeschichten. Die Geschichten sind lose aneinander gereiht, in einer gewissen chronologischen Reihenfolge. Bewusst habe ich nicht die Romanform gewählt. Dazwischen gestreut finden sich „Anekdoten“. In dieser kurzen Form lässt sich für mich der Charakter dieser liebenswerten, lebenstüchtigen Menschen, die östlich und westlich der Pannonischen Pforte leben oder lebten, besser beschreiben. Viele von ihnen leben jetzt in Bayern, von wo ihre Vorfahren ja schon fast vor tausend Jahren gekommen waren. Für sie schließt sich so der Kreis, selbst wenn sie darüber nie nachgedacht haben oder es sogar gar nicht wissen. Für mich kann dieser Kreis nicht gelten, da meine Stammeswurzeln noch etwas weiter verzweigt sind und in andere Richtungen laufen.
Ich erinnere mich gerne an einen schon längst verstorbenen, älteren Freund aus Budapest. Er hatte mich in den 1970er Jahren in Augsburg zu einer politischen Versammlung mitgenommen. Franz Josef Strauß hatte Otto von Habsburg eingeladen, über EUROPA zu sprechen, seine Vision darzulegen über eine zu gründende Europapartei. „Solltest du dich entwurzelt fühlen“, sagte mein Freund, „so entwurzelt, wie ich mich fühle, denke daran, vielleicht gibt es einmal ein Vereintes Europa. Darin findest du deinen Platz.“