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2. Kapitel:

„Wird´s besser, wird’s schlimmer? fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich.“ Erich Kästner

Der Alltag in der Klinik spielt sich für mich langsam ein. Vormittags treffen sich nach dem Frühstück in der Regel die Patienten auf dem Flur. Alle, die dazu in der Lage sind, bringen ihr Essenstablett selbstständig zurück und stellen es in den dafür vorgesehenen Wagen.

Der Flur ist über 60 m lang und eignet sich somit ganz gut für Spaziergänge. Bewegung ist wichtig, denn ansonsten erschlaffen die Muskeln sofort. Es gibt auch ein Ergometer auf dem Flur, das von den Patienten gut genutzt wird. Andere Möglichkeiten gibt es darüber hinaus kaum, denn nach der Chemo dürfen die Patienten die Station eine ganze Weile nicht verlassen. Das Knochenmark wird zerstört, die Anzahl der Leukozyten, Thrombozyten und die der roten Blutkörperchen sinkt. Die Infektgefahr ist in dieser Zeit immens. Man bezeichnet diese Phase auch als Zelltief. Ist die Anzahl der Thrombozyten gering, funktioniert die Blutgerinnung nicht richtig. Das kann zu inneren Blutungen führen. Ist die Anzahl der roten Blutkörperchen gering, fühlt man sich schlapp und müde. Thrombozyten und rote Blutkörperchen werden durch Transfusionen wieder aufgefüllt, wenn es notwendig ist. Die Leukozyten dagegen kann man nicht auffüllen. Sie sind für die Abwehr zuständig und müssen sich selbstständig wieder aufbauen. In der Zeit des Zelltiefs muss man sehr vorsichtig sein und darf das Zimmer nur mit Mundschutz verlassen. So weit ist es bei mir aber noch nicht.

Im Gespräch mit Herrn Jost an einem Morgen sage ich: „Wenn ich hier raus bin, kann ich wohl auch als Ärztin arbeiten.“ Er versteht, was ich meine, kann mir aber doch nicht ganz zustimmen und meint, es wäre schade um sein Studium…

Als meine Freundin Sonja mich besucht, ist es so weit. Eine Schwester erscheint und sagt, dass meine Leukozyten unter 1000 seien. Somit muss Sonja sofort einen Mundschutz umbinden. Ab jetzt müssen alle Besucher ihre Hände desinfizieren und einen Mundschutz anlegen, bevor sie mein Zimmer betreten. Ich selbst darf das Zimmer nur mit Mundschutz verlassen.

Sonja hängt ein Bild auf, das ihre Tochter für mich gemalt hat. Es sind darauf bunte Blumen zu sehen, es ist ein sehr fröhliches Bild. Etwas später bringt Gudrun ein Bild ihres Sohnes mit, welches einen Weihnachtsmann und einen Elch darstellt. Auch das finde ich richtig gelungen. Jetzt ist zumindest meine Wand schön dekoriert.

Auch die Fensterbänke füllen sich in den nächsten Wochen mit zahlreichen Geschenken. Schutzengel, Adventslichter, Bücher, CDs, Kekse, Schmuck und noch einiges mehr ist vertreten. Alle meinen es sehr gut mit mir, aber manchmal glaube ich, unter all dem zu ersticken. Es ist mir zu viel! Aber die Leute bringen es oft nicht fertig, ohne ein Geschenk in der Hand zu kommen. Vielleicht haben sie das Gefühl, ansonsten nicht viel tun zu können. Dabei helfen sie mir am meisten mit ihrer Anwesenheit und Gesprächen. Manchmal ist mir auch das zu viel, obwohl ich mich über die Besuche schon sehr freue. An einigen Tagen geben sich meine Familie und Freunde jedoch die Klinke in die Hand und gerade kurz nach der Chemo ist das einfach anstrengend. Außerdem ist mir ständig übel, und ich bekomme diverse Medikamente gegen Übelkeit, aber oft hilft alles nicht wirklich.

Letztlich läuft eben Gift durch meinen Körper und das ist auch zu spüren! Meine Haare halten sich anfangs noch ganz gut, aber nach etwa zwei Wochen liegen dann doch die ersten Haare auf dem Kopfkissen, und mir wird ganz anders.

Manchmal tritt auch Fieber auf und dann wird immer meine Lunge geröntgt. Da ich die Station eigentlich nicht verlassen darf, muss ich zu diesem Zweck eine besondere Maske tragen. Der Träger macht mich darauf aufmerksam. Er holt auch gleich eine. Ich gucke das Teil an und denke „oh nein“, binde es dann aber gehorsam um. In der Röntgenabteilung blicke ich in einen Spiegel und sehe…. einen Außerirdischen! Ab sofort heißt die Maske bei mir nur noch Alien-Maske. Ich werde sie noch öfter tragen müssen.

In der Röntgenabteilung fühle ich mich nach wie vor etwas verlassen. Der Träger „stellt“ mich dort ab, und dann warte ich. Eines Tages aber mailt mir Tina aus meinem Chor. Sie schreibt, dass sie von meiner Krankheit gehört hätte und dass sie in der Röntgenabteilung arbeiten würde. Und ich sollte mich doch melden, wenn ich da bin. Das ist wirklich eine schöne Nachricht. Als ich das nächste Mal in der Abteilung bin, frage ich auch nach Tina, aber sie hat leider gerade Urlaub. Später treffe ich sie dann, und es ist einfach schön, denn sie setzt sich einen Moment zu mir und erzählt mir das Neueste vom Chor. Ich fühle mich da unten gleich viel wohler. Auch wenn ich sie nicht treffe, weiß ich, dass da jemand „von uns“ ist. Das ist ein gutes Gefühl.

Meine Freundin Gabi kommt oft zu Besuch und stellt immer ihre Schuhe vor meiner Zimmertür ab, worüber sich die Reinigungskraft amüsiert. Täglich wird das Zimmer gründlich gereinigt und gewischt. Die Reinigungskraft heißt Marina und gehört auch zu dieser Station. So ein Krankenhaus ist wirklich eine eigene Welt und viele Menschen tragen zum täglichen Ablauf bei. Die Ärztinnen und Ärzte, die Schwestern und Pfleger, die Küchenkräfte, die Reinigungskräfte, die Zivis, die Verwaltungskräfte und noch viele andere sind am Geschehen beteiligt. Und dann gibt es noch die „Grünen Damen“. Sie arbeiten ehrenamtlich im Krankenhaus und machen für die Patienten, die dazu nicht selbst in der Lage sind, kleine Besorgungen. Ich mag die grünen Damen. Eine ist besonders lebhaft und aufgeschlossen. Sie kommt zweimal in der Woche und ich unterhalte mich sehr gern mit ihr.

02.12.2010:

Liebe Beate, körperlich geht’s mir soweit ganz gut, toi toi toi. Trotzdem habe ich heute Morgen das Gefühl durchzudrehen. Achim meinte vorhin, ich sollte mich mal zusammenreißen! Wir sind zusammen über den Flur getapert, hin und her. Dann kam eine der grünen Damen. Mit ihr habe ich mich noch in meinem Zimmer sehr nett unterhalten. Sie hat versucht, mich ein bisschen aufzubauen. Gestern Abend sagte die Schwester: „Wenn sie mehr als 1,5 kg zunehmen...." und ich dachte, na, was kriege ich dafür und war ganz gespannt, und sie sagte mit ihrem ukrainischen Akzent: „Dann krriegen Sie eine Entwässerungsspritze!" Na super. :-) Die grüne Dame meinte, man gewöhnt sich daran, hier eingesperrt zu sein. Na hoffentlich! Vor der Tür steht die Visite. Es sind schon wieder Studenten dabei. Dann dauert´s länger. Erstmal liebe Grüße...gleich kommen die Ärzte. Na, jetzt klingt es so, als wenn sie erst ins Nebenzimmer gehen. Gaby

Eines Morgens gehe ich in die Küche, es ist Dezember und draußen tobt immer noch der Schnee. Ich stehe am Kühlschrank, um mir noch einen Becher Milch (leider nur H-Milch) zu holen. Schwester Sandra befindet sich ebenfalls in der Küche. Plötzlich erscheint eine vermummte Gestalt in der Tür. Schwester Sandra fragt locker: „Na, schneit´s schon, Ronny?“

Ich bin kurz vorm Losprusten, belasse es aber bei einem Grinsen und schweige ansonsten. Als Herr Jost einige Tage später allein zum Blutabnehmen kommt, sage ich: „Sie heißen ja tatsächlich Ronny mit Vornamen“ und er fragt erstaunt: „Ja, wieso?“ Und ich erzähle ihm von meiner Freundin Simone, die er im Aufklärungsgespräch kennen gelernt hatte. Er ist ganz begeistert und kann sich noch gut an seine Kindergärtnerin erinnern! „Die fuhr doch immer so einen Käfer“, sagte er. Wir stellen fest, dass die Welt klein und Kiel sowieso ein Dorf sei.

Abends rufe ich Simone an, und sie findet das Ganze auch sehr witzig. Sie möchte auf jeden Fall noch mal mit ihm sprechen, vielleicht ergibt es sich bei einem ihrer nächsten Besuche. Vorerst kann sie mich jedoch nicht besuchen, weil der Schneefall für sie noch mehr Probleme bedeutet als für die Gesunden. Mit dem Rollstuhl ist es bei dieser Wetterlage extrem schwierig, zudem ist auch die Parkplatzsituation nicht optimal.

Auch meine Eltern klagen häufig darüber, dass die Straßenverhältnisse ungünstig seien. Und auf den Parkplätzen fahren sich die Autos fest. Ich sehe diesen verschneiten Winter nur aus dem Fenster und wünsche mir oft, ich könnte draußen sein.

Ich bekomme häufiger Post und eines Tages bringt mir eine Schwester ein kleines Päckchen. Neugierig öffne ich es sofort und finde – einen Ipod! Mein Onkel aus Singapur hat ihn mir geschickt. Ich freue mich total darüber, da ich sehr gern Musik höre und mein MP3-Player nur eine geringe Kapazität hat. Und jetzt ein Ipod! Achim ist auch ganz beeindruckt von diesem Geschenk. Meine Cousine hat die Musik meines Onkels auf seinen Wunsch hin vorher auf dieses Gerät überspielt. Und ich versuche jetzt, meine Musik aufzuspielen. Irgendwann begreife ich, dass ich die Musik meines Onkels wieder „runterschmeißen“ muss, bevor das funktioniert. Aber dann klappt es, meine ganze Musik vom Laptop wird auf den Ipod übertragen, und somit kann ich Musik in bester Qualität hören! Ein Trost in dieser Zeit.

Überhaupt, mein Onkel…seit vielen Jahren hatte ich kaum Kontakt zu ihm und seiner Familie. Jetzt, da ich krank bin, ruft er öfter aus Singapur an und auch meine Cousinen und mein Cousin melden sich nach und nach bei mir. Die Familie rückt wieder näher zusammen und das ist wirklich ein tröstliches Gefühl!

An diesem Samstag kommt meine irische Freundin Laura abends zu mir. Wir wollen zusammen im Fernsehen „Wetten, dass…“ anschauen. Ich freue mich darauf. Ich bin Wetten, dass…- und Gottschalk-Fan. Nach kurzer Zeit stürzt ein Wettkandidat schwer, und die Sendung wird unterbrochen! So etwas ist bislang zum Glück noch nie passiert. Nach einiger Zeit wird die Sendung endgültig abgebrochen, was ich sehr vernünftig finde. Offenbar geht es dem Kandidaten sehr schlecht. Einige Tage später erfahren wir, dass er gelähmt ist und sich kaum noch bewegen kann. Schockierend.

Darüber hinaus besucht mich zweimal in der Woche die Klinikpastorin. Die Ärzte haben mir ihre psychologische Begleitung angeboten, was ich gerne annehme. Ich kann mit ihr ganz offen über meine Ängste und Sorgen sprechen, denn meine Familie und Freunde möchte ich damit nicht immer belasten. Sie machen sich schon selbst genug Sorgen.

07.12.2010:

Liebe Inga, heute bin ich total frustriert, mir ist dauernd übel, ich kann nichts essen. Jeden Tag brauche ich eine Beruhigungstablette. Ab heute Abend bekomme ich wieder mein Antidepressivum. Vielleicht geht es mir dann ein bisschen besser. Die Ärzte sind sehr zufrieden mit mir. Die Blutwerte entwickeln sich wohl sehr gut. Ein genaues Ergebnis bekommt man aber erst mit der Punktion, die wohl um den 21. Dezember gemacht wird. Vorhin bin ich in Tränen ausgebrochen. Heute Morgen hatten sie einen Herpes im Mund entdeckt. Heute Mittag kam der Pfleger und brachte fünf Riesentabletten, von denen ich wusste, dass ich sie niemals schlucken kann. Er nahm sie dann auch wieder mit. Wie geht´s Dir, meine Liebe? Hier sind die Tage recht lang. Heute kommt noch Beate vorbei. Sie wechselt sich mit meinen Eltern jetzt ab. Ich denke, meine Eltern brauchen auch mal eine Pause. Und zu viel Besuch ist auch anstrengend. Ich frage mich, ob mein Leben noch mal glücklich werden wird. Ich hoffe es einfach sehr! Erstmal...liebe Grüße! Gaby

Und so wechselt die Stimmung von Tag zu Tag. Die Chemo ist sehr anstrengend, und manchmal liege ich nur völlig erschöpft im Bett, wenn meine Familie oder Freunde kommen. Ständig bekomme ich Medikamente gegen Übelkeit, die bei mir aber selten gut wirken. Insofern ist mir fast immer übel.

Aber eines Tages schmeckt mir das Essen wieder, wie man an folgendem Text vom 13.12.2010 erkennen kann:

Liebe Inga, wie viel Inga ich abkann? 100%! Die Frage ist eher, wie viel Gaby Du in diesem Zustand abkannst. Ich habe gerade festgestellt, dass ich nur ein Knäckebrot bestellt habe...in der Annahme, dass meine Eltern mir heute Brot mitbringen. Das Haferbrot, was ich gern mag, gibt’s aber nur dienstags beim Bäcker. Insofern bekomme ich das erst morgen. Aber Gott sei Dank hatte ich meine Eltern gebeten, mir zwei hart gekochte Eier mitzubringen, außerdem haben sie Käse mitgebracht. Insofern werde ich nicht verhungern. Das Essen hier kann man nicht wirklich essen. Die Pizza, die ich heute Mittag bestellt hatte, schmeckte allerdings. Für morgen warten Rouladen, Kartoffeln und Rotkohl im Kühlschrank, das mache ich mir morgen Mittag warm. Ich freue mich schon drauf! Und morgen macht meine Mutter für mich Gemüselasagne und bringt sie mit. Davon werde ich auch ein/zwei Tage essen können. Meine Schwester kocht bestimmt mal Nudeln für mich. Ich beneide Dich, dass Du einfach so schwimmen gehen kannst. Und dass bei Euch Sommer ist. Obwohl ich froh bin, dass hier gerade kein Sommer ist, denn dann wäre alles noch viel schwerer zu ertragen. Ich beneide im Moment alle Leute, die gesund sind und frei. Und Du erscheinst immer noch ein Stück freier, als alle anderen, die ich kenne. Also, meine Liebe, mach´s gut, und vielleicht schnacken wir morgen. LG,, Gaby

Dann beginnt das, wovor mir eigentlich am meisten graute: Erste Haare fallen aus! Wenn ich an meinen Haaren ziehe, dann habe ich einzelne Haare in der Hand. Ich traue mich kaum noch, die Haare zu waschen. Eines Morgens tue ich es, und es ist absolut furchtbar, ganze Haarbüschel habe ich in der Hand! Ich beschließe, die Haare jetzt nicht mehr zu waschen. Eine Schwester schneidet mir die Haare auf Kinnlänge. Das gefällt mir gut!

Bekannte von meinen Eltern schicken mir ein Buch:

12.12.2010:

Vielen Dank für das Buch! Es klingt sehr interessant, gerade das Thema Schneekatastrophe finde ich spannend! Ich habe mir auch vor zwei Jahren im Kino den Film „Schnee von gestern" angesehen, den Privatleute zusammen geschnitten hatten. Es ist wirklich lieb, dass Sie an mich denken. Mir geht´s momentan so lala, die erste Chemo liegt hinter mir, und ich kämpfe mit den Nebenwirkungen, z.B. mit sehr angegriffenen Schleimhäuten im Mund/ Darm/ Magen. Langsam fallen die ersten Haare aus, was ich auch ganz furchtbar finde...naja, bislang nur vereinzelt, aber das wird wohl bald mehr. Die Nachtschwester hat mir gerade angeboten, mir morgen Abend die Haare kürzer zu schneiden, was ich gut finde. Sie kommt glaube ich aus dem Osten und wirkt sehr pragmatisch. :-) Momentan lese ich gar nicht, ich kann mich ganz schlecht konzentrieren. Aber ich hoffe, die Zeit wird kommen, da ich wieder ruhiger bin, und dann lese ich alle Bücher, die hier mittlerweile liegen. Da ich normalerweise extrem gern lese, ist das super. Also, nochmals danke und viele Grüße!

13.12.2010:

Hi Wiebke, ich musste gerade lachen. Eine etwas verwirrte Frau aus dem Chor hatte mir eine sehr nette Karte geschrieben. Und ich schrieb ihr eine Mail und bedankte mich und erzählte ein bisschen. Unter anderem, dass wir übernächstes Jahr nach Singapur wollen. Sie schrieb eben zurück und meinte am Ende „...und später viel Spaß in Singapur". Es klang so, als wenn wir uns vorher nicht mehr sehen. Meine Eltern sind inzwischen weg, sie sind wieder mit dem Zug gekommen. Mann, das ist auch immer ein Aufwand, meinem Vater war auch ein bisschen schwindlig, als sie hier ankamen. Er hatte heute Morgen schon länger Schnee geschippt. Ich hoffe nur, meine Eltern übernehmen sich nicht. Heute ist mir klar geworden, dass schon nächste Woche die Punktion ist. Und kurze Zeit später wird schon wieder die Chemo anfangen. Naja, sofern alles gut ist, nehme ich das gern in Kauf. Eben habe ich mich mit Achim und einem anderen Patienten auf dem Flur ganz nett unterhalten, mein Zimmernachbar. Das war der, der sich einen neuen Fahrradschlauch gekauft hatte und sich über den Preis von 25 Euro beschwert hatte. Es stellte sich heraus, dass der Mann privat versichert ist! Man fasst es nicht. Achim ist auch privat versichert, und beide bekommen jeden Tag Besuch von „höchster Stelle", nämlich vom Chefarzt.

Der Typ von nebenan meinte doch tatsächlich, das Essen sei so gut. Da konnte ich nicht zustimmen! Ich sprach heute mit der Ärztin über den drohenden Haarausfall und sie meinte, davor hätte sie auch am meisten Angst. Und sie sagte, dass bei Leuten mit kräftigem Haarwuchs die Haare manchmal auch erstmal nur dünner werden. Vielleicht habe ich ja Glück und es ist so. Naja, wir telefonieren heute Abend nochmals? Finde ich echt lieb, dass Du jeden Tag anrufst! Liebe Grüße, Gaby

15.12.2010:

Hi Gabixli, ich bin heute etwas depri, die Zeit ist einfach lang, die noch vor mir liegt. Ich hatte heute viel Unterhaltung, daran liegt es nicht. Aber heute Morgen hat Herr Jost mir den zeitlichen Ablauf erklärt und das heißt, dass mit aller Wahrscheinlichkeit die nächste Chemo noch vor Weihnachten beginnt. Und dann muss man den Zellenaufbau abwarten, bevor die nächste Punktion gemacht wird. Und bevor ich das erste Mal wieder nach Hause darf... Naja, wenn am Ende alles gut wird, dann ist alles ok...und trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, ich halte das nicht aus. Seufz. LG, Gaby

17.12.2010:

Liebe Inga, Hajo war heute am Telefon sehr beeindruckt, dass Du wegen mir nach Deutschland kommst! Es verschlug ihm fast die Sprache. Ich war heute Morgen total frustriert. Als der Pfleger und die Schwester mein Bett bezogen, fing ich schon an zu heulen, einfach aus allgemeinem Frust. Später kam die Ärztin zur Visite und ich sagte, dass ich allmählich einen Lagerkoller bekommen würde. Sie sagte, dass sie das gut verstehen könnte und dass sie immer froh sei, wenn sie die Station abends verlassen könnte. Sie war wirklich nett und versuchte mich zu trösten. Kaum war sie raus, fing ich richtig an zu heulen, und schon wieder klopfte es an der Tür. Es erschien: die Pastorin! Sozusagen genau im richtigen Moment. Sie blieb für ihre Verhältnisse ziemlich lang und redete mit mir. Ich beruhigte mich wieder. Heute Nachmittag kam Gabi und später am Abend Gudruns Mutter. Das war alles sehr nett, aber meine Stimmung ist eben momentan eher düster. Meine Haare gehen immer mehr aus, aber momentan habe ich noch genug. Meine Mutter meinte eben, ich soll keinen düsteren Gedanken nachhängen und wahrscheinlich hat sie recht. Es nützt eh nichts. Ich muss vor allem morgens früher aus dem Tief rauskommen. Der Morgen ist ätzend, es ist dunkel und jeder Tag läuft gleich ab. Alle zwei Tage wird das Bett bezogen und ansonsten kommt die erste Schwester, misst die Temperatur, den Blutdruck und den Puls. Und dann sagt sie, dass ich auf die Waage gehen soll. Wenn ich mich dazu in der Lage fühle, ziehe ich meinen Bademantel an und schlurfe über den Flur zur Waage. Später kommt dann das Frühstück und kurz danach der Arzt, um Blut abzunehmen. Danach ziehe ich mich an und schmeiße meinen Laptop an. Dann erscheinen irgendwann die grüne Dame, die Reinigungskraft und die Visite. Das ist der Vormittag. Nachmittags habe ich dann eher Besuch. Naja, so sind die Tage hier. So, meine Liebe, ich hör jetzt auf...gucke gerade „Pretty Woman". Was machst Du so? Wie läuft´s mit dem Besuch? LG, Gaby

19.12.2010:

Hallo...na, was machen der Rücken und der vierte Advent? Ich gucke gerade „Vom Winde verweht". Die Reinigungskraft sagte gerade, sie hätte das noch nie gesehen. Manchmal wundert man sich. Naja, es gibt ja auch Leute, die Aretha Franklin nicht kennen. :-) Dieses Knastleben ist oft trostlos. Die Ärztin sagte gerade, ich hätte doch wirklich gute Heilungschancen und es gäbe auch Leute, denen müssten sie ganz andere Dinge erzählen. Ich frage mich, wie hält man so etwas aus? Mir reicht´s auch so. Ich versuche, die positiven Sachen zu sehen. Das ist oft schwer, angesichts des Haarausfalls usw. Der Patient, zu dem ich wirklich einen guten Draht hatte, Achim heißt er, ist gestern für ein paar Tage nach Hause entlassen worden. Nach Weihnachten kommt er wieder. Weihnachten...ich wünschte, es wäre schon vorbei. Ich kann dem dieses Jahr logischerweise nicht viel abgewinnen. Naja, das nächste Weihnachten kommt bestimmt. Und wie sieht´s bei Euch aus? Geht´s Dir besser?

Tja, ansonsten gibt´s hier nichts Neues. Wiebke, eine meiner besten Freundinnen, hat heute Geburtstag. Sie feiert in einem Restaurant...ja, schade, ich kann leider nicht dabei sein, aber es gibt eben Wichtigeres. Also, viele Grüße an alle... Gaby

21.12.2010:

Hi Inga, ich weiß, wir sehen uns heute Abend noch (in skype), aber ich habe gerade das Bedürfnis, Dir zu schreiben. Die Punktion hat verdammt wehgetan!!! Sie bekamen nicht das heraus, was sie wollten, dreimal musste sie stechen. Frau Dr. Egerland hat es gemacht, und Frau Dr. Berger kam netterweise, um meine Hand zu halten, Gott sei Dank! Hinterher musste ich heulen, meine Güte, man ist auch immer so ausgeliefert und muss alles über sich ergehen lassen. Es war nur ein schwacher Trost, dass die Ärztin meinte, ich hätte es sehr gut gemacht, und es gäbe auch Leute, die das schlecht machen. Ich frage mich, was machen die? Springen die aus dem Bett? Gerade habe ich einen neuen "Freund" gefunden. Achim ist ja nicht mehr da...ich brauch jemanden zum Schnacken. Es gibt da einen 2 m-Mann, der ist ungefähr so alt wie ich, Jörg heißt er, wie ich heute erfuhr. Er winkte mir in den letzten Tagen schon immer zu, wenn er mich sah. Eben trafen wir uns in der Küche und quatschten eine Weile. Er kommt aus dieser Gegend, ist verheiratet und Sportler (hatte Achim mir schon erzählt). Jörg ist wirklich nett und auch über Weihnachten und Silvester hier, ein kleiner Trost irgendwie. Gleich kommt Gabi und später Beate. Und gleich gibt’s Rote Rosen, aber das kann ich irgendwie nur selten sehen, meistens ist dann jemand hier. Na egal. Wird morgens wiederholt. :-) Und so spannend ist das auf Dauer auch nicht, seufz. Oh Mann, ich bin doch etwas unruhig wegen des Ergebnisses der Punktion...aber ich glaube schon, dass alles gut ist. Meine Liebe, bis später! LG, Gaby

Die Punktion ist wirklich schlimm. Zuerst erscheint die Ärztin bzw. der Arzt und fängt an, die Sache vorzubereiten, indem eine sterile Fläche geschaffen wird. Auf dieser werden alle benötigten Gegenstände gelagert. Dann kommt eine MTA dazu. Die Ärztin, in diesem Fall Frau Dr. Egerland, betäubt zunächst eine Stelle am Beckenknochen. Das zieht richtig durch und ist nicht sehr angenehm. Bevor dann die eigentliche Punktion startet, muss die Betäubung einige Minuten wirken. Dann wird die Nadel angesetzt, und an einem gewissen Punkt hat man das Gefühl, einen Tritt gegen das Schienbein zu bekommen, ganz merkwürdig. Die Ärztin zieht die Nadel wieder heraus, und die MTA guckt sich das Ergebnis sofort vor dem Hintergrund an, ob so genannte Bröckchen vorliegen. Keine da! Die Sache wird wiederholt. Frau Dr. Berger steht neben mir und hält meine Hand und tröstet mich, wofür ich ihr wirklich dankbar bin! Auch der zweite Versuch bleibt ohne Erfolg. Ich kann nicht mehr! Aber es nützt nichts, zum dritten Mal wird die Nadel zum Knochen geführt. Dann endlich tauchen die Bröckchen auf. Die Ärztin sagt entsetzt: „Also, mehr hätte ich jetzt auch nicht gemacht!“

Am nächsten Tag erhalte ich das Ergebnis der Punktion. Mit Herzklopfen warte ich auf die Oberarztvisite:

22.12.2010:

Hi Inga, heute kam der Oberarzt mit dem Ergebnis der Punktion. Ergebnis: Die Chemo hat angeschlagen, die Anzahl der kaputten Zellen hat sich von 80% auf 12% reduziert. Bei unter 5% geht man davon aus, dass die Leukämie weg ist, da diese Anzahl von unreifen Zellen normal ist. Irgendwie hatte ich gehofft, dass die Zellen schon unter 5% gerutscht wären. Der Oberarzt ist ein sehr nüchterner Mensch. Er sagte: „Die Therapie hat angeschlagen, aber da sind noch Restbestände und insofern beginnt morgen die zweite Chemo." Ich war total beunruhigt und fragte nach und er sagte, wenn die Zahl nach dem zweiten Mal nicht bei unter 5% liegt, dann müsste man die Verfahrensart wechseln, das wäre dann eine Knochenmarkspende. Sie fragten noch nach Nebenwirkungen und ich erzählte das eher abwesend, weil ich völlig unruhig war. Kaum war er draußen, rief ich meine Eltern an. Ich erzählte das, na ja, was sollten sie sagen. Dann kam die Assistenzärztin und sagte, sie war noch nicht mal ganz drin: „Mensch, das ist doch ein super Ergebnis!". Ich fragte: „Ist es das wirklich?", und sie antwortete: „Von 80 auf 12!" und ich sagte, dass ich einen totalen Schrecken bekommen hatte. Sie war völlig baff und fragte, was die mir denn erzählt hatten und meinte dann, mehr hätte man doch nicht erwarten können. Ich konnte mich aber den ganzen Tag nicht von diesem Schock erholen. Frau Dr. Berger legte dann den zentralen Venen-Katheter und ich musste wieder zum Röntgen. Christine war gerade da und kam mit, was echt gut war. Heute war da allerdings nichts los und ich musste fast gar nicht warten. Oh Mann Inga, es ist echt nicht einfach, den langen Atem zu behalten. Ich hätte auch so gern meinen Eltern eine tolle Nachricht überbracht, damit sie beruhigter sind. Und der Oberarzt hat mir das halt nicht als gute Nachricht verkauft, sondern hat das nur nüchtern erzählt. Ich fragte, „aber die Therapie hat doch angeschlagen?" und er sagte, „klar, die Zellen haben sich ja schon um den Faktor 6 reduziert". Anne kam nach meinen Eltern heute noch und eben waren noch Gabi und Wiebke da. Die haben auch versucht, mich aufzubauen, mir ging´s danach auch schon besser. Wie geht´s Dir denn heute??? Liebe Grüße, Gaby

Ja, das ist wirklich ein harter Tag. Natürlich sind die Ärzte rational und sagen die Dinge so, wie sie sind. Das verstehe ich. Aber für mich hängt von dieser Nachricht einfach zu viel ab! Mein Leben.

Insofern hadere ich den ganzen Tag damit. Abends kommen Wiebke, Beate und Gabi, und wir reden nochmals darüber. Danach geht es mir etwas besser. Und am nächsten Tag kommt die nette Schwester Annette (passt ja) und sagt mir, dass es völlig normal sei, dass die kaputten Zellen nach der ersten Chemo noch nicht vollständig weg seien, und dies sei ein „Daumen-hoch-Ergebnis“! Endlich kann ich es glauben. Trotzdem bleibt ein kleines nagendes Gefühl: Was wird, wenn die zweite Chemo keine vollständige Remission bringt?

Am 23.12.2010 beginnt die zweite Chemo. Mittags besuchen mich mein Cousin, seine Frau und mein Patenkind. Ich finde es toll, dass sie sich so kurz vor Weihnachten noch die Zeit nehmen, mich zu besuchen. Ich weiß, dass mein Cousin durchdrehen würde, wenn er hier acht Wochen liegen müsste. Er würde es keine drei Tage aushalten. Aber er tröstet mich bezüglich des Haarausfalls und erzählt von einer Kollegin, deren Haare auch ausgefallen sind und die inzwischen wieder ihre alte Frisur hat.

Ja, und dann ist schon Weihnachten. Die Weihnachtszeit ist diesmal an mir vorbeigegangen, obwohl ich viele weihnachtliche und adventliche Geschenke bekommen habe. Ich denke, ach, was soll´s, Heiligabend ist auch ein Tag wie jeder andere. Nachmittags kommt dann meine Familie und bringt Weihnachtsgeschenke mit. Die packe ich aus, während nebenbei die Chemo läuft. Merkwürdiges Gefühl. Als meine Schwester und meine Eltern gehen wollen, fange ich plötzlich an zu heulen und kann nicht mehr aufhören. Es tut mir sehr leid, denn ich merke, dass sie alle ein schlechtes Gewissen haben. Aber ich kann sie unter Tränen davon überzeugen zu gehen.

Die Aussicht auf die nächsten Tage ist nicht so gut, denn an drei Tagen bekommt man eine Infusion, die alle nur „das rote Zeugs“ nennen. Das rote Zeugs verursacht die meisten Nebenwirkungen. Es läuft nur jeweils zwei Stunden, und man darf sich währenddessen nicht so viel bewegen. Herr Jost erklärt mir, dass es sehr gefährlich ist, wenn etwas von der Infusion auf die Haut kommt, es kann zu Verätzungen kommen. Hilfe, und das läuft durch meinen Körper! Hoffentlich macht es dann auch, was es soll und schlägt die Leukämie in die Flucht!

An Weihnachten passiert auf der Station nichts Besonderes. Der Alltag läuft weiter, nur dass auf dem Speiseplan weihnachtliche Gerichte stehen. Aber mir ist sowieso nicht nach Essen. Meine Stimmung ist ziemlich mies und am dritten Tag der Chemo habe ich plötzlich heftigen Schüttelfrost und muss mich in den Papierkorb übergeben. Eine Schwester meint nur: „Das geht vorbei“. Wahrscheinlich heult hier keiner so viel wie ich. Aber dann erscheint eine Ärztin von einer anderen Station und redet ganz nett mit mir. Sie erzählt, dass ihr Vater Gerichtsvollzieher sei und dass er auch einmal überlegt hatte, Schuldnerberater zu werden. Ich erzähle ein bisschen von meiner Arbeit als Schuldnerberaterin und fühle mich besser, einfach weil die Ärztin so nett ist.

Glücklicherweise bekomme ich „das rote Zeugs“ jetzt zum zweiten und damit letzten Mal. Die Erhaltungs-Chemos sind wieder anders zusammengesetzt. Schlimmer kann es eigentlich nicht mehr werden, denke ich.

Das Essen schmeckt weiter nicht besonders, aber daran ist sicher auch die Chemo schuld: Der Geschmackssinn verändert sich. Mineralwasser schmeckt plötzlich säuerlich. Ich habe immer gern Wasser getrunken, aber im Moment geht es einfach nicht. Ich trinke jetzt viel Cola und erstaunlicherweise auch Fanta. Schwester Katrin ist oft so lieb, mir ein paar kleine Flaschen in den Kühlschrank zu stellen, denn warm schmecken diese Getränke nun auch wieder nicht. Und es ist gerade während der Therapie sehr wichtig, viel zu trinken. Ich nehme an, damit das „Gift“ wieder aus dem Körper geschwemmt wird. Bisher gehörte ich zu den Wenigtrinkern, aber die Schwestern und Pfleger achten jetzt darauf, dass die Menge stimmt.

29.12.2010:

Hi Inga, ja, die zweite Runde Chemo ist morgen vorbei. Morgen Mittag "stöpseln" sie mich ab, dann kann ich mich wieder frei bewegen und das Warten geht wieder los. Naja, die Pastorin meinte heute, als sie ging „Ich wünsche Ihnen, dass Sie die Nerven behalten", und ich sagte, ja, das wäre gut! Es ist gar nicht so leicht, die Nerven zu behalten. Heute Morgen hing ich teilweise schon wieder trüben Gedanken nach und die Pastorin meinte, ich hätte auch einfach viel Zeit zum Nachdenken, was natürlich stimmt. Gestern erzählte mir die Schwester, die mich hinsichtlich der Ergebnisse so aufgebaut hat, dass sie bei der Visite dabei war! Ich hätte geschworen, dass nur der Professor und die Ärztin dabei waren. Und die Schwester meinte, der Professor hätte das nicht so herübergebracht, wie es hätte sein sollen. Naja, vielleicht komme ich noch mal über diese Visite hinweg...schön wär’s! Ich glaube, so richtig wird sich das erst auflösen, wenn das zweite Ergebnis unter 5% ist. Heute war wieder Oberarzt-Visite und er war ganz nett. Sagte zur Einleitung: „Frau Heydt, ich habe Sie vorhin im Flur gesehen, das hat mir gut gefallen. Und die Kollegen sagen, Sie seien öfter auf dem Flur unterwegs". Das finden Ärzte und Schwestern gut, wenn man sich bewegt. Heute Morgen traf ich einen anderen Patienten, er ist auch sympathisch, aber irgendwie kann ich mich nicht daran gewöhnen, naja, woran? Neulich erzählte er mir als erstes, dass er Probleme mit dem Wasserlassen hatte...meine Güte. Klar, wir sind hier alle Patienten, und jeder hat seine Schwierigkeiten, aber ich finde trotzdem nicht, dass man da so ins Detail gehen muss. Vor allem, wenn man sich kaum kennt! Irgendwie werde ich schon wieder müde. Heute Morgen war die Pastorin da, heute Nachmittag meine Schwester und meine Kollegin Carolin. Was macht die Erdbeerernte?? Liebe Grüße, Gaby

30.12.2010:

Hi Inga, heute kam die Stationsschwester Nicole und wechselte meinen Verband höchstpersönlich, ich wunderte mich schon. Dann begann sie, von meinen herumfliegenden Haaren zu sprechen und wollte mich dazu bringen, sie morgen abzuschneiden, was ich aber verweigerte. Sie können mich auch nicht zwingen und es gibt einige Patienten, die das bis zum Ende durchgezogen haben. Achim z.B. weigert sich bis heute, seine letzten paar Haare abschneiden zu lassen. Bei Männern sieht das auch noch besser aus, wenn die nur ein paar Haare haben. Bei Frauen ist das irgendwann nicht mehr schön. Ich habe aber jetzt ein Tuch umgebunden, dadurch fliegen sie nicht mehr in der Gegend umher, ein guter Kompromiss. Und ich kann mich schon an den Anblick gewöhnen, wie es mit Tuch aussieht. Ansonsten ist die Chemo durch und ich kann mich wieder frei bewegen, was natürlich schön ist! Jetzt beginnt wieder das Warten, und ich werde die Zeit nutzen so gut es geht und viel Fahrradfahren und übern Flur gehen, so dass meine Kondition wieder besser wird.

Mit der Pastorin spreche ich natürlich auch über das Problem mit dem Haarausfall. Sie sagt, ich soll mich nicht unter Druck setzen lassen. Und sie rät mir, dem erst zuzustimmen, wenn ich so weit bin.

Nachher kommen meine Eltern, Beate ist seit gestern Abend in Flensburg und kommt wohl erst Neujahr zurück. Heute bin ich genau fünf Wochen im Krankenhaus. Vor fünf Wochen habe ich mich selbst in Preetz eingeliefert. Oh Mann, Inga, es ist so schwer, immer die optimistische Einstellung zu bewahren, obwohl, heute gelingt mir das bislang ganz gut. Ich wachte heute auf und dachte, ach, es wird schon alles gut werden. Eigentlich spricht ja auch alles dafür. Eben hat mir die Ärztin Thrombozyten gebracht. Ich ahnte es schon, weil ich den ganzen Morgen beim Naseputzen Nasenbluten hatte. Übrigens erzählte ich gestern Sonja von meinem ersten Gespräch mit diesem einen Patienten, und sie hat sich kaputtgelacht über seine Aussage und meinte auch, das geht ja gar nicht! Es tat mir richtig gut, sie so lachen zu hören. Ich fand es auch skurril und kann mich nicht so richtig dran gewöhnen, dass hier einige sehr offen über ihre Nebenwirkungen sprechen. Ich muss jetzt (jetzt fange ich auch an...) wegen einer winzigen blutigen Stelle am Po Sitzbäder machen! Ich stöhnte nur, als die Ärztin das ankündigte. Die wollen hier einfach jeglichen Infektionsherd ausschalten. Naja, jedenfalls werde ich auf dem Flur nicht darüber sprechen... Heute Morgen traf ich Jörg, und er fragte, wie es geht, und ich antwortete, ganz ok...und er klagte: „Irgendwas ist ja immer...." und ich dachte, was kommt jetzt? Er hat Zahnschmerzen, was echt übel ist. Ich hatte auch schon überlegt, dass das wirklich sehr ungünstig wäre. Gut, dass ich im Oktober noch beim Zahnarzt war. Ich beneide Dich um Dein Leben im Sommer mit Erdbeeren usw. ...unbeschwert und täglich draußen mit dem Gefühl, gesund zu sein! Liebe Grüße, Gaby

Ja, das ist wirklich schwierig für mich, dass einige sehr direkt aussprechen, was gerade für körperliche Probleme anliegen. Ich rede darüber mit meiner Familie und mit Freunden, aber eher nicht mit den anderen Patienten. Achim und ich unterhalten uns auch über alles Mögliche. Er beklagt sich allerdings nur selten. Bei ihm läuft es wohl auch nicht immer rund, aber trotzdem hat er meistens eine sehr positive Einstellung, was mir wirklich gut tut. Nach Weihnachten kommt er wieder zurück auf die Station, darf aber Silvester erneut das Krankenhaus verlassen, da sein weit entfernt lebender Sohn zu Besuch ist.

Die Schwestern kündigen schon einige Tage vor Silvester an, dass wir es uns an dem Abend nett machen werden. Sie planen Bleigießen!

31.12.2010:

Liebe Inga, gestern Abend war ich frustriert, einfach von der ganzen Situation hier. Die Spätdienst-Schwester kam und fragte, ob ich noch was zur Nacht brauche. Und ich sagte: „Was gegen Frust", und sie fragte, „Sie haben Frust? Warum?" .....naja, und dann meinte sie „Ach, jetzt haben Sie es doch bald geschafft", und ich sagte „Na hoffentlich". Sie antwortete: „Die Therapie hat doch schon letztes Mal so gut angeschlagen, da brauchen Sie sich glaube ich keine Sorgen zu machen". Das war der Satz, der mich echt beruhigte. Ein paar Worte, und schon geht es einem besser. Dann sagte sie, dass sie noch ein bisschen die Station schmücken will und dass sie für heute Knallbonbons gekauft hat, und ich erwiderte, dass ich gerade an die Knallbonbons denken musste, weil wir sie früher immer hatten. Für Gudrun ist das, glaube ich, kein Silvester, wenn es keine Knallbonbons gibt. Unsere Silvesterpartys früher, die waren echt immer unbeschwert und lustig, mit Papierhüten und der ganzen 70er Jahre Musik (in den 70ern eben) im Fernsehen, z.B. Boney M. Es hat mich fast getroffen, als ich gestern im Fernsehen sah, dass Bobby Farrell gestorben ist, der Sänger von Boney M.: „Boat on the river, it´s sailing away...". So, liebe Inga, ich hoffe, Du verbringst mit Steve gerade einen ganz schönen Abend, bei Euch ist es in 2,5 Stunden so weit! Guten Rutsch ins Jahr 2011!!! Auf dass es ein schönes Jahr wird! Liebe Grüße, Gaby

Gegenüber von meinem Zimmer gibt es einen ganz gemütlichen kleinen Aufenthaltsraum mit einem Riesen-Flachbildfernseher. Dort gucken die Männer manchmal abends Fußball. Und hier treffen wir uns Silvester. Außer mir sind aber nur noch drei andere Patienten und zwei Schwestern da. Der Rest hat es vorgezogen, in seinem Zimmer zu bleiben. Vielen Patienten geht es wohl auch nicht besonders. Ich habe Glück, denn die Wirkung der zweiten Chemo hat noch nicht voll eingesetzt, insofern fühle ich mich heute einigermaßen gut. Es wird dann auch ein ganz netter Abend. Wir gießen Blei und unterhalten uns mit den Schwestern. Merkwürdig ist es schon, dieses Silvester…. Aber wir machen das Beste daraus! Um Mitternacht gehen wir alle in mein Zimmer, weil man von dort aus gut das Feuerwerk sehen kann. Und wenig später ziehen sich alle zurück, und auch ich gehe schlafen. Mal schauen, was dieses kommende Jahr bringt. Ich hoffe und glaube ganz fest, dass es das Jahr der Heilung wird!

05.01.2011:

Heute war der Chefarzt persönlich hier, ich fand ihn wirklich nett. Er meinte, es wäre eine lange Zeit und um den Jahreswechsel im Krankenhaus zu sein sei schon eklig. Und dann fragte er noch: „Die Psyche hängt ein bisschen durch?". Er machte mir Mut und wies mich darauf hin, dass meine Art der Leukämie eine vergleichsweise günstige sei und die Heilungschancen somit deutlich besser als bei anderen seien. Ich fand´s nett, dass er das so sagte. Naja, die lesen in der Akte Depressionen und die anderen Ärzte erzählen sicher auch, dass meine Stimmung nicht immer die beste ist. Essen geht immer noch nicht, aber vielleicht geht ja Spaghettipizza besser. Ich hatte heute Mittag schon wieder Fieber...irgendwie dauert das alles seine Zeit. Hoffentlich bin ich nicht so müde, wenn Du kommst, ich soll nämlich ein Opiat nehmen, was gegen Schmerzen hilft (Hals) allerdings nur eine sehr geringe Dosis. Bis nachher! Gaby

Eines Morgens gehe ich auf den Flur, und plötzlich wird mir ganz schwindlig, mein Kreislauf schwächelt! Gott sei Dank ist Achim da, bringt mich zu meinem Zimmer zurück und sagt auch gleich der Schwester Bescheid. Sie misst sofort den Blutdruck: 90:60! Ich bleibe erstmal im Bett.

Am 06.01.2010 schreibe ich Folgendes an meine Kollegin:

Ich habe wieder ein ziemliches Halsproblem, tierische Schmerzen, und dagegen muss ich jetzt ein Opiat nehmen, weil die anderen Schmerzmittel auch gegen Fieber wirken und man dann nicht weiß, ob ich Fieber habe oder nicht. Ich muss sagen, ich fühle mich gerade irgendwie zugedröhnt. Habe ja nie Drogen genommen, aber so fühlt sich das wohl an. Wenn alles gut läuft, kann ich in ca. zwei Wochen nach Hause. Irgendwie kann ich es gar nicht glauben, dass die Zeit jetzt so weit voran geschritten ist. Anfangs dachte ich, sie wird nie vergehen. Der Gedanke, vielleicht bald mit meinen Eltern nach Hause zu fahren, fühlt sich an wie ein Lottogewinn.

Die Halsschmerzen sind wirklich übel. Jegliches Schlucken schmerzt und das wird wohl auch erst aufhören, wenn das Zelltief vorbei ist. Und die Opiatstropfen haben eben unangenehme Nebenwirkungen, z.B. Schwindel. Als die Schwester mich wieder einmal stützen muss und wir den Arzt auf dem Gang treffen, stimmt er sofort zu, dass wir die Tropfen absetzen und auf ein anderes Schmerzmittel umsteigen.

Mein Cousin, der gerade in Indien weilt, mailt mir:

Na das hört sich ja schon ganz gut an! Die zwei Wochen mögen schnell vorbei sein und ein positives Ergebnis bringen. Die Nebenwirkungen müssen schrecklich sein, und ich hoffe die kleinen Aufmunterungen, die wir Dir schicken helfen ein wenig! Einer der vielen Götter hier heißt Ganesha, und man geht zu der Statue und darbietet eine aufgeschlagene Kokosnuss und das habe ich unter anderem auch für Dich getan und somit kümmert er sich um Dich und macht es hoffentlich erträglicher! Liebe Grüße

12.01.2011:

Hi, es sieht eigentlich gar nicht so schlecht aus. Ich bin einigermaßen fit, wenn auch leicht müde. Heute Morgen bin ich schon mit Markus, dem polnischen Krankengymnasten und seinem Kompagnon über den Flur gewandert. Die anderen machten schon ihre Witze darüber, dass sie so auch mal ihr Geld verdienen möchten...wir gehen hin und her und unterhalten uns über die Oper! Die Ärztin teilte mir dann auch prompt mit, dass sie die KG abbestellt hat. Ich brauche ihn auch nicht, ich kann auch allein übern Flur gehen. Der Fernseher ist noch nicht repariert, aber vielleicht kommt heute noch jemand. Wäre schön!

14.01.2011:

Hallo Ihr, heute habe ich mal wieder einen Schock bekommen. In der Visite kam die Ärztin und sprach plötzlich doch von einer Transplantation. Aufgrund eines Wertes kann man wohl sagen, dass die Rückfallgefahr bei mir ziemlich hoch ist. Um das deutlich zu reduzieren, brauche ich offensichtlich doch eine Knochenmarkspende. Ich war völlig fertig, als ich das hörte, was die Ärztin irgendwie nicht verstehen konnte. Sie meinte, der zeitliche Ablauf wäre doch ungefähr gleich und ich müsste ebenfalls noch zwei Chemos machen, was ansonsten auch der Fall gewesen wäre. Und trotzdem: Immer kommt wieder was Neues, man kann sich auf nichts verlassen! Beate kommt heute Nachmittag vorbei und lässt Blut abnehmen. Die Chance ist 1:4, dass ihr Knochenmark passt. Und wie geht´s Euch? Der Alltag ist vermutlich wieder eingekehrt. Das Wetter ist ja heute ganz schön trübe, das passt zu meiner Stimmung. Allerdings kommt gleich Inga, meine Freundin aus Neuseeland! Und meine Mutter kommt nachher auch noch. Eben war schon meine Freundin Gabi da. Also, erstmal liebe Grüße und bis bald! Gaby

Ja, das ist wirklich ein Schlag! Frau Dr. Egerland kommt zur Visite. Zunächst frage ich nach meinen Blutwerten und wir reden darüber. Dann sagt sie plötzlich: „Aber eigentlich wollte ich heute etwas ganz Anderes mit Ihnen besprechen.“ Ich habe ein mulmiges Gefühl und denke, was kann das jetzt wieder sein? Sie sagt so was wie: „Bei Ihnen gibt es ja diesen Wert, der anzeigt, dass die Rückfallgefahr extrem hoch ist. Von daher plädieren wir doch für eine Transplantation.“ Ich bin völlig schockiert und verstehe die Welt nicht mehr. „Welcher Wert?“, frage ich. „Davon habe ich noch nie was gehört!“ Sie wirkt irritiert und sieht dann nochmals in meine Akte. „Doch“, sagt sie, „hier steht es!“ Die Schwester, die neben ihr steht, nickt bestätigend. Ich frage nochmals „Was für ein Wert?“ und gerate allmählich in Panik. Ich bekomme keine wirkliche Antwort. Minutenlang reden wir aneinander vorbei, was damit endet, dass ich völlig aufgelöst bin und die Ärztin leicht genervt ist. Sie sagt: „Also, ich habe doch wirklich versucht, Ihnen das jetzt schonend beizubringen!“ Ach ja? Davon merke ich nichts! Wo kommt plötzlich dieser Wert her, frage ich mich? Laut Auskunft von Herrn Jost habe ich eine günstige Variante der Leukämie, die aller Wahrscheinlichkeit nach keine Transplantation erfordert. Aus Flurgesprächen weiß ich, dass eine Knochenmarkspende eine weitreichende Geschichte ist. Bisher habe ich aber nur Gesprächsfetzen aufgeschnappt und wollte mich damit auch nicht weiter befassen. Die Ärztin sagt, dass der Zeitplan ein ähnlicher sei und dass ich danach die Krankheit voraussichtlich los wäre. Zunächst wird jetzt geprüft werden müssen, ob das Knochenmark meiner Schwester passt. Das wäre die naheliegendste Lösung, da wir dieselben Eltern haben. Meine Eltern kommen aufgrund ihres Alters nicht in Frage.

Die Ärztin und die Schwester verlassen das Zimmer. Vorher sagt mir die Ärztin, dass ich gern noch mit den anderen Ärzten sprechen könnte. Das wird wohl notwendig sein, denn unsere Kommunikation ist eindeutig gescheitert. Manchmal spricht man einfach nicht dieselbe Sprache.

Ich bin äußerst beunruhigt und rufe sofort meine Familie an. Als ich meine Eltern anrufe, schaffe ich es aber, ihnen das ruhig und sachlich mitzuteilen und das als eine gute Lösung zu verkaufen.

Später kommt Beate und ich erzähle ihr, dass ich einfach nicht verstehe, woher dieser Wert kommt. Ich bitte sie, Frau Dr. Berger oder Herrn Jost zu fragen. Sie macht sich auf den Weg und kommt nach einiger Zeit zurück. Und sie erzählt, dass Frau Dr. Berger gesagt hätte, dass sie und Herr Jost total erschrocken waren, als dieser Wert plötzlich mit der Post kam. Aufgrund des Schneewinters hat sich die Post offensichtlich verzögert, so dass dieser Brief einige Wochen später ankam als normal. Sie hätten dann zunächst darüber geschwiegen, um mit dem Oberarzt, der zu dem Zeitpunkt im Urlaub war, über die weitere Vorgehensweise zu sprechen. Inzwischen haben sie dies getan, und man ist sich darüber einig geworden, dass eine Transplantation unumgänglich sei, da ansonsten die Krankheit aller Voraussicht nach spätestens in einem Jahr zurückkehren würde.

Endlich begreife ich, was passiert ist! Es verändert zwar nicht das Ergebnis, aber doch mein Gefühl! Auch die Ärzte sind davon überrascht worden. Ich finde es wirklich wichtig, genau zu verstehen, was Sache ist. Ich kann es nicht ertragen, mich so ausgeliefert zu fühlen und jeden Tag mit allem rechnen zu müssen! Aber offensichtlich muss man das. Die Pastorin sagte einmal, dass wir alle in einer trügerischen Sicherheit leben. Das stimmt wohl. Wir wissen alle nicht, was morgen ist, aber zum Glück denke ich normalerweise nicht allzu häufig darüber nach. In dieser Krise ist es allerdings anders. Oft denke ich auch an die Vergangenheit, an den normalen Alltag, den ich manchmal langweilig fand. Jetzt wünsche ich mir nichts mehr als normale Tage im „Hamsterrad“. Ich brauche momentan keine großen Events, um glücklich zu sein. Eine Perspektive für eine gesunde Zukunft, die brauche ich! Frau Dr. Berger kommt auch noch persönlich zu mir und wir reden. Sie sagt mitfühlend: „Sie sind bestimmt geschockt, oder? Das verstehe ich!“ Ich fange an, mich innerlich etwas mit der Geschichte zu arrangieren. Die anderen Patienten auf dem Flur reden auch tröstend auf mich ein, viele teilen dieses Los mit mir. Eine sehr nette ältere Patientin meint: „Es gibt eben keinen anderen Weg für uns, insofern müssen wir da durch.“

Schinkengang

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