Читать книгу Lucy fällt - Gaby Mrosek - Страница 8

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20. Etage – Alles auf Anfang

Es geht alles sehr schnell. Lucy kann nichts wirklich gedanklich greifen. Sie stürzt kopfüber und rasant, dass ihr Magen nach oben zu schießen scheint. Doch wieder sind es lediglich die paar Meter, bevor das Fallen ein abruptes Ende hat. Wieder zerfließt die Kulisse und wieder umhüllt sie eine warme und tröstende Helligkeit.

Sanft dämmert eine neue Szene vor ihren Augen hinauf, während sie wie in Zeitlupe auf einem beige gefliesten Boden zum Landen kommt. Und obwohl es dieses Mal kein weiches Gras ist, sondern harte Keramik, fühlt sie keinen Schmerz beim Aufkommen. Sie fällt tatsächlich so zart wie eine Feder. Zunächst bleibt sie einige Sekunden liegen. Sie stellt fest, dass sie wieder ihre Winterjacke trägt, obwohl sie diese oben in der Hütte auf die Bank gelegt hatte.

Langsam bewegt sie ihre Glieder und setzt sich neugierig aufrecht.

Anders als vorhin in der Bergwelt überkommt sie jetzt keine Panik. Vor allem, weil ihr Blick direkt auf Josua fällt. Er steht am Tisch einer großen gemütlichen Küche. Mit den Händen steckt er tief in einem festen Teig. Lucy weiß sofort, dass der Ort hier nicht die Berghütte sein kann. Gleichzeitig erkennt sie aber diesen rustikalen Tisch. Ja, er ist es. Der Tisch aus der Hütte.

Sie steht auf und geht langsam auf Josua zu.

„Was machst du da?“, fragt sie und schaut sich gleichzeitig im Zimmer um. Es gibt nicht ein Fenster hier. Das findet sie merkwürdig. Auf einem Regal in der Küchenzeile steht doch tatsächlich wieder die weiße Teekanne. Auch Josua trägt dieselbe Kleidung wie vorhin, und wieder sind seine Füße nackt.

„Zieh die Jacke aus und komm zum Backen, Liebes“, sagt er ganz selbstverständlich. Seine Stimme klingt wie die eines liebenden Vaters. Wie auch gerade in den Bergen, spürt sie die Wärme im Raum. Dieses Mal geht sie wohl von dem sehr großen Backofen aus, der etwas Heimeliges verströmt. Heimelige Kuschelwärme, heimeliger zarter Vanilleduft. Lucy streift ihre Jacke ab und dieses Mal auch den zu dicken Pullover. Ihr verschossenes Batik-T-Shirt, das ein Dunkelrot erahnen lässt, eignet sich in seiner schäbigen Optik eigentlich nicht einmal mehr zum unterziehen. Aber vor Josua schämt sie sich nicht. Langsam tritt sie an den Tisch.

„Ich nehme an, ich befinde mich jetzt in Etage 20?“, fragt sie und er nickt lächelnd.

„Hilf mir beim Backen, Lucy“, sagt er und deutet mit dem Kinn auf den großen Teigklumpen, den er noch immer bearbeitet.

„Sieht aus wie Brotteig“, meint sie und tippt mit dem Zeigefinger dagegen.

„Ja, der Teig ist sehr fest. Aber darum geht es jetzt nicht. Nimm ihn in beide Hände“, fordert er sie auf und legt den großen Ballen in ihre geöffneten Handflächen. Er fühlt sich schwer und warm an. Fragend blickt sie Josua an. Er lächelt und sagt schließlich: „Es geht um mehr, als nur ums Kuchenbacken. Das kannst du dir sicher denken….“

Lucy nickt. Ihr ist klar, dass alles was zwischen den Etagen geschieht, ihrem Lernen dienen soll. Jetzt soll sie Kuchen backen. Das kann nur eine Metapher sein. Denn schließlich geht es um ihr Leben.

„Es geht um dein Leben, Liebes. Das ist ganz sicher“, erwidert er, obwohl ihre Worte nichts als Gedanken waren. Gedanken, die er hören kann.

„Aber zuallererst sage ich dir etwas wirklich sehr Wichtiges: dein wahres Leben kannst du nicht verlieren. Niemals. Das wäre unmöglich. Alles was es in Wahrheit gibt, währt ewig. Leben ist vom Schöpfer. Der Schöpfer ist allmächtig und erschafft alles so wie sich selbst. Das heißt nichts anderes, als dass du so bist wie er. Allmächtig und ewig. Das, was sterben kann, ist eine Fehlschöpfung oder auch einfach nur eine Illusion in einem Traum. Wenn du also wirklich deinen Lucy-Körper nicht mehr benutzen kannst, dann bekommst du einen neuen. Weil der Schöpfer das so will? Nein, weil du das so willst, mit all deiner Macht. Er, der Schöpfer, muss warten bis du aufhören willst zu träumen. Und macht ihn das wütend? Oder traurig? Nein, denn er ist nur Liebe und wartet einfach ganz geduldig auf deinen wahren Willen. Darauf, dass du dich erinnerst, wer du in Wahrheit bist. Und dann erwachst du ganz einfach aus deinen Fieberträumen. So, bevor du jetzt weiter fragst, will ich dir etwas über dich und deine Mitspieler erzählen. Über deinen geliebten Raffael, deine Eltern und Kollegen usw. Du musst nämlich etwas Grundlegendes begreifen, bevor du beginnst all deine Beziehungen anders zu betrachten und zu heilen. Dafür dieser Teig. Sieh ihn dir genau an.“

Josua schaut sie prüfend an. Lucy bemerkt, dass das eine ganz praktische Aussage war und keine rhetorische. Sie betrachtet also den hellgelben Klumpen in ihren Händen. Er ist groß und warm und glatt und gibt schon bei geringem Druck nach.

„Und?“, fragt er mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Mir fällt nichts weiter auf, als dass es ein großer Klumpen ist“, antwortet sie und ist damit selbst nicht zufrieden. Hier muss es doch um mehr gehen.

„Genau“, strahlt er sie an, „ein großer Klumpen.“

Lucy ist verunsichert. Das kann wohl kaum alles sein.

„Genau genommen ist das alles. Die Schöpfung ist so einfach. Anhand dieses Teiges möchte ich dir etwas klar machen. Sagen wir mal so, ich erzähle dir jetzt die Schöpfungsgeschichte ganz anders, als du sie kennst.“ Er macht eine kurze Pause um zu überprüfen, ob Lucy bereit ist, ihm voll und ganz zuzuhören. Das ist sie. Also beginnt er zu erzählen:

„Stell dir einmal vor, du hast einen schönen leckeren Teig, so wie den in deinen Händen, der eigentlich einen ganzen Kuchen ergeben soll. Einen einzigen und vollständigen Kuchen.

Plötzlich hast du aber die Idee, lieber viele kleine Kuchen backen zu wollen. Du füllst den Teig - der ja ein Ganzes ist – separat in Muffinförmchen und backst ihn. Das könnten wir tun.

Wenn du die Küchlein aus dem Ofen holst und betrachtest, sehen sie alle noch ziemlich gleich aus, und dennoch hast du sie durch den Backvorgang schon separiert.

Das genügt dir aber noch nicht – nein. Also beginnst du, alles schön zu verzieren. Du benutzt ganz unterschiedliches Dekor. Ein paar deiner Muffins bekommen eine nette Sahnehaube, ein paar andere eine Zitronen- oder Schokoglasur, die nächsten einen Überzug aus Buttercreme. Zusätzlich verwendest du noch Lebensmittelfarben in allen Tönen, Zuckerstreusel, Liebesperlen, Fondantblümchen und vieles mehr. Du setzt deiner Fantasie keine Grenzen. Zum Schluss betrachtest du dein Werk und stellst fest, dass jedes Teilchen anders aussieht. Die Täuschung der Individualität ist perfekt. Und obwohl sich jedes vom anderen unterscheidet, ist dir klar, dass der Kuchenteig unter all der Verzierung ein und derselbe ist. Du weißt das, aber du denkst nicht mehr daran. Wieso solltest du auch? Viel zu schön und auffällig ist der Überbau darüber. Klar, der eine Muffin ist dir scheinbar besser gelungen als ein anderer. Vielleicht ist sogar einer dabei, dessen Häubchen zerdrückt ist, die Zuckerperlen verrutscht und die Farbzusammenstellung gar nicht appetitlich ausschaut. Aber nach Entfernen des Gusses stellst du fest, der Geschmack ist identisch mit allen anderen - sogar mit dem schönsten deiner Törtchen.

Sicherlich ist dir sonnenklar, worauf ich hinaus möchte. Es ist jetzt auch an der Zeit, dieses Kuchengleichnis zu verlassen. Schauen wir uns lieber unseren vollständigen und heiligen Geist an: Dieser eine Geist, eine liebevolle Ausdehnung unseres Schöpfers, ihm total gleich, kam auf die wahnsinnige Idee, aus dem kompletten Ganzen, viele kleine Teile zu separieren. Frage nicht warum. Warum-Fragen bringen uns hier nicht weiter. Das Gegenteil ist der Fall – sie führen dich tiefer in den Traum von Trennung. Akzeptiere einfach, dass du einen idiotischen Wunsch nach Einzigartigkeit gehegt hast. Eine Einzigartigkeit, die dich nicht nur besonders machen sollte, sondern als Konsequenz auch die totale Trennung von Gott und ein Aufsplittern deines Selbst in unzählige Teile nach sich zog. Aber – und jetzt kommt das Wichtige, das es zu wissen gilt – da du bist wie dein Schöpfer, sein Ebenbild, konntest du dich nicht wirklich zerteilen und abgrenzen. Eine wahrhaftige Einheit bleibt eine wahrhaftige Einheit. Da gibt es nichts dran zu rütteln. All das ist nur in einer Wahnidee möglich. In einem Traum. Du allmächtiges Kind, eines allmächtigen Vaters, wolltest eine Trennungserfahrung und nichts und niemand konnte dich aufhalten. Wie gut, dass wir aus der Liebe kommen, die kein Gegenteil hat. Und so hat die Liebe unseres Lebens - das ist tatsächlich keine Wortspielerei, sondern wortwörtlich zu nehmen – uns eine grandiose Kommunikationsverbindung gegeben. Diese Kommunikationsverbindung ist der Heilige Geist, und er reicht in unseren Traum der Dualität und Trennung. Er ist sozusagen der Wecker Gottes. Denn ansonsten würden wir Runde um Runde einfach weiterpennen und träumen, dass wir reich sind und arm, verletzt wurden und alles verloren haben und plötzlich der Kaiser von China sind. So und so fortlaufend, ohne die Möglichkeit unseren verrückten Film zu stoppen. Doch wie schon gesagt, unser Schöpfer ist heil und ganz und einfach nur Liebe. Er kennt davon kein Gegenteil. So hat er das Heilmittel für unsere Fieberträume sogleich in unseren schlafenden Geist gelegt – das ist der Heilige Geist. Jeder einzelne kann ihn hören und hat ihn auch schon gehört, ohne das zu bemerken oder gar zu wissen. Diejenigen, denen das Traumspiel langsam dämmert, beginnen, ihn hören zu wollen.

Oder, um noch einmal auf unser Kuchengleichnis zurückzukommen, sie beginnen unter ihre Glasur, die hier unser Ego darstellt, zu schauen. Noch können sie all das Zuckerzeug nicht komplett entfernen, aber sie betrachten es schon mal. Und nach und nach nehmen sie eine Perle nach der anderen herunter, ebenso die Blümchen und die Sahne. Das machen sie solange bis sie erkennen, dass sie genau dasselbe sind, wie das Törtchen neben sich. Dann können sie noch eine Zeitlang so nebeneinander stehen, ganz bewusst, wer sie sind. Zwei, die eigentlich ein Ganzes darstellen sollten…

Und das ist letztlich deine Aufgabe: entferne deinen Überbau. Vergib dir selbst, was du nicht bist!“

Lucy trägt noch immer den Teig in ihren Händen. Mittlerweile umgreift sie ihn, wie einen prallen Ball. Ganz still steht sie da und schaut mit ihren grünen Augen auf die Masse. Josua lächelt schlicht, dreht sich um und kocht noch einmal einen Tee.

Ganz vorsichtig legt sie den Klumpen auf den Tisch, wischt ihre etwas fettigen Hände an der Hose ab und setzt sich auf einen der vier Stühle.

„Ich bin dieser Teig, ja?“, fragt sie beinahe schüchtern, weil sie es nicht glauben kann.

„Du bist, metaphorisch gesehen, dieser Teig. Korrekt. Stark vereinfacht und doch so anschaulich. Abgesehen davon ist nichts, was vom Schöpfer kommt, wirklich schwierig. Du bist ein Teil von ihm, und er gibt sich dir ständig zu erkennen. Eins musst du wissen: Er liebt dich unendlich. Du bist sein ganzes Glück. Seine Freude. Niemals ist er fern von dir. Niemals würde er dich irgendwo alleine aussetzen – dich verlassen. Das alles geschieht nur in deinen verrückten Träumen.“

Josua bringt den Tee an den Tisch, ebenso die Tassen und ein Blech mit noch heißen Keksen, die er soeben aus dem Ofen gezogen hat.

„Keine Muffins?“, lächelt Lucy mit Anspielung auf seine Schöpfungsgeschichte.

„Nein“, schmunzelt er, „Vanillekipferl. Das passt in deine Weihnachtszeit, in der du dich gerade zu befinden scheinst. Trink einen Schluck Tee. Das hast du in der Berghütte versäumt.“

„Wie lange bin ich denn schon hier? Hier in deiner Küche und in der Hütte davor?“, fragt sie, weil sie überhaupt kein Zeitgefühl mehr hat. Es könnten 2 Stunden sein oder 20 Minuten.

„Hm…“, überlegt er und blickt gespielt nachdenklich an die Decke, „in Anbetracht dessen, dass Zeit nur ein Taschenspielertrick ist, kannst du es dir aussuchen. Aber da du in deinem Traum der Lucy vom Hochhaus fällst und eben nur einen Schlenker im Raum-Zeit-Kontinuum machst, würde ich sagen: 5 Sekunden…“

Lucy beginnt zu lachen. Zunächst leise und zurückhaltend. Dann kann sie aber nicht mehr an sich halten, und sie lacht laut und schallend. Es tut ihr so gut. Sie lacht einfach all ihre Sorgen davon. Zum ersten Mal seit langer Zeit – wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt in ihrem Leben – ist sie froh ohne an Vergangenheit oder Zukunft zu denken. Sie ist hier im Jetzt und das ist wunderbar.

„Liebes, das ist wahrhaftig wunderbar. Manchmal muss man einfach alles davon lachen. Das gelingt dir aber erst, wenn du begreifst, dass alles was du mit menschlichen Augen siehst, nicht die Wahrheit ist. Dann kannst du vor Erleichterung lachen. Und da du in diesem Augenblick wahrlich bereit bist, schauen wir uns noch einmal die Muffins an, und auch den gesamten Teig. Verstehst du in diesem Zusammenhang, dass du nicht getrennt sein kannst von einem anderen? Verstehst du, dass die Trennung in Muffinförmchen nicht einen anderen Teig aus dir macht? Das geschieht nur in Illusionen. In deiner Welt hast du aus dir einen Menschen gemacht. Jemand der abgetrennt ist vom Ganzen. Ebenso abgetrennt wie mittlerweile beinahe 8 Milliarden. Dein Körper soll das Symbol der Trennung sein, die niemals wirklich stattfinden konnte…“

„Weil der Schöpfer keine Muffins mag, sondern lieber einen ganzen Kuchen“, beendet Lucy den Satz, und Josua grinst breit.

„Sehr vereinfacht, ja“, erwidert er, „weißt du Lucy, es ist in Wahrheit mehr Einheit da, als einfach nur ein Batzen Teig. Du bist tatsächlich ein Ganzes mit allen 8 Milliarden scheinbaren Teilchen. Und das, obwohl du nur einem winzig kleinen Bruchteil jemals begegnen wirst. Und vergiss nicht unsere Mission: Betrachtung und Heilung deiner Beziehungen zu allen. Zu jedem einzelnen. Zu dir also: Lass uns jetzt beginnen. Mit Raffael. Eine besondere Liebesbeziehung. Für dich sogar eine sehr besondere Liebesbeziehung.“

„Josua, bitte“, flüstert sie und sticht alle fünf Finger der rechten Hand in den Teigklumpen der noch immer vor ihr liegt. Mit der linken Hand streicht sie eine lange blonde Strähne aus dem Gesicht.

„Liebes“, raunt er zärtlich, „du hast um ein Wunder gebeten. Das Wunder ist jetzt da. Es ist für dich und nicht gegen dich. Wunder sind eigentlich nichts anderes als korrigierende Brillengläser. Du siehst richtig mit ihnen. Beginnst klar zu sehen. Ein Wunder nimmt allen Schmerz von dir, weil es dir zeigt, was in Wahrheit da ist, und es lässt alle Illusionen verschwinden. Willst du mir glauben? Dass du ein Ganzes bist mit jedem und allem? Du bist ein unersetzbarer Teil. Auch Raffael gehört dazu. Er ist du. Du bist er….“

„Ich weiß“, seufzt sie und denkt an all die Bücher, die sie gelesen hat, an den Coach, den sie aufgesucht hat und auch an die vielen Videos auf YouTube.

„Wir sind Seelenpartner, Dualseelen sogar…“, setzt sie leise zögerlich nach.

„Wir schauen uns jetzt diesen Wunsch einmal genau an“, sagt er sanft.

Dieser Satz sticht ihr ins Herz, ebenso wie all die anderen Herzstiche, die sie in Zusammenhang mit Raffael schon erfahren hat.

„Das ist kein Wunsch!“, setzt sie ein wenig trotzig und sehr bestimmt nach.

„Das ist die Wahrheit! Wir sind nämlich ein einziger.

Eine einzige Seele in zwei Körpern….“

„…die etwas gemeinsam und auch eine Zeitlang getrennt zu lernen haben, um dann schließlich in Liebe zu leben“, beendet er ihren Satz. Sie will weitersprechen. Doch er macht eine stoppende Handbewegung.

„Besondere Liebe ist die größte Abwehr gegen die Wahrheit, Liebes. Denk an den Kuchenteig. Wenn du sagst, dass du zusammen mit einer einzigen anderen Person ein Ganzes bist, was ist dann mit allen anderen?“

Er zieht den Teigklumpen zu sich hin und trennt eine Kugel daraus ab. Diese legt er vor Lucy.

„Dieses Stück Teig seid also ihr – Raffael und du. Wieso nicht nur du oder Raffael und jemand anderes oder ihr beide und noch eine dritte, vierte, fünfte Person? Und was ist mit dem ganzen großen Rest? Den lässt du völlig außer Acht. Du beschäftigst dich ausschließlich mit dem Überbau, dem Sahnehäubchen. Mag sein, dass Raffael eine köstliche Buttercreme ist. Köstlich für dich, weil du auf Buttercreme stehst. Aber unter der Buttercreme ist er das, was du und alle anderen sind auch. Und mit Überbau ist nicht nur die Optik des Körpers gemeint. Nein, auch der Charakter, die ganze Art, die gesamte Rolle in einem Film, die eine überzeugende schauspielerische Leistung darstellen soll.“

Josua schaut Lucy prüfend an. Sie schaut weg und verschränkt die Arme voreinander. Dann ist es zunächst ganz still.

Schließlich sagt sie: „Ich weiß es doch auch nicht. Aber wieso ist diese Anziehungskraft so groß? Diese Magie? Und wieso tut es so weh, wenn ich nicht bei ihm bin? Und wenn er mit einer anderen Frau lieber zusammen ist? So tiefe Liebe habe ich noch bei keinem Menschen gefühlt und so schrecklichen Kummer noch bei keinem anderen empfunden. Wie kann das sein?“

„Wie kann das sein, Liebes, dass du die Worte tiefe Liebe und schrecklichen Kummer in einem einzigen Satz benutzt? Liebe und Kummer können nicht nebeneinander bestehen bleiben. Das eine schließt das andere komplett aus“, sagt er langsam und blickt sie dabei zärtlich an. Lucy schaut in seine braunen Augen, die von innen heraus leuchten, so als sei ein warmes Licht in ihnen. Wieder hat sie eine plötzliche Erinnerung. Es ist nichts Greifbares, nichts, was sie als Bild oder Situation beschreiben könnte. Aber trotzdem ist es da, ganz real und eine tiefe Geborgenheit durchflutet sie. Das ist der Moment, in dem sie an ihrer Vorstellung von Liebe und Beziehung zweifelt. Noch nie gab es einen Zweifel bezüglich ihrer Romantik-Theorie. Unsicherheiten gab es schon. Unsicherheiten, wie sie sich jetzt verhalten sollte, was als nächstes geschehen müsste oder wie eine ideale Romanze aussah. Doch das Dualseelen- oder Seelenpartner-Konzept stand als Fundament stets da, seit sie Raffael vor fünf Jahren traf.

Was, wenn Josua Recht hatte? Was, wenn sie durch die falsche Tür gegangen war?

„Du kannst nicht durch die falsche Tür gehen. Du kannst lediglich auf dem Flur stehen bleiben, Lucy“, antwortet er auf ihre Gedanken. „Weißt du, Menschen glauben immer sie hätten tausend und abertausend Möglichkeiten. Das ist aber nur eine Fatamorgana. Es gibt tatsächlich nur zwei Dinge, die zur Auswahl stehen. Du kannst dich komplett für die Liebe, das Synonym für Wahrheit, oder die Angst, das Synonym für Illusion entscheiden. Die Auswahl, die es scheinbar in der Illusion gibt, führt dich durch keine Tür. Sich für den Traum zu entscheiden, ist gar keine richtige Entscheidung. Du zögerst nur hinaus und bleibst halt auf dem Flur.“

„Und was genau heißt das jetzt für mich in Bezug auf Raffael?“, fragt sie ungeduldig.

„Das, Liebes, heißt, dass du in ihm einen grandiosen und für dich perfekten Lernpartner gefunden hast. Nichts geschieht wirklich zufällig. Alles steht in deinem Drehbuch, und es gibt gewisse Begegnungen, die sind elementar wichtig für dein Lernen. Nenn jede Art von Begegnung einfach Lernebene. Denn es sind einfach nur Lernebenen. Manche bestehen jahrelang oder sogar ein scheinbares Menschenleben. Andere sind so kurz, dass du sie kaum wahrnimmst. Hat es dich noch nie überrascht, dass gewisse Leute dir sehr häufig über den Weg laufen und du deinen Nachbarn kaum siehst?“

„Hm“, sagt sie nachdenklich, „doch eigentlich schon. Da gibt es diese kleine alte Frau mit den vielen weißen Löckchen…“

„…die du beinahe täglich siehst?“, beendet er ihren Satz. „Sie fährt stets mit ihrem Fahrrad an dir vorbei oder du schaust gerade aus dem Fenster, wenn sie genau dort lang strampelt. Egal wo du dich in der Stadt befindest, sie ist in deiner Nähe.“

„Wow“, ruft Lucy aus, „ja! Das hat mich schon so oft erstaunt! Aber, sag mal, woher weißt du das alles? Das über mich? Du kennst mich total gut, kannst meine Gedanken lesen und weißt auch ansonsten verdammt viel – über Beziehungen und so…

„Lucy, das kommt daher, weil ich ein Teil von dir bin.“

„Ein Teil von mir? Wie meinst du das?“, fragt sie unsicher.

„Na, wir sind das Kuchengleichnis durchgegangen, oder etwa nicht?“, lächelt er sie an.

„Naja, das schon. Aber ich sehe mich immer noch als getrenntes Wesen und dich ebenso…wer auch immer du bist….Josua… Josua? Wer bist du?“, Lucy bekommt plötzlich Angst, denn sie denkt wieder an ihren Selbstmordversuch, an den freien Fall, der unterbrochen wurde und sie weiß nicht, was hier eigentlich wirklich vor sich geht, außer, dass sie etwas lernen, etwas heilen soll, beziehungstechnisch.

„Ich bin ein Teil von dir, so wie ich ein Teil von jedem anderen auch bin. Das hat nichts, aber auch rein gar nichts mit Körpern zu tun. In der Dualität, der materiellen Welt, kann ich nicht eins mit dir sein. Auf geistiger Ebene schon, da wird die Tatsache, dass es Trennung gar nicht geben kann, völlig verstanden, weil sie so normal ist. Abtrennung von Leben, das sich nur ausdehnen will, ist unnormal. Also, ich bin kein Körper, ebenso wie auch du keiner bist. Noch nimmst du dich als Frau wahr, identifizierst dich sogar damit. Doch dein Sahnehäubchen ist nichts als Spielerei und wird nicht bleiben. Mich nimmst du lediglich als Mann wahr, weil du eine Lernhilfe benötigst. Ich benutze ansonsten keinen Körper mehr, weil ich sämtlichen Zuckerguss längst aufgegeben habe. Ich habe dir versprochen, dass ich dich nie verlassen werde, Liebes. Und das habe ich nie getan. Erinnere dich…“, er schaut Lucy prüfend an. Sie versucht sich währenddessen zu erinnern. Wer ist Josua? Und wann hat er gesagt, dass er sie nie verlassen würde?

„Ich bin bei euch alle Tage…“, seine Stimme ist so gütig und liebevoll und Lucys Herz setzt einen Schlag aus. Sie umklammert mit beiden Händen die seinen und flüstert: „Du bist… Jesus….“

„Ja, so nennt man mich“, erwidert er lächelnd.

Spontan dreht sie seine warmen Hände in den ihren um und sucht nach Nagelspuren.

„Du wirst nicht finden, wonach du suchst“, sagt er ernst, „ich habe mich von meiner letzten sinnlosen Reise, die Tod am Kreuz beinhalten sollte, befreit. Ich bin kein Körper, ich war niemals einer. So war es mir möglich, meinen scheinbaren Peinigern und Verrätern vollständig zu vergeben. Ich bin nicht gestorben. Ich bin auferstanden und lebe nach wie vor und zwar vollkommen geheilt und ganz und frei.“

„Aber das sind doch deine Zeichen…“, druckst sie ein wenig herum und ihre Zweifel werden lauter: „Du hängst in jeder Kirche am Kreuz und wirst mit durchbohrten Händen dargestellt. Du bist doch der Heiland, der Erlöser der Welt…“

„Und genau das ist der elementare Fehler. Weißt du was, Lucy? Wir beginnen mit deiner Heilung der Beziehung zu mir. Denn du hast mich, wie der Großteil der Menschheit, falsch verstanden. Ich bin nicht für die Sünden der Welt gestorben und es gab niemals einen rachsüchtigen Gott, der das gewollt hätte. Gott ist mein lieber Vater, sowie er auch dein lieber Vater ist. Bei mir war es so, ich habe früh erkannt, dass ich nicht der Körper bin, sondern ich selbst, mit allen anderen, eine große Fehlschöpfung kreierte. Ich erkannte es, hörte die Stimme für Gott und löste vergebend meine Sahnehaube auf. Irgendwann war wirklich nur noch der Teig übrig, in einem Förmchen zwar noch, aber jeder, der Vergebung lernen wollte, konnte mir nachfolgen. Ich habe nur Liebe gelehrt, nichts als Liebe. Solange bis meine Aufgabe erfüllt war. So konnte ich den Tod am Kreuz in Liebe überwinden. Denn Liebe besiegt den Tod. In Wahrheit aber stimmt nicht einmal das, denn es gibt in Wahrheit nur Liebe. Die ist echt und muss sich nicht gegen eine Fatamorgana wehren. Kein Krieg also – kein Besiegen. Was ein Fehler ist, verblasst ganz einfach, bis es ganz verschwindet. Warum war das dann alles überhaupt nötig? Warum nimmst du dich jetzt überhaupt als Frau wahr, Lucy? Dein Ziel war die Trennung und sich loslösen aus der Einheit. Das war nichts als ein wahnsinniger kleiner Wunsch. Aber da dein und mein und ein jeder Geist so mächtig ist, wie der seines Vaters, ist dein Wunsch Befehl. Du machtest eine Welt der Formen und Farben und Besonderheiten – siehe Kuchengleichnis. All das sollte eine Zeitlang leben, um dann zu Staub und Asche zu zerfallen. Da du bist wie dein Vater und der nun mal die Liebe und das Leben selbst ist, kannst auch du nicht sterben und lebst nun viele kleine Leben in vielen zerbrechlichen Körpern und zerstörst und zerstörst und zerstörst. Ganz zerstören konntest du dich nicht und eine echte Trennung von allem war dir auch nicht möglich, weil das Leben nun mal so ist, wie es ist: es lebt. Über Gottes Kind fiel also ein tiefer Schlaf, und nun träumt es von Leid und Tod und manchmal scheinen seine Träume ihm gnädig zu sein und es freut sich, und bekommt schöne Dinge, die ganz plötzlich in ihr Gegenteil umschlagen können. Denn eins ist sicher: so sicher wie das Zentrum dieser Welt Leid und Schuld und Tod ist, so sicher ist dann konsequenter Weise auch, dass alle Lust, alles Glück in sein Gegenteil umschlagen wird. Denn die Welt der Materie begrenzt letztendlich alles und lässt es zu Staub zerfallen. Nichts ist hier konstant, auf nichts kannst du dich verlassen, nur auf den Tod, der jeden früher oder später ereilt. Unser Vater hat dir alle Macht gegeben und kann dein perfides Spiel nicht stoppen. Ansonsten würde er seine eigene Macht stoppen, und das ist unmöglich! Doch er hat ein Heilmittel, eine Aufwachhilfe, direkt neben dein Drama gepackt. Es ist der Geist, der alles verbindet, alles vereint. Es ist der Heilige Geist, unsere grandiose Kommunikationshilfe. Du kannst ihn hören. Oder du kannst auf dein Computerprogramm, genannt Ego, hören. Beide Stimmen sind als Gedanken in dir. Das Ego spricht vorschnell und laut, der Heilige Geist ist sehr sanft und du wirst durch inneren Frieden bemerken, dass du auf seine Worte hörst, nicht auf die deines Egodenksystems. So kannst du tatsächlich heilen und aus dem Traum der Trennung erwachen. Das wird geschehen, wenn du all deine Beziehungen in Liebe geheilt hast und dein innerer Frieden dauerhaft geworden ist.“ Josua beendet seine kleine Ansprache und schaut Lucy tiefgründig an.

„Weißt du“, sagt sie nach einer kleinen Weile, „was du sagst, klingt irgendwie logisch und vertraut. Es klärt auch diese kleinen Gedankenfehler auf. Z.B. fragte ich mich immer – wie die meisten anderen Menschen wohl auch – wie kann Gott das alles zulassen? Das ist ja schon fast eine Standartfrage. Für Atheisten ist klar, dass es Gott nicht geben kann, weil es so viel Gräuel auf der Welt gibt, und die Gläubigen fragen sich, ob sie geprüft werden oder so… Wenn ich verantwortlich bin, dann habe ich ja all den Mist zusammen mit allen in Gang gesetzt. Ist wohl an der Zeit aufzuräumen.“

„Ja, Lucy, du bekommst genau jetzt die Chance, dein Leben und all deine Beziehungen anders zu betrachten und in Liebe zu heilen. Hab keine Angst! Die gilt es zu kontrollieren! Ansonsten dringst du nicht zur Wahrheit vor.

Schau dir einfach die Welt an, in der du lebst. Sie ist scheinbar bunt, aufregend und voller Chancen. Sie steckt aber auch voller Dramen, Ungerechtigkeiten und Chaos. Alles ist hier möglich oder auch nicht. Du lebst mitten in einer Wundertüte. Du weißt ja, wie das mit Wundertüten ist: Du betrachtest sie von außen, bist ganz neugierig und reißt sie voller Erwartungen auf. Dann freust du dich entweder oder bist enttäuscht. Irgendwann verlässt du aber deine Kindheit, in der du dich von Wundertüten, Überraschungseiern und Geschenkverpackungen hast ködern lassen. Du wirst erwachsen und erkennst ganz einfach, dass deine Welt nicht deine Welt ist. Du erkennst die Kulisse, hinter der es hohl und leer ist. Wenn du wirklich erwachsen geworden bist – und ich meine geistig erwachsen, nicht körperlich, denn der Körper täuscht gewaltig – dann suchst du den Ausgang aus der Matrix.“

„Wow“, flüstert Lucy und plötzlich wird es ganz klar und deutlich sichtbar in ihrem Geist. Es fühlt sich an, als würden schwarze Gewitterwolken langsam heller werden, um sich schließlich ganz aufzulösen oder ganz einfach davonzuziehen.

„Das, Liebes, ist Vergebung, wie ich sie dich lehren kann. In der Dualität ist Vergebung eine Farce. Schau dir an wie verrückt dieses Spiel ist, das ihr Menschen da spielt. Es wird gemordet und betrogen und belogen. Und dann verlangt ihr voneinander Vergebung für all das Schlimme, das ihr euch angetan habt. Jemand der die aller schrecklichsten Dinge, die ihm zu widerfahren scheinen, vergibt, gilt bei euch als großzügig, edel und charakterstark. Wenn jemand ein verzeihendes Opfer, womöglich ein sich aufopfernder Märtyrer ist, dann hat er eure ganze Bewunderung. Ich sage dir, Lucy, es ist nicht so. Das ist irre und wahnsinnig und hat nichts mit Vergebung zu tun. Denn sieh es mal richtig herum: kannst du einem Mörder wahrhaftig vergeben, wenn er dein Kind getötet hat? Und ich rede hier von wirklich getötet. Es wird nie wiederkommen. Er hat es dir weggenommen und ihm auch noch wehgetan. Lucy, wenn das die Wahrheit wäre, dann wäre Vergebung unmöglich. Dann wäre jeder Schmerz wahr und unwiderruflich geschehen. Dann würde es wohl keinen einzigen Menschen geben, der nicht letztendlich für seine Übertretung der zehn Gebote in der Hölle landen würde. Und es würde bedeuten, dass Gott ein rachsüchtiger Schöpfer wäre, der selbst auch töten könnte. Lucy, er könnte töten, was er in Liebe erschaffen hat. Das ist so verrückt und so paradox. Leben ist von ihm und er erschafft nur wie sich selbst. Also kannst auch du nur leben und lieben. Alles andere ist lediglich in einer Fehlschöpfung möglich, die nichts ist. Sie ist nichts als ein Traum, den du meistens als sehr real erlebst. Doch dieses reale Leben, das lebt um zu sterben, ist reine Science Fiktion. So, und jetzt erzähle ich dir, was wahre Vergebung ist. Vergebung, die der Schlüssel zum Erwachen ist. Deine Fahrkarte in die Freiheit. Du vergibst lediglich, was ein anderer und du nicht getan habt. Du vergibst deinen Traumgestalten, deinen Filmsequenzen, deinen Projektionen. Nur dein Erwachenwollen aus einem tiefen Schlaf, lässt dich langsam aber sicher erkennen, dass deine Augen täuschen und deine Ohren falsch hören. Letztendlich ist dir irgendwann klar, dass du eine Rolle in deinem eigenen inszenierten Stück spielst und jeder deiner Co-Mitspieler nur gemeinsam mit dir agiert. Wenn du wirklich und wahrhaftig erkennst, dass alle scheinbaren Taten, die guten und die bösen, die von dir begangenen oder von anderen, nicht echt sind, weil sie nichts Echtes bewirken können, dann lässt du sie vergehen. Du vergibst dir selbst für dein falsches Sehen und lässt alles in Liebe heilen.“

Er lehnt sich entspannt auf dem Stuhl zurück und isst einen der Vanillekipferl.

„Hm“, macht Lucy und versucht, die ganzen Informationen zu verarbeiten, „aber wie erkenne ich denn, dass ich etwas verursache und nicht der andere?“

„Du wirst alles besser verstehen lernen und zwar noch bevor du unten auf der Straße angekommen bist, Liebes. Aber um es ein für alle Mal deutlich zu machen: du bist für alles verantwortlich was du siehst und erfährst. Du willst nicht mit dieser Schuld leben, projizierst sie heraus und siehst sie dann in anderen, die scheinbar die unmöglichsten Dinge tun. Dann versuchst du das Außen zu verändern, was aber nicht den erwünschten Effekt hat. Wenn du deine Lektionen nicht lernst und nicht vergibst, wirst du wieder in ähnliche Situationen kommen. Stell dir vor, dein Gesicht ist schmutzig und anstatt es zu waschen, guckst du es dir im Spiegel an und putzt ihn energisch, in der Hoffnung, der Dreck würde so verschwinden.“

Lucy muss lachen und Josua erwidert: „Ja, das ist zum Lachen, weil es so ein klares Beispiel ist. Doch in deinem Leben siehst du das ganz anders und das, obwohl es in Wahrheit nichts anderes ist. Stattdessen wunderst du dich, warum dir wieder und wieder so ein Mist passiert, du ständig auf dieselbe Art von Mensch hereinfällst. Jetzt weißt du es und kannst das verändern. Doch kommen wir auf die Beziehungen zurück. Vergib mir als erstes, Lucy. Dann können wir den nächsten Schritt wagen.“

Sie zieht eine Braue nach oben und stutzt. Als er nichts weiter tut als zu lächeln, fragt sie ihn: „Warum um alles in der Welt, sollte ich dir denn vergeben? Du warst doch ein guter und heiliger Mann als Jesus. Das verstehe ich nicht.“

„Gut und heilig passen schon mal gar nicht zusammen“, lächelt er, „gut impliziert immer auch böse. Nur Egos können gut sein - in einem Traum. Heilig trifft es genau. Doch nicht, weil ich etwas Besonderes war, sondern weil ich selbst erkannt hatte, dass ich träumte, in Wahrheit weiterhin reiner Geist war, untrennbar von allen andern und damit ganz. Ganz bedeutet, ich war und bin heil. Heilig kommt von heil. Meine geistige Gesundheit war wiederhergestellt. Ich bin nicht als Erlöser der Welt gekommen – zumindest nicht als Erlöser deiner Welt, Lucy. Ich habe meine Welt erlöst. Die Welt, die ich mir als Kulisse erschaffen habe. Ich habe alles um mich herum, mich eingeschlossen, in Frage gestellt, solange, bis der Frieden eingekehrt ist. Ich war lediglich ein Vorbild, weil ich all das einfach gelehrt und dabei gelernt habe, um aufzuwachen. Lucy – ich bin aufgewacht. Es ist nicht mehr und nicht weniger. Wenn deine falsche Vorstellung von mir nun heilen kann, dann können wir weitergehen und zwar so weit, dass deine Heilung beginnen kann. Willst du das?“ Lucy schaut ihn an. Diesen jungen und wunderschönen Mann. Erst jetzt fällt ihr auf, dass nicht nur seine Augen leuchten, sondern auch seine Haut, seine wuscheligen Haare. Vor allem ist es dieses Leuchten, dieses Innere nach außen kehren, was ihn so schön sein lässt.

„Ja, ich will das wirklich. Du bist nicht für die Welt gestorben, hast dich nicht aufgeopfert. Ich bin mir sicher, dass kein Schöpfer so etwas von seiner Schöpfung verlangt. Oh Mann, das leuchtet mir total ein, und es gibt mir so eine Sicherheit. Und mir wird klar, dass es egal ist, ob ich Gott sage oder Vater oder Allmacht oder Liebe… Liebe ist im Moment das Wort, das mir am meisten weiterhilft…“, sagt sie, und ihr geht es dabei besser denn je.

„Dann sage auch Liebe. Was dir hilft in den Frieden zu kommen und die Wahrheit aufdämmern zu lassen, ist die richtige Wahl“, lächelt er.

„Ich habe das Gefühl, dass ein uralter Denkfehler, der Grausamkeit und Opfer im Zentrum hatte, gerade aufgelöst wird. Ich danke dir Josua – Jesus… für diese Ehrlichkeit und für meine ganz neue Wahrnehmung deiner Person…“, flüstert sie und eine wärmende Woge des Glücks umhüllt sie sanft. Seine Haut wirkt immer strahlender. Irgendwann ist da fast nur noch Licht. Und mit diesem Licht wird ihr eigener Körper immer unwirklicher. Sie kann noch seine sanften Augen erkennen und hört sehr leise seine liebevolle Stimme: „Danke…“ – und den Bruchteil einer Sekunde später fällt Lucy weiter.

Lucy fällt

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