Читать книгу Lucy fällt - Gaby Mrosek - Страница 7

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21. Etage – Das Wunder

Lucy befindet sich im freien Fall.

Kopflos – völlig ohne eine Idee oder einen Gedanken – dazu geht alles viel zu schnell. Schneidiger Wind pfeift um ihr Gesicht. Doch sie bemerkt nicht einmal das.

Sie denkt nichts und fühlt nichts in dieser Schrecksekunde des plötzlichen Fallens.

Und es ist wirklich nicht viel mehr als eine Sekunde. Denn ganz abrupt wird ihr Fall unterbrochen und zwar genau in der 21. Etage. Ebendort stoppt ihr Körper in einer unangenehmen Schräglage, die sie beinahe kopfüber hängen lässt. Tausend und abertausend Gedanken schießen gleichzeitig durch ihren Geist. Ein dickes Fragezeichen bleibt stehen. Kurz überlegt sie, ob sie längst unten auf dem Boden aufgeschlagen und schon tot ist und nun in einem schrecklichen Höllenstadium gefangen gehalten wird.

Es dauert tatsächlich nur einen Augenblick. Die schlimme Unsicherheit und der Wahnsinn dahinter, dass hier etwas physikalisch Unmögliches passiert, kommen ihr aber unendlich vor. Sie will außer sich vor Furcht und Schrecken zappeln und schreien, aber es scheint, als könnte sie ihren Körper nicht mehr steuern. Bevor ihre Angst in unerträgliche Panik umschlägt, geschieht etwas noch Ungewöhnlicheres – etwas mit dem sie nicht annähernd gerechnet hätte, ebenso wenig wie zuvor mit dem Steckenbleiben im freien Fall:

Die dunkle Straße tief unter ihr sowie das graue Gebäude, dessen Fassade sie berühren könnte, wenn sie die Hand danach ausstrecken würde, beginnen zu verschwimmen. Sie verwirbeln ineinander, zusammen mit dem sternenklaren Nachthimmel. Es scheint, als würden alle Bilder um sie herum eingesogen werden, so wie wenn das Wasser aus der Badewanne in einem Strudel abfließt. Und nicht nur die Szenerie, um sie herum, wird eingesogen. Nein, auch sie selbst, ihr Körper, ist ein Teil davon. Sie kann ihn plötzlich sehen und zwar so deutlich, dass sie meint, sie schaue in einen Spiegel. Doch auch das währt nur eine Sekunde. Denn schon sind alle materiellen Dinge ein einziger Kreisel aus Farben, die sich langsam zu einer einzigen homogenen Farbe vermischen. Auch wenn das Wort Farbe es nicht annähernd trifft.

Normalerweise ist es so, dass viele Farben ineinander gerührt und verquirlt, einen schmutzigen Braunton ergeben. Hier ist es umgekehrt. Anstatt Dunkelheit, ist eine aufdämmernde Helligkeit zu erkennen. Es wird heller, zunächst gelblich und schließlich strahlend weiß. Und auch das nimmt Lucy nicht wirklich als Farbe wahr, sondern als ein einziges einladendes Licht. Alle Angst weicht plötzlich einer tiefen Gewissheit, dass alles gut und richtig ist. In diesem wunderbar leichten Zustand, in dem sie sich schon lange nicht mehr befand, gibt es keine Fragen mehr.

Sie ist jetzt am richtigen Ort und zur richtigen Zeit! So könnte es bleiben - tut es aber nicht!

So augenblicklich Lucy mit diesem Licht zu einer Einheit verschmolz, genauso rasch nimmt sie alles um sich herum wieder wahr. Da sind sie wieder, all die Bilder der Formen und Farben. Und dennoch ist etwas anders. Lucy hängt noch immer in unbequemer Schräglage. Doch unter ihr, keine 20 Zentimeter tief, ist fester Boden. Kein Asphalt, keine schmuddelige finstere Straße. Nein, eine saftige grüne Wiese fängt sie sanft auf. Denn Lucys Fall wird hier nun beendet. Obwohl sie mit den Schultern und dem Kopf zuerst auf das Gras trifft, tut sie sich nicht weh. Die Erde federt sie weich wie eine Matratze ab. Und der Fall erfolgt zeitlupenähnlich. Sie liegt mit geschlossenen Augen da und fühlt wie die Grashalme in ihrem Gesicht kitzeln. Jetzt kann sie sich auch wieder bewegen und ihren Körper spüren.

Noch hat sie nicht den Mut, ihre Augen zu öffnen und nachzuschauen, was da eigentlich mit ihr passiert ist. Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie tot sein muss. Denn die Fakten in ihrem Kopf sagen es deutlich.

Erstens ist sie vom Dach des Hochhauses gesprungen.

Zweitens sind während des Fallens merkwürdige Dinge geschehen, die unmöglich real sein können.

Drittens kann es durchaus sein, dass sie im freien Fall ohnmächtig geworden ist. Ein Selbstschutz sozusagen, um dadurch den schrecklichen Aufprall und die Erfahrung des Sterbens nicht bewusst erleben zu müssen.

Viertens hat sie Licht gesehen und war für einen Moment ganz frei und unsagbar froh.

Doch was ist jetzt? Wieso kann sie jetzt ihren Körper wieder fühlen? Sie spürt die leichte Übelkeit von vorhin in ihrem Magen. Sie fühlt den seelischen Schmerz. Diesen Trennungsschmerz. Verlustschmerz. Sie fühlt die kalte Wiese in Gesicht und an den Händen. Vorsichtig und ängstlich öffnet sie ihre Augen. Sie hebt den Kopf und blickt direkt auf einen hohen Berg. Irritiert setzt sie sich auf und wendet ihren Blick rundherum. Ja, sie sitzt auf einer Alm Wiese. Um sich herum ein Bergmassiv. Schäfchenwolken ziehen über den strahlend blauen Himmel hinweg.

Lucys Herz klopft bis zum Hals. Sie steht auf und dreht sich einmal um die eigene Achse. Dann schaut sie an sich hinunter und erkennt auf der schwarzen Winterjacke die Spritzer ihres Erbrochenen.

„Was ist das? Was soll das alles?“, fragt sie zunächst leise, um dann panisch in das Panorama zu schreien: „Hilfe! Wo bin ich?“

Nichts ist zu hören und um sie nur Landschaft. Eine wunderschöne zwar, aber das ist in Anbetracht der Situation völlig egal. Wie zum Teufel kommt sie auf diesen unendlich hohen Berg?

„Oh mein Gott“, schreit sie hysterisch, „ich wollte sterben! Nichts mehr fühlen! Nicht mehr leiden! Und jetzt bin ich tot und in einer beschissenen Zwischenwelt!“

„Du bist nicht tot“, hört sie eine sachlich heitere Stimme hinter sich. Ihr Herz setzt für einen Moment aus, um dann doppelt so schnell zu rasen. Sie schießt herum und blickt direkt in die freundlichen Augen eines jungen Mannes.

„Was mache ich hier? Was machst du hier? Wer bist du? Wie komme ich hierher?“, schießt es aus ihr heraus, ohne Punkt und Komma. Und dennoch ist da eine gewisse Erleichterung. Denn sie ist nicht allein. Der Mann, um die Mitte 20, ist äußerst attraktiv mit seinen mittelblonden wuscheligen Haaren und dem Dreitagebart. Außerdem lächelt er so lässig und einladend, dass sie sofort ein wenig beruhigter ist.

„Hm“, macht er jetzt und berührt sanft ihren Arm. Ein warmer Schauer durchflutet ihren Körper. So etwas hat sie noch niemals erlebt.

„Du wirst mir tausende und abertausende Fragen stellen wollen. Menschen sind so. Sie wollen alles ganz genau wissen. Sie bemerken nicht, dass hinter jeder dieser Fragen noch tausend andere stecken und dass es so unmöglich ist, die Wahrheit zu erfahren.“ Seine Stimme ist dunkel und erinnert sie an etwas Wunderschönes, längst Vergessenes.

„Wer bist du? Und wie komme ich hierher?“, fragt Lucy zögerlich, weil seine kleine Ansprache über Fragen sie beeindruckt hat.

„Das werde ich dir sagen, Lucy“, antwortet er und streicht ihr liebevoll über die Wange. Unendliche Liebe strömt sogleich durch sie hindurch.

„Du kennst mich?“, stammelt sie verwirrt.

„Natürlich kenne ich dich“, lacht er, und dieses Lachen ist keinesfalls besserwisserisch oder überlegen. Nein, es ist so liebevoll und tröstlich, dass sie für einen Moment im Gefühl der Sicherheit badet.

Sie öffnet ihren Mund, will etwas sagen. Doch er legt ihr sanft den Zeigefinger über die Lippen.

„Ich werde dir alles Wichtige erklären. Komm erst einmal mit mir.“ Er dreht sich um und läuft in Richtung einer kleinen Holzhütte, die noch ein wenig höher am Hang liegt. Lucy bleibt zunächst wie angewurzelt stehen, schüttelt verwirrt den Kopf und beginnt dann zügig hinter ihm herzulaufen. Schnell treten Schweißperlen auf ihre Stirn. Denn hier, in dieser Bergwelt, fühlt es sich viel wärmer an, als zu Hause in ihrer Stadt. Sie öffnet die dicke Winterjacke und streift sie schließlich ganz ab. Der junge Mann läuft mühelos den Rest der steilen Wiese hinauf. Die Ärmel seines weißen lässigen Hemdes hat er hochgekrempelt, und er trägt es salopp über seine verwaschene Jeans. Ja, Lucy betrachtet ihn genau und ist sehr erstaunt, als sie bemerkt, dass er barfuß läuft.

An der Hütte angekommen, öffnet er die Tür und bittet sie mit einer einladenden Bewegung hinein.

„Setz dich, Liebes“, fordert er sie vertraut auf. Es fühlt sich so richtig an und so gut. Lucy hat keinerlei Bedenken oder Angst, dass hier etwas nicht stimmen könnte. So vertrauensvoll war sie nur mit Raffael…

„Raffael und du hattet eine sehr wichtige Lernebene, Liebes“, sagt er so selbstverständlich, als hätte sie ihre Gedanken zuvor laut mitgeteilt.

„Woher weißt du von Raffael?“, flüstert sie unsicher und reibt dabei fest ihre Hände aneinander, um zu sehen, ob sich das echt und lebendig anfühlt. Doch. Das tut es. Ebenso echt wie die latente Übelkeit, die noch immer in ihrer Magengrube wabert und das unangenehme Schwitzen in dem derben grauen Wollpullover.

„Hier ist Sommer“, erklärt er heiter, „zieh deinen Pulli aus! Bei über 20 Grad ist es im T-Shirt angenehmer. Mir macht es nichts aus, dass die Nähte ausgefranst sind.“

Jetzt wird Lucy schwindlig. Sie muss sich setzen und plumpst schwer auf die Eckbank direkt neben der Tür. Woher weiß er das alles? Woher kennt er ihren Namen? Woher weiß er von ihrem alten Shirt, das sie noch manchmal im Winter unter dicken Pullovern trägt, weil es so schön weich ist? Und ganz ehrlich: wieso ist sie plötzlich in den Bergen – mitten im Sommer noch dazu?

Er lächelt wieder und antwortet: „Du träumst, Lucy. Es ist nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist nichts bedroht. Nichts ist hier gefährlich oder wahnsinnig. Nein, du drehst nicht durch. Aber du hast um Hilfe gebeten und wenn jemand all sein Tun benutzen will, um zu heilen und nur eine winzige Bereitwilligkeit dazu besteht, wird diese Hilfe auch gewährt. Egal in welcher Form. Du hättest auch vom Hochhaus stürzen und sterben können. In einem Traum natürlich. Aber für dich sehr wirklich. Was hättest du gewonnen? Hm, nichts. Auch nichts verloren. Denn dein Leben kannst du nicht verlieren. Du hättest wahrscheinlich einen neuen Körper benötigt. Und dann hätte alles wieder von vorne angefangen. Oder glaubst du ernsthaft, du könntest vor deinen Lernaufgaben davonlaufen?“

Lucy schüttelt mit offenem Mund den Kopf, obwohl sie kein Wort wirklich versteht.

Während sie erwartungsvoll und ziemlich steif auf der Bank sitzt, hantiert er im Hintergrund mit Teekanne, einem Campingkocher und Tassen. Lucy will weitere Fragen stellen, als sie bemerkt, dass er seelenruhig Tee kocht und dabei nichts weiter sagt. Stattdessen pfeift er leise ein heiteres Lied. Aber Lucy denkt an seinen Spruch von vorhin: Menschen stellen Fragen.

Und so unterdrückt sie ihre Aufregung in der Hoffnung, er wird schon gleich mit der Sprache rausrücken. Und das tut er auch. Nach einigen Minuten sitzen sie zusammen an dem klobigen dunklen Holztisch. Sie weiterhin auf der Bank, er ihr gegenüber auf einem Bauernstuhl. Zwischen ihnen steht die weiße Porzellankanne, die mit ihrer feinen Optik so gar nicht in das rustikale Bild passen will – ebenso wenig wie die hohen schlanken Teetassen.

„Trink Lucy“, ermuntert er sie, „das beruhigt deinen Magen.“

„In einem Traum“, kontert sie spontan. Sarkasmus ist deutlich herauszuhören. Doch das scheint dem Mann nicht das Geringste auszumachen.

„Ja“, lacht er nur, „in einem Traum. Du hast doch zuvor auch getrunken und gegessen.“

„Na klar, habe ich das“, erwidert sie, „da war ich aber auch in meinem Leben. Als Lucy.“

Jetzt lacht er schallend. Sie fühlt sich ein wenig ausgelacht, kann ihm aber irgendwie nicht böse sein. Denn in seiner ganzen Art – seiner Aura – ist etwas unendlich Gütiges und Liebevolles.

Sie soll keine Fragen stellen. Okay. Aber reden darf sie ja wohl und so sagt sie überwältigt von seiner Wärme: „Ich habe das Gefühl, ich kenne dich schon ewig. Es ist so, als wärst du mein Bruder oder Geliebter.“

Das Wort Geliebter kommt spontan über ihre Lippen und sogleich schämt sie sich dafür, einem Fremden so etwas zu sagen.

Doch er schaut sie tatsächlich mit überfließender Liebe an und flüstert: „Das ist es. Ich bin dein Geliebter. Bruder. Dein geliebter Bruder.“

Schauer der Freude laufen über Lucys Rücken und sie sagt: „Ich bin gesprungen und tot. Und du bist mein Engel…. “

Ja, so muss es sein. So ist es auch. So – und nicht anders. Hier kann sie leben. Hier, mit diesem Engel.

„Nein Lucy. Nichts davon ist wahr. Nur dass du gesprungen bist. Oder sagen wir es mal so: du springst gerade. Noch bist du nicht unten angekommen. Du steckst im 21. Stockwerk“, lächelt er wieder.

„Was ist los mit mir?“, stottert sie. Bevor sie weiterreden kann, ergreift er zärtlich ihre Hand. Sie fühlt seine sehr weiche und warme Haut. Sogleich beruhigt sie sich wieder.

„Ich kläre dich auf, Lucy. Jetzt“, sagt er, streicht sich mit der freien Hand durch das volle Haar, nimmt dann seine Tasse um einen großen Schluck daraus zu trinken und beginnt zu erzählen ohne ihre Hand loszulassen:

„Was du da oben gerade auf dem Hochhaus machst – du versuchst, dich umzubringen – das hast du schon viele Male getan. Wenn du von Raum und Zeit ausgehst, könnte man sagen, es wäre jetzt sogar das dritte Mal in Folge. Du hast kaum eine deiner Lektionen gelernt. Oft hast du den Freitod, dem Aufgeben von Illusionen, vorgezogen. Was war die Konsequenz? Du bist wieder als ein scheinbarer Körper auf der Erde inkarniert. Der Körper ist tatsächlich jedes Mal ein anderer. Nicht aber der Inhalt deines imaginären Rucksackes. Dieser Inhalt ist voller Bindungen, ungelöster Probleme und Altlasten. Du wirst ihn durch Davonrennen nicht los, Liebes. Ganz und gar nicht. Stattdessen packst du ihn weiter, füllst ihn an und weigerst dich, mal hineinzuschauen. Deine Strategie ist eine ganz andere. Sie lautet: Mach die anderen für deine Schlepperei verantwortlich. Sag ihnen, sie seien schuld, sie würden dir alles in die Schuhe - oder besser in diesem Beispiel: in den Rucksack schieben. Du fühlst dich zunächst erleichtert, wenn du so die Verantwortung abgeben kannst. Es ist aber nie von Dauer, weil du deutlich die schwere Last auf deinen Schultern bemerkst für die nur du allein verantwortlich bist. Du bemerkst das, weißt keinen Ausweg, es geht dir schlecht und schlechter, dich überkommt letztlich ein Fluchtreflex, und du springst in den Tod… mal wieder.“

Er macht eine kurze Pause und Lucy traut sich jetzt doch zu fragen:

„Und wer bist du eigentlich?“

„Josua“, kommt es wie selbstverständlich aus seinem Mund, „ich bin sozusagen dein Bergführer, dein Wegweiser. Ich bin bei dir - war es schon immer und werde es auch stets sein. Das sollte an Erklärungen für das erste genügen. Denn du bist hier um zu lernen. Deine Entscheidung gerade, um ein Wunder zu bitten, war die beste seit langer Zeit. Dein Wille ist da. Niemand kann etwas gegen deinen Willen für dich tun, Liebes. Sagen wir es mal so: durch diese Entscheidung, die nur winzig klein und dennoch stark war, liegst du jetzt nicht mit verdrehten Gliedern in einer feucht kalten Hochhausschlucht. Dein Wille geschehe. Dein Geist ist sehr mächtig und du hast stets die Obhut über deinen eigenen Weg.“

„Okay“, sagt sie zögernd und empfindet gerade Erleichterung, dass sie diese Entscheidung tatsächlich kurz vor dem Sprung wählte: um ein Wunder zu bitten, aber…

„Du sagtest, es wurde gestoppt, und ich befinde mich tatsächlich noch im Fall. Also erstens sitze ich doch hier und fühle deutlich die Holzbank unter meinem Hintern und zweitens, wie kann denn ein Fall einfach stoppen? Das ist physikalisch total unmöglich. Eigentlich ist alles, was ich gerade erfahre, unmöglich. Es verstößt gegen sämtliche universelle Gesetze…“

„Tja, so hast du es bisher erfahren. Und als Körper ist das auch so. Auf der materiellen Ebene gibt es Raum und Zeit und Dualität. Es gibt die biologischen Gesetze, die chemischen, die physikalischen und noch viele andere. Sagen wir mal so, du befindest dich im Moment zwar noch immer in der Zeit und der Materie, aber du wurdest zum Zwecke des Lernens in eine Art Trainingslager katapultiert. Deinen Entschluss sterben zu wollen, hast du kurz vor dem Sprung hinterfragt. Hättest du noch ein paar Sekunden innegehalten, hättest mal in dich hineingeschaut, wäre da wohl auch für dich ein Liebesruf zu erkennen gewesen. Du wärst wieder hinabgestiegen und niemals gesprungen. Das war nun die einzige Möglichkeit, dich vor einer weiteren Körperrunde zu bewahren. Lerne deine Lektion jetzt, Lucy. Jetzt als Lichtträgerin. Dein Name ist nicht einfach nur so: Lucy.“

„Bleibe ich nun hier auf diesem Berg mit dir?“, fragt sie unsicher.

Josua lacht wieder dieses vertraute Lachen: „Nein, du bleibst nicht hier. Vergiss nicht, du befindest dich kurzfristig in einer kosmischen Ausnahmesituation. Eigentlich fällst du gerade und daran ändert sich nichts bis du unten angekommen bist. Auch wenn das nicht die Wahrheit ist.“

„Was ist denn die Wahrheit?“, fragt sie ungeduldig.

„Die Wahrheit ist, du bist geborgen und in Sicherheit, in der Einheit mit allem was ist. Frag jetzt nicht weiter. Wenn du deine Lektionen gelernt hast, wirst du verstehen. Die meisten verstehen es später…“, schmunzelt er.

„Aber wenn ich eigentlich falle, dann bin ich doch gleich tot“, sagt sie zittrig. Plötzlich weiß sie, dass sie nicht sterben will. Der Sprung war eine ganz dumme Idee.

„Noch einmal. Du bist in einer kosmischen Ausnahmesituation. Ich bin, wie gesagt, dein Bergführer. Zusammen schaffen wir es durch jede Etage. Und je tiefer du kommst, desto mehr wirst du gelernt haben. Vergiss nicht, du bist absolut nicht allein.“

„Josua? Ich habe Angst….“, flüstert sie und ihre

Hand, die noch immer in der seinen ruht, drückt fester zu.

„Du hast alle Macht. Kontrolliere deine Angst. Angst ist in keinem Augenblick gerechtfertigt. Wenn du in deiner Angst steckenbleibst, schaust du dir nicht deine Baustellen an. Vertraue und glaube mir, es ist niemals etwas Wahres und Göttliches bedroht. Das ist unmöglich. Nur in Träumen kann dir etwas Schlimmes und Grausames zustoßen. Wenn du das erst einmal begreifst, dann werden all deine Träume heller und schöner und lieblicher. Du bist da, um dich zu freuen und zu lieben. In Wahrheit BIST du einfach – gegenteillos. Jetzt stelle ich dir eine elementare Frage, Lucy: Bist du bereit dir deine Fehlschöpfungen anzuschauen, aufzugeben und durch Liebe, die immer schon dahinter floss, zu ersetzen? Hilfst du mir, dein Beziehungschaos - das nichts anderes ist, als alles Beziehungschaos der ganzen Welt – aufzulösen? Aufzulösen, um mit allem und jedem in einer einzigen Beziehung froh und in Liebe zu sein?“

Zum ersten Mal seit sie mit ihm zusammen sitzt, schaut er sie ernst an. Sein Blick dringt bis zu ihrem Innersten vor. Sie fühlt die Wichtigkeit hinter seinen Worten.

Sie nickt und fragt leise: „Jedes Problem ist irgendwie ein Beziehungsproblem, oder?“

„Gut erkannt Liebes“, nickt auch er, „solange du einen Körper benutzt – und den Frauenkörper der Lucy benutzt du immerhin schon fast 35 Jahre – solltest du erkennen, dass es letztlich nur um Beziehungen geht. Beziehungen in jeder Form. Wenn du das geheilt hast, dann fühlst du die Einheit wieder. Genau das macht dich für dich und alle anderen unschätzbar wertvoll. Nicht, dass du an deinem wahren Wert je etwas verändern könntest, aber du machst dich auf diese Art sichtbar für alle. Lucy – sei das Licht der Welt! Heile deine Beziehungen!“

Es ist ganz leise in der Hütte. Beide schauen sich an und schweigen in einer unendlich sanften und heilsamen Art. Eingehüllt, ja fast schon einbalsamiert, in Geborgenheit, ist ihre Angst vor dem Wahnsinn, der sich womöglich hinter all dem verbirgt, völlig aufgelöst. Sie ist jetzt hier mit Josua.

„Ich danke dir für das Wunder“, sagt sie gerührt.

In diesem Augenblick verschwindet die Hütte und stattdessen befindet sie sich erneut in freiem Fall beim Sturz vom Hochhaus…

Lucy fällt

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