Читать книгу Lucy fällt - Gaby Mrosek - Страница 9

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19. Etage – Die Kommode

Wieder pfeift der kalte Wind um Lucys Ohren. Wieder zuckt eine tiefe Angst durch ihren ganzen Körper. Wieder bleibt sie einfach mitten in der Luft hängen. Dieses Mal ist es nicht kopfüber, sondern beinahe aufrecht mit den Füßen nach unten. Sie nimmt die Tiefe unter sich wahr und wird sogleich erneut in den Farbwirbel gezogen, der sich in ein helles einladendes Licht verwandelt. Unendlich sanft landet sie mit den Zehenspitzen zuerst, einer Ballerina gleich, auf einem hellbraunen Dielenboden.

Für einen kurzen Augenblick bleibt sie wie angewurzelt stehen. Sie schaut an sich hinunter und stellt fest, dass sie wieder ihre Winterjacke trägt und auch der Pullover schaut ein Stück hervor. Beides hatte sie doch zum Backen ausgezogen. Wie kommt das alles nur zustande? Das muss einfach ein Traum sein! Ein ziemlich verrückter zwar, aber ein Traum.

Aufgeregt schaut sie sich um. Was wird jetzt wohl passieren? Sie scheint sich in einem alten Haus zu befinden. Der Holzboden knarzt unter ihren Schritten, die sie vorsichtig Richtung altehrwürdiger Treppe macht. Links von sich sieht sie eine aufwendig mit Intarsien verzierte Tür; rechts eine großzügige Flügeltür mit geschliffenen Glasfenstern in der Mitte.

Vor der Treppe bleibt sie stehen und lugt in die erste Etage hinauf. Viele alte Gemälde mit Porträts feiner Leute und auch Landschaften hängen an der Wand des Aufganges.

„Josua?“, ruft sie hinauf.

Nichts passiert. Sie ruft ein weiteres Mal: „Jesus?“

„Da bist du ja, Liebes!“, dröhnt eine weibliche Stimme hinter ihr, und sie schießt erschrocken herum. Eine der Flügeltüren steht offen und eine stattliche dunkelhäutige Frau in Dienstkleidung steht darin und grinst breit. Lucy hat sie noch niemals zuvor gesehen, aber sie fühlt gleich eine große Zuneigung. Langsam steuert sie auf die Frau zu.

„Wo ist Josua?“, fragt sie vorsichtig. Es klingt fast schüchtern.

Die Frau beginnt herzhaft zu lachen. Statt die Frage zu beantworten, erwidert sie einfach: „Komm in den Salon, Lucy.“

Sie macht eine einladende Handbewegung, und so huscht Lucy schnell durch die Tür. Innen sieht es aus, als sei die Zeit im 19. Jahrhundert stehengeblieben. Sämtliches Mobiliar sowie Tapeten und Bilder wirken alt. Aber nicht alt im Sinne von abgenutzt und aufgebraucht. Denn das trifft ganz und gar nicht zu. Es riecht auch nicht muffig wie in einem typischen Museum, in dem man Räume aus längst vergangener Zeit bestaunen kann. Nein, es ist einfach altmodisch und gleichzeitig unbenutzt, frisch eingerichtet sozusagen.

„Setz dich, Liebes“, fordert die Dame Lucy auf, „nachdem du Tee und Plätzchen hattest, frage ich dich, ob du dennoch etwas trinken oder essen möchtest. Deine Reise nach innen macht durstig und hungrig, was?“

Sie zwinkert Lucy heiter entgegen und diese fragt sich, ob das wohl ernst gemeint war mit der Hungrigkeit durch Innenreisen.

„Nein danke“, antwortet sie höflich und setzt sich etwas steif auf das beigefarbene Chaiselongue. Die Frau lässt sich auf den Polstersessel gegenüber sinken und streicht ihre Dienstmädchenschürze glatt. Dann ist es ganz still. Lediglich die große Pendeluhr tickt in einem beruhigenden Rhythmus.

„Wann kommt denn Josua?“, fragt Lucy nach einer gefühlten Ewigkeit vorsichtig.

„Hm“, macht ihr Gegenüber und schaut sie sanft mit unendlich liebevollen braunen Augen an. Lucy fühlt deutlich, dass sie ihr etwas mitteilen wollen. Also senkt sie nicht ihren Blick, sondern erwidert ihn. Tiefe Wärme durchströmt sie. Es fühlt sich an, als sei sie dieser Person mit kaffeebrauner Haut und mittleren Alters sehr vertraut. Sogar noch mehr als das….

„Wo ist denn Josua?“, flüstert Lucy sehr leise, ohne ihre Augen abzuwenden.

„Bei dir natürlich“, erwidert die Frau ebenso leise.

„Hier – in diesem Raum?“, fragt Lucy mit klopfendem Herzen.

Die Frau nickt einfach nur mit einem ganz entspannten Lächeln.

„Du…..“, raunt Lucy. Mehr kommt nicht über ihre

Lippen. Die Frau steht auf und setzt sich ganz dicht neben sie auf das Chaiselongue. Sie greift Lucys Hand und antwortet: „Ja, ich bin Josua. Und bevor du jetzt wieder die ganzen Fragen stellst - du weißt schon, diese Art von Fragen auf dem Berg - erkläre ich es dir jetzt sofort. Ich benutze keinen Körper mehr. Eigentlich. Ich habe diesen vor langer Zeit abgelegt, weil ich selbst kein Egodenksystem mehr für mich gemacht habe. Auch zeige ich mich den Menschen nicht körperlich. Das, was du jetzt siehst, sind Bilder in deinem Geist. Ich bin ein Gedanke in deinem Geist. Ich, dein Bruder, bin untrennbar eins mit dir. Erinnere dich an den Teig. Ich bin ein wahrer und ewiger Gedanke, eine schöpferische Ausdehnung des Vaters. Genauso wie du. Aber eben nur du. Nicht dein erdachtes System, deine Rolle, dein Körper, dein Menschsein, deine Persönlichkeit. Du, in deiner ewigen Reinform – in Liebe und Ewigkeit. Du fühlst das alles noch nicht wirklich. Du hörst das alles zum ersten Mal und identifizierst dich noch ganz und gar mit dem Manuskript der Lucy. Das ist der Grund – und der einzige Grund – weshalb du noch Körper siehst und sie dir aus Lernzwecken dienlich sind. Jetzt sehe ich für dich aus wie eine Dienstmagd und ja, ich bin weiblich und wir schreiben ein anderes Jahrhundert. Alles das sind Ideen in deinem Geist, und wir nutzen das jetzt. Ich wiederhole: du lernst auf deinen Wunsch hin, bis du zu Füßen deines Hochhauses angekommen bist.“

„Oh, Josua!“, seufzt sie und dann fragt sie erschrocken: „Darf ich dich überhaupt Josua nennen? Ich meine, du bist jetzt eine… Frau?!

„Nein, Liebes, ich bin keine Frau. Ich verwende nur einen weiblichen Körper, damit du dich nicht auf diesen Fleischklops fixierst. Der junge Mann aus den Sequenzen davor war dir lieber, nicht wahr? Du fandest ihn ziemlich attraktiv…“, sie lacht amüsiert, besonders, weil sie sieht, dass sie voll ins Schwarze getroffen hat. „Ich bin kein Körper. Nimm mich so, wie ich bei unseren Treffen auftrete. Das dient nur zu deinem Besten. Lass dich niemals von einer Hülle täuschen. Ach, und ja, du darfst Josua zu mir sagen. Das ist sogar völlig in Ordnung.“

Lucy atmet tief durch. Dabei hält sie ihre Augen geschlossen. Ihre Logik, ihr Verstand, schlägt Purzelbäume und versucht irgendwelche Puzzleteile zusammenzusetzen, die gar nicht zusammengesetzt werden können. Sie hat nur zwei Möglichkeiten: entweder alles skeptisch zu hinterfragen und hierbei nicht mitmachen zu wollen, weil es so irre ist, oder auf ihr Gefühl zu hören, das genau in der Bauchmitte ganz warme Wellen wirft. Liebe durchströmt sie da und eine Ahnung, dass sie ihre Monster anschauen muss, wenn sie etwas lernen will, das sie aus ihrer selbstgemachten Hölle befreit. Ihr wird gerade deutlich klar, wie sehr sie Menschen nach der Optik beurteilt. Ja, da ist eine Enttäuschung, weil er sich nicht mehr als äußerst attraktiver junger Mann zeigt, sondern als dickliche Frau, mittleren Alters. Und nein, das will sie nicht mehr.

„Josua, sag mir, was du mir in diesem Haus zeigen möchtest“, bittet sie.

„Du bist wahrhaftig bereit, Liebes. Bevor ich dir gleich etwas sehr Wichtiges zeige, geht es noch einmal in einen theoretischen Teil. Dann bist du endgültig vorbereitet. Und zwar so gut, dass wir endlich loslegen können.“ Ein Lächeln zieht sich über das volle schwarze Gesicht, und es ist so einladend, dass Lucy meint, ein Leuchten zu erkennen. Trotzdem hakt sie nach: „Aber ich dachte, wir hätten schon längst losgelegt. Ich war schon in der Berghütte und habe die Teigmetapher gelernt. Ich habe meine Beziehung zu dir überdacht und bemerkt, dass ich ganz neu auf all die Religionen, die stark begrenzen und gar nicht liebevoll sind, schauen sollte. Ich habe dich als Bruder akzeptiert und habe dich…hm…darf ich es sagen? Ich habe dich vom Kreuz genommen – in meinem Geist…“

„Juchu Lucy!“, freut sich Josua und umarmt sie so herzlich, dass ihr vor lauter Glück ganz warm ums Herz wird.

„Das ist genau der richtige Ausgangspunkt. So kann ich dir hilfreich zur Seite stehen. So bin ich dir ganz nahe – näher noch als dein Herz. Und dass du diese Dinge tatsächlich jetzt aussprichst, zeigt mir deine Bereitwilligkeit. Dennoch waren alle Sequenzen, die du während deines Fallens erlebt hast, bis jetzt lediglich Vorbereitungen. Dein Geist muss felsenfest überzeugt sein, dass er heilen will in all seinen scheinbaren Außenbeziehungen. Vertrauen ist das aller wichtigste. Du vertraust mir doch?“

„Und ob ich dir vertraue!“, ruft sie aus.

„Ich habe erstens schon lange nicht mehr so intensiv etwas gewollt, wie zu heilen und nochmal neu auf alles zu schauen, und zweitens habe ich noch nie jemandem so sehr vertraut wie dir gerade…“

„Dann geht es jetzt wirklich los, Lucy – Lichtträgerin…“, Josua schaut sie noch einmal prüfend an und sagt feierlich: „Du bist bereit. Dann lehn dich entspannt zurück und höre mir gut zu.“

„Okay, Bruder Josua“, lacht sie heiter und spitzt ihre Ohren.

„Glaubst du, dass es irgendein lebendiges Wesen in dieser Welt gibt, das nicht früher oder später mit Leid konfrontiert wird? Egal ob es sich dabei um das eigene Leid oder das eines anderen handelt? Die Formen können dabei stark variieren. Bei dem einen ist es eine schwere Krankheit oder auch nur ein leichter Schnupfen. Bei dem anderen handelt es sich um den Verlust eines geliebten Menschen durch Tod oder ganz einfach, weil dieser nicht mehr mit ihm sein will. Leid hat viele Facetten und unzählige Nuancen. Und sehr oft begegnet es dir so geschickt verkleidet, dass du es nicht einmal als das, was es ist, erkennst. Nehmen wir das Beispiel Essen. Stell dir vor, dein Magen knurrt, du hast richtig starken Hunger. Du bist aber in einer halben Stunde mit deinen Freunden in deinem Lieblingsrestaurant verabredet. Und du freust dich auf deine Lieblingspizza und ein gutes Glas Rotwein. Da steckst du doch dein Hungrigsein locker weg, oder? Schließlich erwartet dich gleich etwas Schönes: deine lieben Freunde, das tolle Ambiente und natürlich richtig gutes Essen. Da lohnt es sich zu warten. Was merkst du nicht? Dass du leidest! Jetzt und genau in diesem Augenblick leidest du. Es gibt in Wahrheit nur diesen einen Augenblick. Wo du noch in deinem Büro sitzt, einen letzten Bericht für heute fertig tippst und dein Magen laut rumort, was sich nicht gut anfühlt. Die Abbildung des italienischen Essens in deinem Geist ist eben nur was sie ist: ein Bild. Genau das ist eigentlich die Art und Weise, wie die gesamte Menschheit ihr körperliches Leben fristet: der Wecker weckt dich am Morgen, du bist noch so müde – Leid. Du frierst, wenn du aus der Dusche kommst – Leid. Die Allergie lässt deine Augen brennen – Leid. Der Nachbar hat dich vor der Haustür gar nicht nett gegrüßt – Leid. Zwei Stunden nach dem Frühstück hast du schon wieder Hunger – Leid. Du isst etwas, obwohl du ja eigentlich ein paar Kilos abspecken wolltest – Leid. Und dann kurze Wohlfühloasen darin: Mitten in der Hungerattacke bekommst du eine süße WhatsApp Nachricht von deinem Partner oder den Anruf aus der Arztpraxis, dass die Blutwerte alle in Ordnung sind. Und so merkst du gar nicht, dass du dich mehr schlecht als recht durchs Leben hangelst.

Jedes Menschlein, kommt irgendwann an den Punkt, an dem es alles in Frage stellt, an dem es sich fragt, wozu das alles gut sein soll. Oft ist es in der Mitte deines Lebens, in der du innehältst und einen neuen Weg suchst. Auch wenn es dir bereits mit fünf oder erst mit 85 dämmern kann. Wenn du dann tatsächlich genau an diesem Punkt angelangt bist, gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder du wendest dich schnell wieder der Tagesordnung zu und überdeckst all das mit so viel Illusionen wie eben möglich oder du wählst eine neue Art des Sehens. Wenn du wahrhaftig bereit bist umzudenken, dann bekommst du wie von Zauberhand sofort eine Hilfestellung, die du benutzen kannst und die für dich persönlich zugeschnitten ist. Ja, es ist wirklich so: du entscheidest den Zeitpunkt der Umkehr aus allem Leid in vollkommene Liebe. Mit dieser Entscheidung kommt auch alle Hilfe, um das Ziel zu erreichen. Du musst sie nur erkennen und deine Vorstellungen von Hilfe mal ganz schnell über Bord werfen. Denn dieses Raustreten aus dem alten Leben fühlt sich nicht zwangsläufig gut an. Du wirst vielleicht sogar denken, von dir würden Opfer verlangt werden. Letztlich ist es so, dass du bemerkst, dass es da zwei Glaubenssysteme gibt, die nicht zeitgleich bestehen können, weil sie ganz andere Ansätze haben und sie niemals kombiniert werden können, wie dieses schöne alte Beispiel der Schwangerschaft: ein kleines bisschen schwanger geht nicht. Entweder schwanger oder nicht schwanger. Um es deutlich auszudrücken, du entscheidest dich entweder für die Liebe oder die Angst. Entweder - oder. Ganz oder gar nicht. Beides zusammenzubringen ist absolut inakzeptabel. Es geht einfach nicht. Da wo Angst ist, ist die Liebe fern, und da wo die Liebe ist, gibt es keine Angst. Beides kannst du nicht gleichzeitig fühlen und sein, denn das eine leugnet das andere. Punkt.

Wie also kannst du vorgehen, wenn du alles Leid nicht mehr willst - egal, um welche Form es dabei geht? Tatsächlich wirst du als erstes bemerken, dass du statt des Leides eigentlich nur das eine ersehnst: und das ist Frieden. Frieden ist das höchste Ziel, das du als scheinbarer Mensch auf Erden erreichen kannst, und es ist so wundervoll, wenn Heilung um dich herum geschieht. Wenn du im Frieden bist, dann kannst du diesen Frieden auch geben. In jeder Aufruhr kannst du ihn ausdehnen. Das ist deine eigentliche Aufgabe in einer verrückten Welt des Chaos. Alles gut und schön. Doch wie kommst du in diesen tiefen Frieden? Nun, zuallererst gilt es, eine echte Bereitwilligkeit aufzubringen. Ohne deinen Willen geht gar nichts. Du musst dann tatsächlich jeden Wert in Frage stellen, den du jemals für dich entworfen hast. Und hier möchte ich gerne mit einem greifbaren Beispiel beginnen. Hast du Lust, das mit mir zu teilen? In ein kleines Gedankenschauspiel einzutauchen?“, Josua hält inne und schaut Lucy prüfend an. Diese nickt hochkonzentriert und sehr neugierig.

„Gut“, fährt sie fort, „dann stell dir einmal eine Kommode vor. Eine richtig große Kommode mit vielen kleinen Schubladen darin. Und wie das so mit Schubladen ist, kann man sie unterschiedlich füllen. Je nachdem wo die Kommode steht, befinden sich die verschiedensten Dinge darin. Im Schlafzimmer sind es vielleicht Unterhosen, T-Shirts, Socken oder Schmuck. In einer Apotheke vielseitige Medikamente, chemische oder auch pflanzliche oder ausschließlich Homöopathische. In jeder Schublade sozusagen Fläschchen mit Globuli ganz im Sinne des Vaters Hahnemann. So manch unordentlicher Teenager benutzt den Schrank, um alles Mögliche an Zeug ganz unachtsam hineinzustopfen. So unachtsam, dass er nichts wieder findet, weil ganz einfach eine Ordnung fehlt und das Chaos herrscht.

Stell dir jetzt vor, dass du nicht der Besitzer, sondern du diese Kommode selbst bist. Ganz einzigartig in ihrer Struktur, ihrem Material, ihren Griffen und auch in ihrer Anzahl an Schubfächern. Mit du meine ich dich, deinen Geist, der eine Welt um sich herum zu verstehen versucht, die eigentlich gar nicht verstanden werden kann. Um sie dennoch irgendwie greifen zu können, beginnst du, alles im scheinbaren Außen in Schubladen zu verstauen. Na klar, das kommt dir bekannt vor. Denn es heißt ja nicht umsonst Schubladendenken. Und wenn du jetzt glaubst, du bist tolerant, weil du eben nicht so ein enges Weltbild zu haben scheinst, dann sage ich dir: Lass dich nicht täuschen. Denn deine Toleranz ist nichts weiter, als eine etwas größere Schublade, in die ein wenig mehr hineinpasst und die trotzdem von allen anderen Fächern getrennt ist, in denen du andere Kategorien abgelegt hast. Wenn du irgendwann einmal beschließt, dass du all den Kram aufräumen solltest, du mit leichterem Gepäck reisen möchtest und es tierisch schmuddelige Ecken im Inneren gibt, dann ziehst du die erste Schublade auf. Es wird mit größter Wahrscheinlichkeit eine sein, von der du weißt, dass du dich leicht vom Inhalt trennen oder ihn neu sortieren kannst. Das ist völlig in Ordnung. Vielleicht ist in dieser ersten Schublade deine Sammelleidenschaft. Du erkennst, dass du nichts wegwerfen kannst und dieses Fach quillt über und zieht dich belastend nach unten. Und während du entsetzt bist über all das Zeug, das dich echt zu binden scheint, dämmert es dir. Du willst das alles nicht. Und nun gilt es sehr achtsam zu werden. Während du vielleicht tatsächlich eine große Aufräumaktion startest, dich frei machst von allem Kram und unnötigem Gerümpel, solltest du eins verstehen – nämlich: All diese Materie ist weder gut noch schlecht. Sie ist bedeutungslos. Es bringt dir nichts für deinen Geistesfrieden, wenn du glaubst, Geld, ein Haus, ein schönes Auto usw. seien schlecht. Oder gut. Nein, wenn du all das loslässt, ich meine im Geist loslässt, dann kappst du deine Bindung daran. Dann spielt es für deinen Seelenfrieden keine Rolle, ob du stinkreich bist oder nur sehr wenig hast. Du nimmst die Situationen so, wie sie gerade zu sein scheinen. Es gibt sehr wenige Multimillionäre die, wenn sie von heute auf morgen all ihre Kohle verlieren würden, genauso glücklich wären, wie mit Reichtum. Ebenso gibt es sehr arme und dennoch glückliche Menschen, die, wenn sie plötzlich viel hätten, einfach glücklich blieben. Bei den meisten ist es allerdings so, dass sie wie ein Esel der Karotte hinterherlaufen und sich sagen: „Wenn ich erst den tollen Job habe und mehr Geld und wenn der Urlaub kommt, dann bin ich im Frieden.“

Hand aufs Herz: Ist das wirklich so? Wie lange hält denn das Glück mit dem Traumpartner und dem Traumjob und der Kohle ohne Ende an? Schau dich um in der Welt. Diejenigen, die alles erreicht haben und bemerken, dass sie nichts weiteres mehr erreichen können, wenden sich entweder nach innen, um endlich zu finden, oder sie bringen sich um, langsam durch Drogen, Alkohol oder sonst einen Stoff oder sofort, indem sie Suizid begehen. Und die Armen, die noch so viel hier erreichen wollen, rennen weiter der Karotte hinterher, bis auch ihr menschliches Leben ein Ende hat.

Zurück zur Schublade deiner Kommode. Du ziehst sie auf, schaust dir genau den Inhalt an und begreifst, dass du das alles nicht benötigst - du keine Bindung mehr brauchst. So machst du es Schublade für Schublade. Du ziehst sie auf, nimmst sie sogar ganz heraus und betrachtest Stück für Stück. Dann legst du es weg. Sicher ist dir jetzt klar, dass du andere Dinge in deiner Kommode hast als jemand anderes. Manches ist vielleicht gleich oder gleichartig. Doch das, was du nun tust, ist dein ganz persönlicher Job. Es gibt niemanden da draußen, der für dich aufräumen kann. Niemanden. Du wirst Menschen begegnen, die eine ähnliche Kommodenzusammensetzung haben wie du. Sie haben nur eine andere Anordnung und Art mit den Dingen umzugehen. Mit diesen wirst du tiefe Begegnungen haben, weil sie dir direkt deine Schmuddelecken zeigen, die auch ihre sind, die sie nur versteckt halten, in einem anderen Fach. Wenn du das begreifst, wirst du im Außen niemanden mehr beschuldigen, sondern weiter und weiter deine Kommode ausräumen. Du übernimmst Verantwortung dafür und nur du. Wenn du vor deinem leeren Schrank stehst, dich erleichtert fühlst, weil du alle Bindung an unnötigen Kram losgeworden bist, dann willst du plötzlich nichts mehr haben. Du lässt los und erkennst dich unerwartet in einem anderen. In dem der - ebenso wie du - leer von klebrigem Zeug und Abhängigkeiten ist. Dann sind in euch auch keine Unterschiede mehr. Heißt leer denn nun hohl – ohne etwas sein? Nichts, ein Loch? Nein, natürlich nicht. Wenn du deine selbstbelegte Kommode, deinen Geist, der all den weltlichen Kram in sich trägt, leerst, dann kann Liebe einströmen. Die nämlich gehört dort hinein. Die bist du und hast sie nur zur Seite gedrängt. Liebe fließt frei und heilt so alle Trennung, die niemals echt war, sondern einfach nur eine falsche Entscheidung deines Geistes.

Sehr wichtig zu erwähnen ist wohl noch, dass du auch deine spirituelle Schublade gründlich auszumisten hast. Oft bekommst du gar nicht mit, wieviel Unsinn du gerade dort gelagert hast, von Verleugnung über Verdrängung und Vernebelung oder ein schlichtes Sichbetäubenwollen. Denn wenn du nun alles, was je in der Kommode war, einfach leugnest und es dir nicht ganz genau anschaust, bevor du es entlässt, dann hast du lediglich den Inhalt der Schubladen in einen großen Müllsack gesteckt und ihn neben deine Kommode gestellt. Der Sack ist weiterhin ein Teil von dir. Bleibe praktisch in dieser, in deiner Welt. Ja, es ist deine Welt, die um dich herum. Kümmere dich um sie in Liebe und entbinde dich. Du kannst sehr wohl alles dir gegebene nutzen ohne einen Hauch von Bindung daran.

So, und nun wünsche ich dir viel Spaß beim Entrümpeln deiner Kommode. Vergiss nicht, es ist deine ureigene Aufgabe, und nur du kannst sie erfüllen.“

Dann ist es still im großen Salon. Wieder hört man nur das Pendel der Uhr. Schließlich bricht Lucy ihr Schweigen: „Ich will sie erfüllen. Meine Aufgabe. Aber wie entrümpele ich diese Kommode?“

„Indem du mir folgst, Liebes“, antwortet Josua und steht beschwingt auf. Sie verlässt das Zimmer, biegt nach rechts und geht zügig die steile Treppe hinauf. Lucy folgt aufgeregt.

Oben angelangt gehen sie hintereinander durch einen schmalen Flur, dessen Wände weiße Stofftapeten mit Liliendruck zieren. Kerzen brennen in Haltern am Ende des Ganges. Josua öffnet die letzte Tür vor Kopf und beide treten ein.

Der Raum ist groß und leer. Es gibt ein riesiges Fenster und darunter ein einziges Möbelstück: eine alte zerschlissene Kommode mit unzähligen kleinen Schubladen. Jede dieser Schubladen hat eine andere blasse Naturfarbe – falls noch Farbe vorhanden ist, denn einige sind so verkratzt, dass man den Ton höchstens noch erahnen kann. Von weitem wirkt sie insgesamt rötlich.

Josua bleibt mitten im Zimmer stehen und macht mit dem untersetzten Kinn eine Bewegung Richtung Schrank. Lucy zögert zunächst. Dann geht sie vorsichtig, als würde sie sich einem Raubtier nähern, auf die Kommode zu.

„Und die soll ich aufräumen? Ist das meine Aufgabe in Etage 19?“, fragt sie zögerlich. Gleichzeitig denkt sie an die Metapher von gerade. Da hat Josua gesagt, der Geist sei die Kommode.

„Ja Liebes“, nickt sie, „dein Geist ist sozusagen diese Kommode. Aber vergiss nicht, dass du in Bildern denkst. Auch deine Zwischenstationen, beim freien Fall von einem Hochhaus, sind lediglich Bilder. Wir nutzen jetzt einfach deine Träume, um zu heilen. Ist das für dich in Ordnung?“

„Ja ja…klaro“, entgegnet sie, „ich vertraue dir und will mich auf die Dinge einlassen, die von dir kommen. Ich denke, du bist der beste Führer, den ich je hatte. Und….“

„Und dir bleibt auch gar nichts anderes übrig, wenn du dich für das Leben entscheidest“, zwinkert Josua ihr aufmunternd zu, „allerdings ist auch das nur eine Scheinwahl. Letztendlich steht der Tod nicht wirklich zur Wahl – nur in einem Spiel. Du räumst deine Beziehungsschubladen auf. Und wir zwei treffen uns in diesem Zimmer zwischendurch, ab und zu, mal wieder. Hier, in dem alten Haus, ist dein Basislager.“

Lucy ist verunsichert, weil sie gar nicht genau weiß, was sie nun zu tun hat. Josua bemerkt das natürlich und fordert sie auf, sich die Kommode genauer anzuschauen.

„Zieh die erste Schublade einfach auf, sagt sie aufmunternd, „einfach irgendeine. Es wird die richtige sein…“

Lucy zögert dennoch. Vorsichtig greift sie einen der messingfarbenen Griffe in der oberen Reihe und zieht sie ganz langsam auf. Es ist gar nicht so einfach, das alte Holzding zu bewegen, weil es verzogen ist und dadurch klemmt. Lucy spürt, wie ihr Atem schneller geht und ihr Herz pulsiert als hätte sie einen Marathon hinter sich. Mit einer rappelnden Bewegung zieht sie die Schublade auf und schaut hinein. Ein einziges Foto liegt darin – es ist ein Bild von Raffael. Lucy erschrickt und will protestieren. Doch bevor ein Laut aus ihrer Kehle tritt, verschwimmt der Raum vor ihren Augen. Sie nimmt einen Hauch des sanften Lächelns Josuas wahr. Dann beginnt das Fallen erneut – dieses schreckliche Fallen vom Hochhaus.

Lucy fällt

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