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Unterm Birnbaum
Оглавление„Apu gyere most – Papa, komm jetzt“, forderte ich meinen Vater auf. Er hatte mir versprochen, mit mir ans Dorfende zu gehen, zu einem Birnbaum. Wir gingen los, hatten den letzten Bauernhof hinter uns gelassen und da sahen wir ihn: In voller Pracht stand er in der milden Septembersonne, hing über und über voller Birnen. Angekommen, umkreisten wir den Baum, suchten sorgfältig das Gras ab, ob Birnen herabgefallen waren. Es lag jedoch keine einzige unversehrte Birne da. Angeschlagene, halb verfaulte, vom Fallen Aufgeplatzte, ja. Ein süßer mostiger Geruch vermischte sich mit dem von Gras und warmer Erde, kitzelte mir in der Nase, wenn ich mich bückte, um eine Birne umzudrehen. Wespen flogen auf und Fliegen. Ameisen krabbelten mir rasch auf die kleinen Finger. Ich bekam Angst und schrie auf. Schließlich fing ich an zu weinen, weil ich Hunger hatte, und keine der Birnen war gut. „Da waren heute schon viele da“, sagte mein Vater. Die vielen, die er meinte, waren andere Heimatvertriebene wie wir auch. Sie lebten jetzt in diesem bayerischen Dorf. Ein ganzes Dorf aus Ungarn zwangsumgesiedelt in ein bayerisches Dorf.
Dieser Birnbaum stand auf Gemeindeflur, gehörte keinem und jedem. Schnell hatte sich bei den Flüchtlingen herumgesprochen, dass man alle Früchte, die von alleine herunterfallen, aufklauben und mitnehmen darf. Mein Vater hob schließlich drei, vier Birnen auf. Er schnitt sie mit seinem Taschenmesser sorgfältig aus. Wir setzten uns ins Gras und aßen gemeinsam. Als wir fertig waren, sagte er: „Wir warten, bis eine Birne herunterfällt. Dann werden wir die ersten sein. Du klaubst sie auf und nimmst sie mit nach Hause.“
Wir saßen gemütlich, schauten über die Wiese zu einem kleinen Bach. „Das ist der „Verlorene Bach““, wusste mein Vater. „Er entspringt nicht weit von hier, fließt dreißig, vierzig Kilometer, und verschwindet plötzlich wieder. So sagen es jedenfalls die Einheimischen.“ Ich hüpfte die paar Sprünge die Wiese hinunter zum Bach, hob mein Röcklein an, stieg ins schnell fließende Wasser hinein. Seine Kühle umspülte mich bis zu den Oberschenkeln. „Komm raus, du bist dünn. Das Wasser könnte dich umreißen“, hörte ich meinen Vater hinter mir.
Wir gingen zum Birnbaum zurück, setzten uns wieder. Die Sonne trocknete langsam meine Beine. „Erzähl doch“, bat ich, „erzähl von deinem Hund. Als du ein Kind warst und einen Hund hattest.“ Mein Vater erzählte von seinem Spitz. Wie er mit ihm gespielt hatte, wie der Hund ihm in den Weinberg gefolgt war. Dass er ihn sogar zur Schule begleitet und gewartet hatte, bis die Schule aus war. Ich sah den kleinen Hund nun deutlich vor mir und fragte: „Könnten wir nicht auch so einen Hund haben; dann hätte ich einen Spielkameraden.“ „Hunde fressen Fleisch. Wir haben doch selbst kaum zu essen. Du siehst schon. es geht nicht.“ Ich schaute ihn an und merkte, dass er traurig war. Er sagte nun: „Unsere Verwandten in Ungarn haben zwar jetzt die Russen am Hals, aber sie haben wenigstens zu essen. Sie haben ihren eigenen Birnbaum – und wir, wir müssen hier sitzen und warten, bis eine Birne herunterfällt. Das geht mir wirklich ans Gemüt!“ Ich kuschelte mich etwas näher an ihn, um ihn zu trösten. Er legte seinen Arm um mich und sagte: „Im Moment könnte mir nur ein Zigeuner helfen. Der hat eine Geige und spielt einem sein Lieblingslied vor, wenn man traurig ist. Weil das Lied so schön ist, kann man weinen, dann fühlt man sich gleich besser. Aber hier in Bayern gibt es nicht einmal einen Zigeuner.“
Da machte es neben uns „plopp“. Eine Birne war heruntergefallen: Goldgelb, unversehrt, duftend und reif!