Читать книгу Schinkengang - Gaby von der Heydt - Страница 6
Оглавление3. Kapitel:
„Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.“ Erich Kästner
In den nächsten Tagen bekomme ich diverse Informationen. Komischerweise deprimiert mich eine Nachricht am meisten: Nach der Transplantation darf man in der Wohnung keinen Teppichboden haben wegen möglicher Keime! Sowohl bei mir in der Wohnung als auch bei meinen Eltern befindet sich zum Teil Teppichboden. Gerade haben meine Eltern ein Zimmer renoviert, in dem ich nach der Transplantation schlafen soll. Dort wurde ein neuer Teppichboden verlegt. Heute geht nichts mehr. Ich heule den ganzen Tag und mit jedem Besuch diskutiere ich die ganze Sache von vorn bis hinten. Ich bin total verzweifelt. Alle versuchen, mich zu trösten, aber es gelingt nicht so richtig. Es ist einfach zu viel. Die ganze Geschichte nimmt immer größere Ausmaße an und mir wird langsam klar, dass es auch nach der Transplantation noch keine Entwarnung geben wird. Ich muss mich innerlich wieder auf ein größeres Zeitfenster einstellen. Wann habe ich das nur alles endlich hinter mir?
20.01.2011:
Hi Berit, irgendwie habe ich gerade den totalen Depri, immer noch. Ich habe zwar gut geschlafen, aber heute Morgen ging´s gleich wieder los. Diese Geschichte mit dem Teppich hat irgendwas ausgelöst. Der Arzt fragte eben, was passiert sei und ich erzählte es ihm. Er musste kurz lachen und meinte dann, dass denen natürlich eine Wohnung mit Holzfußboden ohne Pflanzen, ohne Tiere und am besten ohne Menschen am liebsten sei! Das sei aber eben nicht immer umsetzbar und würde die Patienten unter Umständen an den Rand des finanziellen Ruins bringen. Die Schwester gestern Abend meinte noch, dass die Patienten teilweise ihre Wohnungen umbauen. Die Stationsleitung eben meinte, wenn der neue Teppich nochmals shampooniert wird, dann dürfte das Problem auch gelöst sein. Irgendwie habe ich das Gefühl, es kommt immer noch ein Stein auf den Karren und langsam kann ich den nicht mehr ziehen! Meine Eltern haben extra das Zimmer renoviert, und jetzt kommen die damit an! Mein Vater meinte eben, wenn sie das gewusst hätten, dann hätte man Fliesen oder Parkett legen können. Aber ich finde, für die paar Wochen lohnt das nicht, wenn man eigentlich lieber einen Teppich hätte. Irgendwie war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Und ich weiß gerade nicht, wie ich das wieder stoppen kann. Naja, genug gejammert. Wir telefonieren wieder! LG, Gaby
Und dann ist es endlich so weit: Inga kommt! Gerade gehe ich mit meiner Mutter und Beate auf dem Flur spazieren, da sehe ich sie durch den Eingang kommen! Ich gehe auf sie zu, umarme sie und bin so froh, dass sie da ist! Wir gehen zurück in mein Zimmer und bereden alles in Ruhe. Ich erzähle ihr von der bevorstehenden Transplantation. Während sie in Deutschland ist, wird sie in meiner Wohnung wohnen. Sie ist ganz in der Nähe des Krankenhauses, was in diesem Fall sehr praktisch ist, denn sie kann zu Fuß oder mit meinem Fahrrad hierher kommen.
Am nächsten Tag kommt sie direkt vom Wochenmarkt und hat mir Rohkost mitgebracht: Karotten, Kohlrabi und Gurke! Sie schneidet alles zurecht und legt es auf einen großen Teller. Es schmeckt köstlich! Ich esse alles auf, und sie geht in die Küche, um Nachschub zu holen. In letzter Zeit habe ich so wenig frische Sachen gegessen. Ich darf nur geschältes Obst und Gemüse essen. Meine Mutter schält mir immer Paprika, das esse ich gern abends zum Brot. Äpfel darf ich auch essen. Um sie zu schälen, muss ich Gummihandschuhe anziehen, man fürchtet die Keime! Ja, es ist wirklich schön, dass Inga da ist. Sie ist eine echte Freundin! Wer fliegt schon um die halbe Welt, um seiner Freundin beizustehen? Das ist ein ganz besonderes Geschenk.
Jetzt nähert sich der Termin der zweiten Punktion und damit auch der Tag, an dem ich für einige Zeit nach Hause darf. Das bedeutet, dass ich dem Thema Perücke endgültig ins Auge blicken muss! Meine Haare sind in den letzten Wochen immer dünner geworden, und jeden Tag kämme ich etliche aus. Es macht nicht wirklich Spaß, aber bislang konnte ich mich einfach nicht dazu durchringen, sie abschneiden zu lassen. Aber jetzt führt kein Weg mehr daran vorbei. Der Friseur ist schon einmal umsonst erschienen, da ich nicht wusste, dass man die Perücke nur ohne Haare anprobieren kann. Ich rufe im Salon an und vereinbare einen Termin. Gleichzeitig bitte ich meine Freundin Gabi, mir an dem Tag beizustehen. Sie verspricht es und erscheint einige Zeit vor dem Friseur. Dann kommt auch Herr Schmidt. Er bringt zwei große Kisten mit, in denen sich diverse Perücken befinden. Aber zuerst müssen die Haare ab. Er ist wirklich nett und sagt mitfühlend „mein Schatz“ zu mir, worüber ich fast lachen muss. Aber zum Lachen ist mir dann doch nicht wirklich. Ich setze mich auf einen Stuhl und er nimmt den Rasierer. Bevor er startet, verlange ich nach einem Spiegel. Ich möchte sehen, was da passiert. Ich könnte diesen plötzlichen kahlen Anblick nicht ertragen! Er ist erstaunt, gibt mir dann aber den Spiegel und setzt an. Ratz fatz rasiert er die Haare ab. Ich schaue in den Spiegel und sehe die Veränderung. Es ist trotz allem ein seltsamer Anblick. Ich habe eine Glatze. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, sagt Gabi bewundernd: „Mensch, das sieht klasse aus! Du hast eine so tolle Kopfform!“ Und der Friseur stimmt mit ein. Die beiden sind einfach süß. Ja, ich kann mich sogar mit dem Anblick anfreunden und finde es auch nicht so schlecht! Wer hätte das gedacht!??
Dann geht es an die Auswahl der Perücke, aber schon nach kurzer Zeit ist klar, dass nur eine in Frage kommt. Mein Kopf ist zu groß! Für Frauen gibt es solche großen Perücken nur selten, das hat mir der Friseur schon beim ersten Besuch erklärt. Er hatte den Kopfumfang gemessen und war gleich sehr skeptisch. Ich erinnerte mich prompt daran, dass das schon beim Kauf einer Reitkappe nicht so einfach war, damals, vor über 20 Jahren.
Ich setze die Perücke auf und sehe in den Spiegel. Es ist irre. Plötzlich habe ich eine neue Frisur! Und sie sieht ziemlich gut aus! Man sieht nichts. Ich bin begeistert, und auch Gabi und der Friseur sind ganz angetan von meinem neuen Look. Glücklich und erleichtert strahle ich sie an. Diese Haargeschichte hat mich in den letzten Wochen wirklich Nerven gekostet! Aber mit dieser Lösung kann ich gut leben, das weiß ich in diesem Moment.
Ich habe Glück, denn Gabi ist bei mir, die total euphorisch ist und das auch zum Ausdruck bringt. Und der Friseur, der macht es mir leicht, weil er mitfühlt und auch gleich die perfekte „Frisur“ für mich bereit gehalten hat.
Wenig später gehen Gabi und ich (wieder mit vollständigen Haaren!) auf den Flur, und ich setze mich aufs Ergometer, um eine Runde (?!) zu fahren. Eine andere sehr nette Patientin kommt vorbei. Sie sagt: „Oh, da sind ja doch noch Haare!“ Und dann stutzt sie und fragt: „Ist das eine Perücke?“ Und meint dann, dass die Perücke sehr gut gemacht sei. Auch die anderen Patienten äußern sich wohlwollend. Herr Jost geht vorbei und äußert: „Sieht gut aus“ und lächelt mich an. Süß sind sie alle. Sie wissen genau, wie schwierig das für mich war. Und ich bin jetzt wirklich zufrieden. Man sieht mir mit der Perücke meine Krankheit nicht an.
Die Krankenkasse zahlt nur einen Teil, etwa die Hälfte der Kosten für die Perücke. Etwa 300,-- Euro muss ich selbst zahlen. Nein, ich muss es nicht, denn meine liebe Tante hat mir das Geld bereits zu Weihnachten geschenkt.
Als ich später allein bin, sehe ich mich nochmals ohne Haare im Spiegel an. Daran muss ich mich erst noch gewöhnen, aber erstaunlicherweise geht das relativ schnell. Ich hab lange mit der Sache gehadert, aber jetzt, da die Haare ab sind, ist das Thema dann auch erledigt.
Andere Patienten sind in dieser Hinsicht viel stärker als ich: Sobald die ersten Haare ausfallen, lassen sie sie abrasieren. Hut ab! Ich hätte mir damit auch viel erspart.
Dann kommt der Tag, an dem meine Leukozyten über 1000 klettern, und das bedeutet, dass die Zeit der Isolation vorbei ist. An meiner Zimmertür hängt außen ein Schild, auf dem steht ein Hinweis darauf, dass vor Betreten des Zimmers ein Mundschutz erforderlich ist und Desinfektion der Hände erfolgen muss. Sobald klar ist, dass die Leukozyten im „grünen“ Bereich sind, wird das Schild von den Ärzten umgedreht. Und das hat zur Folge, dass mein Radius sich erweitert, sprich, ich kann die Station verlassen!
Hi Gabi, nachdem ich gestern den ganzen Tag nur geheult habe, ging’s mir heute schon viel besser. Heute Mittag war ich raus aus der Isolation! Inga kam gerade und nach dem Mittagessen haben wir sofort einen kleinen Spaziergang gemacht. Es war einfach toll, nach sieben Wochen frische Luft einzuatmen! Leider passt Beates Knochenmark nicht...das war heute enttäuschend. Schade, es wäre so eine tolle Lösung gewesen. Aber dafür hat mir die Ärztin erzählt, dass meine Leber- und Nierenwerte erstaunlich gut sind! Sie meinte, sie seien „fast zu jungfräulich". Die Zellen bauen sich langsam wieder auf. Am Montag ist die Punktion, und dann kann ich nach Hause. Und ich muss erst am 7. Februar wieder hier sein. Das heißt, ich werde an meinem Geburtstag bei meinen Eltern sein, was mich total freut! Jetzt geht die Spendersuche los. Aber ich bin optimistisch, dass das schnell über die Bühne gehen wird. Ja, im Moment sieht alles ganz gut aus, und trotzdem bin ich ungeduldig und möchte lieber heute als morgen nach Hause. Es reicht jetzt hier einfach. Und ich sitze noch das ganze Wochenende hier und warte auf die Punktion. Aber ich will nicht undankbar sein, ich darf dann ja wirklich für einige Zeit nach Hause. Essen klappt im Moment prima und ich hoffe, das bleibt auch zu Hause so. Das war´s von mir.... Ich hoffe, bei Dir ist alles ok...wahrscheinlich räumst Du in Gedanken schon Deine neue Wohnung ein. LG, Gaby
Liebe Helga, ach, ich wäre auch gern dabei gewesen in Gettorf! Wir haben dort so lange nicht mehr gesungen, früher waren wir doch regelmäßig da. Danke, dass Du schreibst, dass meine Stimme fehlt.... Der Sopran ist doch immer ganz gut besetzt, und Solisten gibt’s ja auch zuhauf. Ich glaube, es wird noch eine ganze Weile dauern, bis ich wieder dabei bin. Wenn alles nach Plan läuft, dann erfolgt die Transplantation im März/ April. Danach muss ich noch drei Monate richtig vorsichtig sein und sollte Menschenansammlungen nur mit Mundschutz begegnen. Ich gehe wohl nach der letzten Behandlung erstmal zur Reha, ich hoffe, nach St. Peter! Ja, die Transplantation: Zuerst wird wieder eine Chemo durchgeführt und das Knochenmark wird dabei sozusagen plattgemacht. Dann bekommt man das neue Knochenmark über die Vene zugeführt, das soll dann nach zehn Tagen anwachsen. Nach dieser Prozedur soll man mit dem Thema Leukämie durch sein. Wenn doch noch irgendwo eine entartete Zelle sein sollte, dann erkennt das neue Knochenmark diese und kann sie im besten Fall abstoßen. Ich habe hier emotional so meine Höhen und Tiefen, manchmal könnte ich den ganzen Tag nur heulen.....und vor ein paar Tagen habe ich es auch getan. Ich hatte den Krankenhaus-Koller.....nach acht Wochen erlaubt, finde ich. Aber in zwei//drei Tagen kann ich für fast zwei Wochen nach Hause! Ich werde dann bei meinen Eltern sein, die 72 Stufen in meine Wohnung jeden Tag, das wäre wohl etwas anstrengend... Außerdem wohnt gerade meine Freundin aus Neuseeland in meiner Wohnung. Sie kommt mich fast jeden Tag besuchen, und seit ein paar Tagen darf ich die Station verlassen, so dass wir draußen spazieren gehen können. Nach sieben Wochen Isolation...ich sag Dir, es ist ein so tolles Gefühl, wieder Frischluft einzuatmen!! Naja, ansonsten fahre ich hier auf dem Ergometer und ich merke, wie ich von Tag zu Tag fitter werde. Und das ist auch gut so, denn zu Hause werde ich viel mehr in Bewegung sein. Haare habe ich nicht mehr...aber ich finde meine Perücke richtig gut. Es fiel mir so schwer, mich von meinen Haaren zu verabschieden, aber seitdem sie endgültig weg sind, ist das total nebensächlich geworden. Irgendwann wachsen sie wieder.
Ich darf zu Hause auch wieder alles essen, z.B. frischen Salat. Ehrlich gesagt freue ich mich auf einen Big-Mäc...ich weiß, es ist eklig, aber in den letzten Tagen hatte ich solchen Hunger darauf. Naja, jetzt habe ich Dich vollgetextet. Ich hoffe, Dir und Deiner Familie geht’s gut! Liebe Grüße, Gaby
Und dann kommt die nächste Punktion. Nachdem die letzte so furchtbar war, frage ich Herrn Jost, ob er diese Punktion nicht selbst durchführen kann. Er sagt, er guckt, was er tun kann. Und tatsächlich, einige Zeit später steckt er seinen Kopf in die Tür und kündigt an, dass es demnächst losgehen wird. Nachdem er seine Instrumente aufgebaut hat, drehe ich mich auf die Seite, und er setzt seine Betäubungsspritze. Uff! Dann verschwindet er für ein paar Minuten, während die Spritze wirkt. Schließlich kommt er zurück, und nach kurzer Zeit erscheint auch die MTA. Herr Jost beginnt mit der Punktion. Er ist ganz ruhig und erklärt mir jeden Schritt. Schließlich zieht er die Nadel langsam wieder heraus und übergibt die Probe an die MTA, die sich diese sofort unter dem Mikroskop ansieht. „Ja, alles okay!“, antwortet sie, und damit meint sie, dass Bröckchen vorhanden sind. „Wirklich?“, frage ich ungläubig. Ich kann es kaum glauben und bin ziemlich erleichtert. „Ich wusste doch gleich, es wird gut, wenn Sie es machen“, sage ich zu Herrn Jost. Aber er erklärt mir, dass die Knochenmarksituation beim letzten Mal eine andere war. Damals war das Knochenmark noch nicht wieder richtig aufgebaut, es sollte ja noch eine Chemo folgen. Dann ist das mit den Bröckchen wohl nicht so einfach. Aber jetzt hatte sich das Knochenmark schon weiter aufgebaut. Achim erzählt mir auch hinterher, dass Frau Dr. Egerland seiner Meinung nach die besten Punktionen macht. Insofern lag das offensichtlich nicht an ihr.
Na, jedenfalls ist es vorbei, ich bin sehr erleichtert und muss wie gewohnt noch eine Dreiviertelstunde auf einem kleinen Sandsack liegen. In dem Knochen ist jetzt ein Loch, und man will keine Blutung entstehen lassen.
Jetzt geht das Warten wieder los. Ich gehe davon aus, dass das Ergebnis morgen da sein wird. Zwar ist davon jetzt nicht mehr so viel abhängig, denn die Transplantation wird auf jeden Fall durchgeführt, aber für mich persönlich ist es sehr wichtig zu wissen, ob die Krankheit komplett eingedämmt werden konnte! Ich weiß, dass ich dann mit einem anderen Gefühl nach Hause gehen werde und ich der weiteren Behandlung viel optimistischer entgegen sehen kann. Wiederum bin ich sehr unruhig und sehe dem morgigen Tag mit Spannung entgegen.
Morgens kommt Frau Dr. Egerland zum Blutabnehmen. Sie warnt mich: „Eine Frage ist nicht erlaubt…wann Sie nach Hause können!“ Doch dann fügt sie hinzu: „Es wird heute sein, aber wir wissen noch nicht, wann.“ Ich frage sie nicht, sage aber, dass ich richtig Angst vor dem Ergebnis hätte. Sie antwortet: „Bitte keine Angst haben. Sollte der Wert nicht unter 5% liegen, ist der Weg fast derselbe. Nur die kommende so genannte Erhaltungschemo wird etwas anders dosiert sein.“ Es beruhigt mich ein bisschen, aber ich bete trotzdem, dass der Wert in Ordnung ist!
25.01.2011:
Halt die Ohren steif!! Ich weiß, dass das Ergebnis gut wird!!!! Ich denk an Dich. Liebe Grüße, Wiebke
Später ruft Inga an und fragt, ob sie jetzt vorbeikommen soll. Ja, bitte! Ich bin sehr froh, wenn sie bei der Visite bei mir ist. Kurze Zeit später erscheint sie und gemeinsam warten wir auf die Ärzte. Es dauert. Schließlich hören wir die Visite kommen. Und dann gehen sie offenbar an meinem Zimmer vorbei! Ich liege im vorletzten Zimmer. Sie gehen erst zum letzten Zimmer. Aber dann, endlich öffnet sich die Tür. Frau Dr. Egerland kommt mit Schwester Nicole herein. Sie setzt sich auf einen Stuhl, Schwester Nicole setzt sich auf mein Bett. „Ja“, beginnt die Ärztin „bei der Post bekommt man doch 5%, oder?“ Ich bin verwirrt. „Kann sein“, sage ich und denke, was um Himmels Willen will uns diese Frau sagen?? „Naja, meint sie, „Sie sind unter 5%!“
Ich reiße die Arme hoch, als hätte ich einen Boxkampf gewonnen und schreie „Juchuuu!“ Schwester Nicole lacht und man sieht, sie freuen sich mit mir. Ich bin so erleichtert! Im Moment sei ich leukämiefrei, sagte die Ärztin dann noch. Oh Mann, das ist so schön!!! Ich bin auch sehr froh, dass ich diese gute Nachricht jetzt an viele Menschen weiterleiten kann. „Aber die Transplantation wird trotz allem notwendig sein“, sagt Frau Dr. Egerland jetzt, als wenn mir das zwischenzeitlich entfallen sein könnte. „Ja ja“, antworte ich, denn im Moment interessiert mich das wenig. Wichtig ist nur: Die Therapie hat angeschlagen und im Moment habe ich erst einmal Ruhe vor den kranken Zellen!
Inga strahlt auch. Es ist so schön, dass sie bei mir ist! Ich frage, wann ich nach Hause kann, und die Ärztin sagt, ich soll nicht hetzen. Sie muss jetzt den Arztbrief schreiben usw., und wahrscheinlich wird es erst heute Nachmittag etwas. Die Visite ist vorbei, und ich rufe als Erstes meine Eltern an. Mein Vater ist am Telefon, und plötzlich kann ich vor Tränen kaum sprechen. „Ich bin unter 5%“, bringe ich schließlich mühsam hervor. „Na, siehst Du!“ antwortet mein Vater erleichtert. Er fragt dann noch, wann sie mich abholen sollen, aber das weiß ich eben noch nicht.
Ich schreibe sofort eine Mail an Wiebke:
Ich bin unter 5%..... Meine Güte, das war spannend.
Kurze Zeit später kommt Frau Dr. Egerland erneut herein und bemerkt erstaunt: „Sie haben ja noch gar nicht gepackt!“ Ich sage überrascht: „Wie? Sie haben doch gesagt, ich soll nicht hetzen!“ „Na, ich dachte nicht, dass Sie das so wörtlich nehmen“, antwortet sie und gibt mir den Arztbrief. Fakt ist jedenfalls, ich darf endlich nach Hause!
Kaum ist sie draußen, springe ich auf, gehe zum Schrank, hole meine Tasche heraus und fange an, die Klamotten hineinzuwerfen. Dann rufe ich meine Eltern an und erzähle, dass ich abgeholt werden kann. Sie versprechen, kurzfristig zu kommen. Inga hilft mir beim Packen. Etwa eine halbe Stunde später erscheinen meine Eltern. Wir haben Mühe, die ganzen Sachen inklusive der Geschenke, der ganzen Bücher, der Bilder usw. einzupacken. Und das, obwohl meine Eltern vor einiger Zeit schon etliche Sachen mitgenommen hatten.
Zu viert schleppen wir den ganzen Kram aus dem Zimmer. Mein Vater geht schon zum Auto vor. Ich verabschiede mich noch von einer Schwester, und sie fragt: „Na, geht’s jetzt gleich zu Mc Donald´s?“ Ich antwortete, „jetzt wohl nicht, aber bald!“ und grinse in freudiger Erwartung auf einen Big-Mäc!
Unten am Auto angekommen verabschieden wir uns von Inga, die jetzt wieder mit dem Fahrrad in meine Wohnung fährt. Plötzlich laufen mir die Tränen über das Gesicht. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich jetzt tatsächlich ins Auto einsteigen kann und nach Hause bzw. zum Haus meiner Eltern fahren kann. Wir verabschieden uns von Inga und fahren los. Ich sehe aus dem Fenster und es ist ein sehr schönes Gefühl, sich vom Krankenhaus zu entfernen!
Zu Hause angekommen, setze ich mich aufs Sofa und esse sofort zwei Stücke Zitronenkuchen, nachdem ich in den letzten Tagen nicht so viel essen konnte. Ich genieße es, in einem ganz normalen gemütlichen Wohnzimmer zu sitzen. Zwei Wochen werden mir hier bleiben und nächste Woche ist mein Geburtstag. Nach den Feiertagen in der Klinik bin ich sehr froh, dass ich wenigstens meinen Geburtstag zu Hause verbringen darf.
Eine Sache steht mir noch ziemlich bevor: Ich muss zum Aufklärungsgespräch in die Mildred-Scheel-Klinik. Frau Dr. Egerland hat mir bereits angekündigt, dass ich dort einige Dinge hören werde, die mir nicht gefallen werden. Insofern sehe ich diesem Gespräch sehr beunruhigt entgegen. Es ist auch gleich in den ersten Tagen angesetzt.
Zusammen mit meiner Mutter mache ich mich auf den Weg. Wir finden das Mildred-Scheel-Haus und mit Mühe auch einen Parkplatz. Die Parkplatzsituation an der Uniklinik ist eine Katastrophe! Endlich in der Klinik angekommen, werden wir von der Mitarbeiterin an der Rezeption sofort in das Gebäude gegenüber geschickt, damit ich mich dort anmelden kann. Das tue ich und anschließend setze ich mich zu meiner Mutter ins Wartezimmer. Ich fühle mich nicht besonders wohl, ich kenne hier niemanden. Keinen Arzt, keine Schwester. Meine Mutter und ich müssen lange warten. Meine Mutter regt sich auf. Sie meint, das sei alles zuviel für mich. Und ich habe wirklich nicht so viel Energie, dass ich hier stundenlang sitzen kann. Nach zwei Stunden gehe ich nach vorn und frage, ob sie mich vielleicht vergessen haben. Die Mitarbeiterin entschuldigt sich und sagt, es sei heute ein chaotischer Tag, und es wäre sehr viel zu tun. Aber meine Akte liegt schon ganz oben, wie sie mir zeigt. Ich bin die Nächste. Kurz darauf werden wir tatsächlich aufgerufen, ein Arzt bittet uns mitzukommen, es ist Dr. Grüner. Wir folgen ihm in sein Büro. Er spricht mit mir zunächst über die erfolgte Behandlung. Dann beschreibt er den Vorgang der Transplantation. „Wir verpassen Ihnen ein neues Immunsystem“, erklärt er. Ich lerne, dass man nach der Transplantation quasi auf dem Stand eines Säuglings ist, was das Immunsystem angeht. Das System baut sich komplett neu auf. Dieser Prozess dauert etwa zwei Jahre! Ich erfahre, dass ich frühestens ein Jahr nach der Transplantation wieder arbeiten kann. Ich werde neu durchgeimpft werden, und erst nach den ersten sechs Impfungen ist man einigermaßen geschützt. Das Immunsystem muss „nachgeschult“ werden und wieder lernen, richtig zu arbeiten. Puuh. Meine Pläne, im Herbst wieder zu arbeiten, haben sich damit bereits zerschlagen. Auch in die Reha nach St. Peter kann ich nach Abschluss der Behandlung nicht. Es wäre viel zu gefährlich! In den Monaten nach der Transplantation muss ich Menschenansammlungen strikt meiden wegen der erhöhten Ansteckungsgefahr. Mir schwant, dass auch Chorproben erst gegen Ende des Jahres möglich sein werden.
Aber es kommt noch viel schlimmer. Ich möchte jetzt etwas Positives hören und frage: „Aber es stimmt doch, dass das Risiko eines Rückfalls nach der Transplantation erheblich geringer ist, oder?“ Der Arzt bestätigt dies, kündigt aber sofort an, dass er mich noch über die Risiken aufklären muss.
Und das tut er. Zuerst muss ein Spender gefunden werden. Nach einem Blick in seinen Computer stellt er fest, dass es bereits einen 70%igen und einen 90%igen Spender gibt! Er sagt, das sähe schon ganz gut aus, wobei man den 70%igen nur im Notfall nehmen würde, da die Abstoßungsgefahr zu groß sein. Es gibt zehn Merkmale, die übereinstimmen können. Bei 70% stimmen nur sieben überein. Dass Spender vorhanden sind, ist eine gute Nachricht. Dann erzählt der Arzt, dass da eben die Gefahr der Abstoßung sei. In dem Zuge könnte „sich schon mal ein Organ auflösen“. Ich bin erschrocken! Der Arzt versichert, dass es für alle Fälle Medikamente und Möglichkeiten gäbe.
Anwachsen würde das Knochenmark fast immer, sagt er. In den ersten Monaten bekommt man Medikamente, die das Immunsystem unterdrücken, man nennt sie Immunsuppressiva. In der Regel werden diese Medikamente nach 100 Tagen abgesetzt. Erst dann weiß man, ob es Abstoßungsreaktionen gibt oder nicht.
Leichte Abstoßungsreaktionen wünschen sich die Ärzte sogar, weil man die Krankheit dann besser im Griff hat. Es ist eine Gratwanderung. Schwere Abstoßungsreaktionen können natürlich zum Tod führen.
Sehr gefährlich ist der geringe Schutz nach der Transplantation. Ein Mundschutz wird noch längere Zeit in vielen Situationen erforderlich sein. Problematisch ist z.B. ein Virus, weil das Immunsystem den beim besten Willen nicht abwehren kann, letztlich kann mich in der ersten Zeit ein normaler Schnupfen umbringen! Ich kann mir das gar nicht so richtig vorstellen….und möchte es auch nicht! Dann aber sagt der Arzt den Satz, der mich umhaut: „30% der Patienten sterben an den Folgen der Transplantation.“
Jetzt ist es vorbei. Schockiert starre ich ihn mit offenen Mund an und muss das erstmal verdauen. Er bemerkt meine Schockstarre und fügt hinzu, dass jetzt bei mir aber genau der richtige Zeitpunkt sei, um die Transplantation durchzuführen. Die Chemo hat die Krankheit zurückgedrängt, momentan bin ich leukämiefrei. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung sind durchaus günstig, zumal ich mit knapp 42 Jahren noch relativ jung bin und keine Vorerkrankungen habe. Als wir schließlich das Zimmer verlassen, meint er noch: „Das haben schon ganz Andere vor Ihnen geschafft!“ Es tröstet mich seltsamerweise etwas.
Wir gehen wieder ins Wartezimmer, weil gleich noch jede Menge Blut abgenommen werden wird. Mir kommen die Tränen, und meine Mutter versucht mich zu trösten. Dann werde ich aufgerufen, und ich gehe ins Behandlungszimmer. Hier erwartet mich eine junge Schwester. Es stellt sich heraus, dass sie Dora heißt und normalerweise auf der Bettenstation arbeitet. Mir laufen die Tränen übers Gesicht. Sie fragt mitfühlend: „Sie sind völlig fertig, oder?“ Ich erzähle ihr von dem Gespräch, und sie sagt energisch: „Ach, so schlimm ist das alles gar nicht!“ Ich sage verzweifelt: „Aber was da alles passieren kann!“ (Nebenbei stelle ich fest, dass sie mir 18! Röhrchen Blut abnehmen wird. Ich bin fassungslos und frage, ob sie noch ein bisschen Blut in meinem Körper lassen wird.) Sie meint, dass immer alles Mögliche passieren kann. Und dann erzählt sie von ihrer letzten Sitzung beim Zahnarzt, der einen Weisheitszahn entfernen wollte und sie auch über Behandlungsrisiken aufgeklärt hat. Am Ende wollte sie wieder gehen, sagt sie. Ich muss gegen meinen Willen grinsen. Ich weiß, was sie meint. Aber es werden wohl kaum 30% der Patienten an den Folgen der Weisheitszahn-OP sterben…
Wie auch immer, ich fühle mich etwas besser. Sie muntert mich noch ein wenig auf und erzählt mir, dass oben auf der Station ein sehr nettes junges Team sei. Am Ende hat sie mich sogar von den 18 Röhrchen abgelenkt.
Ja, und dann bekomme ich noch einen Berg Papiere in die Hand gedrückt, den ich möglichst sofort lesen und unterschreiben soll. Dazu bin ich aber jetzt nicht mehr in der Lage. Somit nehme ich den Papierkram mit nach Hause.
An diesem Tag bin ich so fertig, dass ich fast nichts mehr esse. Ich telefoniere mit diversen Freundinnen und erzähle alles mindestens fünfmal. Ein sehr ungutes Gefühl bleibt.
Beim nächsten Termin in der Ambulanz treffe ich Peter, einen Patienten aus dem Städtischen Krankenhaus. Ihn und zwei andere Patienten nennen wir immer „Die Drei von der Tankstelle“, da sie ständig im Flur stehen und quatschen. Ich freue mich, Peter zu sehen. Wir unterhalten uns noch über das Aufklärungsgespräch, und Peter ist da völlig entspannt. Er erzählt: „Ich habe dem Arzt gleich gesagt, ich weiß, ich kann sterben. Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen.“ Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt von seiner zumindest äußeren Gelassenheit!
In den zwei Wochen zu Hause bin ich ziemlich schwach. Einige Leute, u.a. natürlich Inga, besuchen mich. Es kostet mich viel Energie, die einfachsten Dinge zu tun.
Zwischendurch telefoniere ich mit Achim, der zu Hause war, als ich entlassen wurde. Inzwischen ist er wieder in der Klinik, um die voraussichtlich letzte Chemo zu absolvieren. „Ich liege in Deinem Bett“, sagt er, und ich lache. Er hat demnach jetzt mein schönes Zimmer Nr. 4 bekommen!
Meinen Geburtstag feiere ich mit meiner Familie und einigen wenigen Freundinnen, alles andere wäre viel zu anstrengend. Zunächst hatten sich einige vormittags, die anderen nachmittags und der Rest abends angemeldet. Ich setze mich jedoch durch und lade alle wieder aus bis auf diejenigen, die nachmittags Zeit haben. Wir haben ein paar sehr nette Stunden. Ich trage meine Perücke und fühle mich wohl mit meiner neuen Frisur! Im Gegensatz zu früher habe ich jetzt glatte Haare mit Strähnchen. Mal was Anderes!
Dann nähert sich schon wieder der nächste Klinikaufenthalt. Ein paar Tage vorher habe ich solche Bauchschmerzen, dass meine Hausärztin vorbeikommt. Es stellt sich heraus, dass ich wohl eine Muskelzerrung im Bauch habe. Ich hatte aufgrund des inneren Stresses ein Magengeschwür befürchtet. Als sie von einer Muskelzerrung spricht, geht’s mir gleich besser, denn ich merke, dass sie möglicherweise recht hat, da ich nur beim Atmen Schmerzen habe.
Am folgenden Montagmorgen fährt meine Mutter mich wieder ins Krankenhaus. Ich bin gespannt, ob ich wieder ein Einzelzimmer bekomme. Schwester Nicole empfängt uns und teilt mir auf meine Frage hin mit, dass ich diesmal in einem Zweibettzimmer liegen werde. Vorerst gehen wir aber in den Aufenthaltsraum, um darauf zu warten, dass mein Bett hergerichtet wird.
Ich sitze mit meiner Mutter im Besucher- und Aufenthaltsraum und hier hält sich gerade eine weitere Familie auf, die offensichtlich auch auf ein Bett wartet.
Plötzlich steckt Herr Jost den Kopf durch die Tür. Er begrüßt uns und sagt dann mitfühlend: „Oh Mann! Ich hab schon gehört. Wir schnacken in den nächsten Tagen noch mal drüber!“ und spielt damit auf meinen Frust wegen des Aufklärungsgespräches an (Meine Hausärztin hat im Zuge meiner Bauchschmerzen mit den hiesigen Ärzten darüber gesprochen). Ich bin ihm dankbar! Und fühle mich tatsächlich, als wenn ich wieder zu Hause bin. Diese Station mit ihren Ärzten, Schwestern und Pflegern ist mir einfach so vertraut.
Dann gehe ich in mein altes Zimmer, in dem jetzt Achim liegt. Seine Frau ist gerade bei ihm. Sie erzählen mir lachend, was sich gerade zugetragen hat: Die Reinigungskraft Marina öffnete die Tür nur einen Spalt und sagte zu Achim: „Ihre Freundin ist wieder da!“ Dann machte sie die Tür weiter auf, sah seine Frau und wurde puterrot! Achim und seine Frau haben sich gebogen vor Lachen, und auch ich muss jetzt lachen!
Dann werde ich von der Schwester in mein Zimmer geführt. Meine Bettnachbarin ist gerade nicht da. Meine Mutter hilft mir, meine Sachen in den Schrank zu räumen. Kurze Zeit später erscheint eine sympathisch wirkende Frau. Wir unterhalten uns, und ich erfahre, dass sie als Lehrerin an der Schule arbeitet, in die ich früher ging. Spannend! Ich frage nach allen möglichen Lehrern und sie erzählt mir, was sich alles so verändert hat.
08.02.2011:
Hallo Christine, ich muss Dir unbedingt was erzählen: Seit gestern bin ich wieder in der Klinik und zwar in Zimmer 6, das ist ein Doppelzimmer. Es ist schon eine Umstellung, denn vorher war ich einfach freier und konnte tun und lassen, was ich wollte (naja, nicht wirklich). Meine Nachbarin ist aber sehr nett, sie ist Lehrerin an unserer Schule! Irgendwie hat sie seit gestern immer gute Laune (während ich heute Morgen schon heulen musste, als ich hier wieder aufwachte). Gestern kam ihre Tochter vorbei. Sie wirkte auch total nett und sagte fröhlich: „Hallo, ich bin die Tochter!". Später kam dann ihr Lebensgefährte. Er würdigte mich keines Blickes. Ich sah ihn an und wollte ihn begrüßen, aber er beachtete mich nicht, und ich dachte, naja, dann eben nicht. Ich erinnerte mich auch daran, dass ich ihn schon öfter im Flur getroffen hatte (als ich noch auf Zimmer 4 war), und er hatte auch entweder gar nicht oder nur ziemlich brummig zurück gegrüßt. Als heute meine Eltern kamen, erzählte ich ihnen das im Aufenthaltsraum. Ich ging dann nochmals in das Zimmer, um meine Augen zu spülen, das muss ich bei dieser Chemo alle zwei Stunden machen. Da saß er auch schon wieder und beachtete mich nicht. Meine Eltern gingen dann, und ich ging zurück ins Zimmer und machte es mir auf meinem Bett bequem. Plötzlich sprach er mich an: „Sind wir uns denn schon mal im Unterricht begegnet?" Ich begriff, dass er auch Lehrer ist und fragte „wie ist denn Ihr Name?" Und jetzt kommt´s, er antwortete: „Voß"!!! Ich war völlig baff. „Herr Voß", sagte ich fassungslos, „ich hätte Sie nicht wieder erkannt! Er meinte, er sei ja auch älter geworden. Und meine Nachbarin meinte, wir hätten beide an Haaren verloren... :-) Er konnte sich an meinen Namen erinnern, und an Deinen auch! Ist das nicht unglaublich? Heute war der erste Tag der Chemo, die drei Tage à sechs Stunden läuft. Ich hoffe, bei Dir ist alles ok! Liebe Grüße, Gaby
Herr Voß war vor Urzeiten unser Physiklehrer. Zugegebenermaßen war Physik nicht mein Lieblingsfach. Unterstützend kam hinzu, dass unser Lehrer es den Mädchen sowieso nicht zutraute. Insofern habe ich von dem Unterricht nur wenig mitbekommen.
In dieser Zeit kommt Herr Jost und spricht mit mir nochmals über die bevorstehende Transplantation. „Natürlich muss in dem Zusammenhang das Wort Tod fallen“, sagt er. Aber er macht mir Mut und redet vornehmlich darüber, was diese Prozedur mir hoffentlich bringen wird. Als er das Zimmer verlassen hat, bemerkt meine Nachbarin: „Na, da hat er doch jetzt die richtigen Worte gefunden.“ Das stimmt. Und trotzdem bleibt eine nagende Angst.
Ja, und die nächste Zeit ist dann eher unauffällig. Nach einigen Tagen zieht meine Nachbarin in ein Einzelzimmer um, und die nächsten Tage bin ich in diesem Doppelzimmer allein. Die Chemo dauert diesmal drei Tage, ist aber auch recht anstrengend, weil ich alle zwei Stunden meine Augen spülen muss, teilweise auch nachts. Ansonsten besteht die Gefahr einer Bindehautentzündung! Dazu muss ich mich an die Bettkante setzen und manchmal bin ich so schlapp, dass ich dazu gar keine Lust habe. Aber es muss eben sein.
10.02.2011:
Liebe Tine, ja, es ist mir recht, dass Du nächste Woche kommst. Ich freue mich! Bis dahin geht´s mir bestimmt auch besser. Momentan werde ich von Übelkeit und Fieber geplagt. Heute Nacht hatte ich plötzlich 39,7, ich war echt erschrocken, aber die Schwester meinte, das kommt von der Chemo und geht wieder weg. Und so war es auch. Heute Morgen hatte ich auch Fieber, bekam dann wieder Tabletten, und im Moment ist es runter.
Auffällig ist, dass ich in dieser Zeit fast keinen Besuch mehr bekomme. Nachdem sich die Leute wochenlang die Klinke in die Hand gegeben haben, ist es jetzt wie abgeschnitten. Meine Eltern kommen nach wie vor täglich. Beate ist mit einem sehr schlechten Gewissen für drei Wochen nach Australien geflogen. Ich habe ihr zugeraten, dies zu tun, sie braucht einfach Urlaub! Inga ist inzwischen wieder zurück in Neuseeland, Wiebke ist für einige Zeit im Skiurlaub, und Gabi ist mit ihrer Diplomarbeit beschäftigt. Somit komme ich wieder zum Lesen.
An einem Sonntagmorgen besuchen mich Gudrun und Anne, was sehr schön ist! Auch Laura und Christine kommen ab und zu vorbei.
11.02.2011, an Petra vom Chor:
Übrigens, zum Geburtstag habe ich von meinen Eltern und Beate ein (gebrauchtes) E-Klavier bekommen! Ist das nicht der Hammer? Ich habe mich total gefreut, habe doch schon lange damit geliebäugelt. Gibst Du eigentlich auch Klavierunterricht? Ich werde wohl noch viel Zeit haben, Klavier zu spielen, da ich noch ein Jahr nach der Transplantation nicht arbeiten darf. Seufz! Na jedenfalls würde ich gern bei Dir Unterricht nehmen, wenn Du so etwas machst. Wenn alles plangemäß läuft, habe ich die stationären Klinikaufenthalte Mitte April hinter mir. Oh Mann, und im Herbst können wir hoffentlich auch das Thema Band mal wieder in Angriff nehmen. Naja, mal schauen...vielleicht plane ich auch gerade zuviel.
Ja, natürlich mache ich auch Pläne für die Zeit „danach“. Obwohl, als meine Eltern und Beate mir das Klavier schenkten, kam mir schon der Gedanke, ob sich das noch lohnt bzw. ob ich das jemals nutzen werde. Was passiert mit dem Ding, wenn ich es nicht schaffe? Ich denke auch daran, dass meine Familie dann wohl meine Wohnung ausräumen und auflösen muss. Trauriger Gedanke.
13.02.2011:
Hallo Gabi, vorhin um viertel nach acht dachte ich; „Mann, sonntags zu Hause würde ich mich nochmals umdrehen und hier bin ich um diese Zeit schon geduscht, habe gefrühstückt und gucke „Dance Academy", was es immer sonntags früh gibt.
Es ist schon lustig, dass der Tag hier wirklich ganz anders abläuft als zu Hause. Ich sehe zu völlig anderen Zeiten fern, was soll man hier sonntags am Morgen ansonsten auch machen?
14.02.2011:
Hallo Angela, letzte Woche hatte ich schon eine Mail an Dich angefangen, aber mir ging’s nicht so gut, und ich bin wieder davon abgekommen. Die Chemo letzte Woche war kurz aber heftig. Ich konnte tagelang überhaupt nichts essen und hatte darüber hinaus Fieber. Aber das ist Gott sei Dank vorbei, ich kann auch wieder essen. Wenn das Essen hier doch mal besser schmecken würde...aber meine Eltern haben mir heute Nudelauflauf und Obst mitgebracht. Momentan wird ein Spender näher getestet, der zu 90% geeignet ist. Der Arzt hat mir heute gerade erzählt, dass das fehlende Merkmal (es gibt zehn) eins der nicht wichtigen ist. Aber die Feinabstimmung muss stimmen, und ich hoffe, es passt, auch terminlich, damit ich hier nicht noch eine Runde drehen muss. Hilfe. Erstmal freue ich mich auf den nächsten Urlaub bei meinen Eltern. Wie sieht´s bei Euch aus? Bestimmt viel Arbeit. Ich wünsch Dir wirklich, dass meine Vertretung schnell lernt und bald selbstständiger arbeiten kann! Ich liege jetzt in einem Doppelzimmer, allerdings bin ich zurzeit allein, mal schauen, wie lange das so bleibt. Ich hatte bis Freitag eine nette Nachbarin, aber allein ist es doch besser. Was Besuch angeht, so ist es gerade wie abgeschnitten. Meine Schwester ist in Australien, Inga wieder zu Hause, Wiebke im Urlaub...naja, das waren immer die Menschen, die mich am häufigsten besucht haben. Im Moment stört´s mich nicht, ich komme jetzt auch mal zum Lesen, außerdem schlafe ich auch viel.
Und dann steckt plötzlich Herr Jost den Kopf in die Tür und verkündet: „Es sind zwei hundertprozentige Spender identifiziert!“ „Wirklich“, frage ich ungläubig, und er nickt und erklärt mir, dass diese jetzt weiter untersucht werden müssen, damit festgestellt werden kann, ob sie als Spender auch wirklich geeignet sind. Was für eine gute Nachricht! Irgendwie habe ich gerade das Gefühl, dass sich jetzt doch alles zusammenfügt.
15.02.2011:
Und Petra hat gerade auf meine Mail geantwortet. Ich kann bei ihr Klavierunterricht nehmen, toll, oder??? Mal sehen, wie es nach dem Mildred-Scheel-Haus so ist, wie ich mich fühle und so. Aber dann mache ich das. Ich hoffe, meiner Lieblingsschwester geht´s gut am anderen Ende der Erde! Du fehlst mir hier schon...irgendwie ist der Besuch wie abgeschnitten, keiner hat mehr richtig Zeit! Dafür kannst Du natürlich nichts.
Nein, Beate kann nichts dafür, und auch sonst niemand. Die Diagnose Leukämie im November war für mich und viele andere Leute ein Schock. Jetzt ist der Schock scheinbar abgeebbt. Die Leute wenden sich nach über drei Monaten wieder ihrem Alltag zu. Das ist wohl der normale Gang der Dinge.
15.02.2011:
Liebe Inga, nur ganz kurz, die nächsten Tage mehr: Heute ging´s mir nicht besonders, da ich letzte Nacht wieder Fieber hatte. Das schlaucht so! Ich musste dann heute wieder zum Röntgen und war ansonsten zu nichts in der Lage. Vorhin rief ich einen Freund meines Vaters an, der heute 88 wird. Er sagte: „Ach Gaby, Du arme Maus..." und ich fühlte mich auch gleich so! Ich hatte fast einen Durchhänger, las dann in der Brigitte über Bianca Scholz (die Frau, die damals überfallen wurde und seitdem im Rollstuhl sitzt) und ich versuchte mir klarzumachen, dass ich wirklich die Chance habe, komplett gesund zu werden. Das ist viel wert! Liebe Grüße, Gaby
16.02.2011:
Boah Ulrike, was für eine Megamail! Da kann ich nicht mithalten, obwohl ich definitiv mehr Zeit habe als Du. Ferienhof in der Nähe von Schleswig klingt gut, wie heißt denn der Ort genau? Ich war da auch mal zum Seminar, der Ort hatte einen ganz ulkigen Namen, und dort gab es super leckeres Essen, es war köstlich. Leider war ich dort nur einmal zum Seminar. Das mit dem Buch von Jan-Josef Liefers ist ja ein guter Tipp. Das werde ich mir von einer Freundin wünschen. Sie hatte mir zum Geburtstag ein Buch von Nick Hornby geschenkt. Ich liebe die Bücher von ihm und habe fast alle und so auch dieses. „Juliet, Naked" heißt es, echt skurril...naja, Nick Hornby hat wirklich einen ganz besonderen Humor. „High fidelity" hat mir aber am besten gefallen, da habe ich mich auf jeder Seite schlapp gelacht. Gestern war ich beim Röntgen, und das ist immer eine Gelegenheit, Tina zu sehen, die an der Anmeldung arbeitet. Die Schwester sagte ihr Bescheid und sie kam, und wir schnackten eine ganze Weile, was total nett war! Ich muss, da ich gerade im „Zelltief" bin, immer eine Alien-Maske (so nenne ich sie) aufsetzen, wenn ich die Station verlasse. Das sieht aus!!! Ich hatte auch keine Lust, meine Perücke aufzusetzen, weil die Maske den Haaren sicher schaden würde. Also hatte ich ein Tuch um und diese Alien-Maske...ein Traum. Und dann sagte diese nette Röntgen-Schwester, dass ich so schöne große Augen hätte. Das hat noch keiner gesagt! Außerdem meinte sie, sie hätte schon die letzten Male gedacht, dass ich ein interessanter Typ Frau sei. „Danke", sagte ich inbrünstig, denn das konnte ich gerade echt gut gebrauchen. …
Was das Klavierspielen angeht, so habe ich Petra gefragt, ob sie mir Unterricht geben würde, und sie hat zugestimmt! Es wird noch eine Weile dauern, aber ich brauche ein paar Aufgaben, wenn ich wieder fit bin, sonst drehe ich wohl durch... Und ich denke mir, es ist doch gut, wenn ich die Zeit sinnvoll nutze. Ich habe mir auch schon überlegt, nach der Entlassung aus dem Mildred-Scheel-Haus ein Tagebuch zu führen und wirklich jeden Tag zu schreiben, was so passiert. Vielleicht kann man daraus ein Buch machen. Ich wollte das schon lange, wusste aber nie, worüber ich schreiben will. Und ich kann am besten über Sachen schreiben, die ich selbst erlebt habe. So, liebe Ulrike, nun ist dies doch eine längere Mail geworden. Ich werde jetzt Zähneputzen gehen. Meine künstliche Nahrung, die ich momentan bekomme, läuft schon durch die Vene. Ich kann eigentlich schon wieder ganz gut essen. Aber der Oberarzt ist der Meinung, ich muss unbedingt was für mein Gewicht tun, gerade im Hinblick auf die Transplantation. Liebe Grüße, Gaby
17.02.2011:
Hallo Gospelboat, nach monatelanger Abstinenz dachte ich, ich melde mich mal zwischendurch bei Euch. Ihr wisst, dass ich seit November krank bin. Nach wochenlangen Magen- und Darmproblemen und schlechten Blutwerten stellte sich schließlich heraus, dass ich an Leukämie erkrankt bin. Der Schock war riesengroß, aber ich hatte gar nicht viel Zeit zum Nachdenken. Am Donnerstag ging ich freiwillig ins Krankenhaus, weil ich mich so schlecht fühlte, am gleichen Tag sprachen die Ärzte schon von einer möglichen bösartigen Bluterkrankung. Am Mittwoch darauf fing die Chemotherapie an. Die Wochen danach waren hart, obwohl ich die Therapie gut vertragen habe. Die Ärzte und Schwestern sind hier unheimlich kompetent und nett. Ich bekam in den ersten Wochen sehr viele Geschenke, vorrangig Schutzengel und Bücher. Erst vor kurzem habe ich angefangen zu lesen, in den ersten Wochen hatte ich keine innere Ruhe. Meine Haare fielen aus, was ich schrecklich fand. Ich kämpfte lange gegen die Schwestern und rettete jedes Haar, und dann war schließlich der Zeitpunkt da, an dem sie abgeschnitten werden konnten. Der Friseur machte es und verpasste mir eine wirklich schicke Perücke, wie ich finde, ganz ohne graue Haare...im Gegenteil, mit blonden Strähnchen. Inzwischen macht mir das mit den Haaren nichts mehr aus, ich habe mich daran gewöhnt, es ist nicht mehr wichtig, irgendwann wachsen sie wieder. Nach zwei Chemotherapien bekam ich die tolle Nachricht, dass sie sehr gut angeschlagen haben, und dann konnte ich zwei Wochen nach Hause (nach achteinhalb Wochen Krankenhaus), was ein Gefühl wie Weihnachten, Ostern und Gospelboat-Jubiläum zusammen war... Es war einfach toll, ich durfte wieder draußen spazieren gehen und habe meinen Geburtstag im kleinen Kreis nett gefeiert. Ich habe jetzt die dritte Chemotherapie hinter mir und warte auf eine Knochenmarkspende. Es sind zwei 100%-ige Spender identifiziert. Wenn alles gut läuft, geht das im März über die Bühne. Danach werde ich allerdings noch ewig nicht arbeiten dürfen. Und ich fürchte, ich kann auch noch nicht zum Chor kommen, was ich natürlich extrem (!) schade finde. Aber ich muss Menschenansammlungen meiden. Ich denke aber viel an Euch und drücke für das Konzert in Aukrug am Samstag die Daumen! Vor allem bei möglichen Premieren....zu schade, dass ich nicht dabei sein kann. Aber Gabriellas Sång kann ich noch nicht wirklich. Einige von Euch sehe oder spreche ich regelmäßig, so dass ich über Neuigkeiten im Chor manchmal besser informiert bin als meine Schwester! ;-) Liebe Grüße, an Euch alle! Gaby von der Heydt
In den kommenden Tagen antworten mir einige Gospelboatler, was ich sehr schön finde.
18.02.2011:
Liebe Gaby, schön von Dir zu hören!!! Heiko hat Deine Mail an den Chor weiter geleitet. Als ich den Text las, wurde mir ganz anders. Natürlich kann man sich annähernd denken, was Du durchmachst, aber es zu lesen, macht es sehr lebendig. Ich bewundere Deine Stärke, diese Mail zu verfassen zu können. Außerdem macht es deutlich, mit was für Nebensächlichkeiten man sich so täglich vermeintlich belastet.....Ich wünsche Dir von Herzen, dass Du nach der Knochenmarkspende wieder gesund wirst!!! Ganz liebe Grüße und halte durch!!!
Hallo Gaby! Man kann kaum glauben, was du in dieser kurzen Zeit schon alles durchgemacht hast. Es hat uns einen tiefen Schock versetzt, von deiner Krankheit zu hören. Aber umso mehr freut es uns ungemein, dass deine Genesung so große Fortschritte macht. Wir hoffen, dass du trotz deiner Strapazen bald wieder dabei bist. Es traut sich ja auch keiner an „Born again" heran, weil es keiner so schön singt wie du. Das Lied vermissen wir auf unseren Konzerten, es ist immer noch ein ziemlicher Knaller. Immer wieder muss ich daran denken, wie wir mit diesem Lied die Plöner Kirche zum Beben gebracht haben (bei irgendeinem Chormeeting). Das Bild, das du im Hintergrund siehst, ist aus dem letzten Winter, aber der diesjährige hält ja fast genauso lange an. Nur mit den Schneemengen kann er nicht ganz mithalten. Unser Hund ist immer wieder begeistert und versteht gar nicht, wieso es im Sommer keinen Schnee gibt. Wir haben die Nase inzwischen voll und möchten jetzt endlich die Frühlingssonne genießen. Dass du sie auch bald wieder genießen kannst und auch andere Dinge wieder zu Gesicht bekommst, wünschen wir dir von Herzen. Wir freuen uns auf deine Rückkehr!
20.02.2011:
Hallo Inga, seit einigen Tagen habe ich wieder diese komischen Bauchverspannungen. Nachts ist es am schlimmsten, weil ich nur auf einer Seite liegen kann und jede Bewegung höllisch wehtut. Ich nehme regelmäßig Schmerztabletten, aber die helfen auch nur eingeschränkt. Besser ist es damit aber schon. Das Dumme ist, ich kann kaum gehen, denn die Bauchmuskeln werden ja quasi für alle Bewegungen gebraucht, und sobald die Muskeln anspannen, tut es auch schon wieder weh.
22.02.2011:
Mir geht´s soweit ganz gut, momentan kämpfe ich mal wieder mit Halsschmerzen und Appetitlosigkeit. Und ich habe keine Lust mehr, aber wer hat das schon, der hier ist...Ich bin jetzt in einem Doppelzimmer und war zehn Tage lang allein, was natürlich sehr schön war. Jetzt ist gerade vor einer Stunde eine ältere Frau eingezogen. Sie kommt aus Nordfriesland und hat auf dem Fensterbrett ihre ganzen Familienfotos aufgestellt. Sie scheint aber ganz nett zu sein, aber es ist eben doch ganz anders, wenn man nicht mehr allein im Zimmer ist. Sonst hatte ich oft den Fernseher nebenbei laufen, jetzt ist es hier still.
23.02.2011:
Hallo Gabi, ich bin heute ganz gut davor, meine Zellen steigen, und nächste Woche darf ich sicherlich nach Hause. Die Transplantation steht mir immer noch bevor, es ist einfach so. Vorhin ist Achim endgültig nach Hause entlassen worden, der Glückliche! Er ist echt zu beneiden, muss diesen ganzen Akt der Transplantation nicht über sich ergehen lassen, kann sofort wieder alles essen usw. Naja, ich glaube, ich höre meine Eltern... LG, Gaby
Meiner Nachbarin geht’s leider nicht besonders, und sie redet auch kaum. Sie tut mir leid, aber ich finde es auch etwas anstrengend, weil ich jetzt nicht mehr fernsehen kann, wann ich möchte.
Auch mag ich nicht gern telefonieren, wenn sie schläft, das stört einfach. Sie ist verheiratet und hat fünf erwachsene Söhne. Nach ein paar Tagen kenne ich einen Großteil ihrer Familie, die auf mich sehr sympathisch wirkt.
...ich glaube, ich habe meiner Nachbarin etwas Unrecht getan. Ihr geht’s wirklich nicht gut. Eben atmete sie so schnell, dass ich sie fragte, ob es ihr nicht gut ginge. Und sie bat mich darum zu klingeln, was ich tat. Jetzt schreiben sie hier gerade ein EKG...irgendwie ist ihr Kreislauf ganz schwach. Sie tut mir richtig leid! Vorhin habe ich einen Kurzbericht über den jungen Mann in Neumünster gesehen, der die Spende aus den USA bekommen hat. Er wurde gerade aus der Klinik entlassen, und sie haben gesagt, er hätte sehr gute Chancen, wieder gesund zu werden. Das hat mich aufgebaut! Habe vorhin noch mit Frank und Gudrun telefoniert, das war ganz nett. Wir sehen uns morgen! Liebe Grüße, Gaby
Und so vergeht die Zeit. Ich habe jetzt mehr Ruhe zum Nachdenken und wie gesagt auch wieder mehr Lust zum Lesen.
23.02.2011:
Hallo Angela, ich bin gerade ganz happy: Die Ärzte haben mir erzählt, dass sich meine Zellen nach oben entwickeln, und zwar schlagartig. Das heißt, dass ich wohl bald wieder nach Hause kann, juchuu.... Naja, mal abwarten. Heute scheint die Sonne so schön, und alle erzählen, dass es bitterkalt sei. In Eckernförde ist es jetzt bestimmt schön! Ich wäre so gern mal wieder da. Seufz. Grüß mal alle schön! LG, Gaby
Ich habe heute die Info bekommen, dass die Transplantation für den 28.03. geplant ist. Das steht mir doch ziemlich bevor. Es ist einfach so viel damit verbunden, z.B. drei Monate ganz strenge Essensregeln und eine möglichst keimfreie Umgebung. Keine Pflanzen, keine Blumen und möglichst keine schmutzigen Teppiche usw. usw. Und ein Risiko besteht natürlich generell, wenn die Ärzte auch sagen, dass meine Chancen aufgrund meines Alters und meiner Konstitution sehr gut sind. Ich gehe auch davon aus, dass alles gut wird, aber manchmal habe ich Durchhänger...und dann dauert mir alles viel zu lang. Wahrscheinlich werde ich erst in einem Jahr wieder arbeiten können, das ist fast unerträglich. Vielleicht schreibe ich in der Zwischenzeit ein Buch, wer weiß das schon. Außerdem habe ich zum Geburtstag ein elektrisches Klavier bekommen, damit kann ich mich also auch gut beschäftigen.
24.02.2011:
Ich habe heute keine gute Laune. Jetzt ist gerade die Familie der Nachbarin da, die schnackt auch mit mir und ist sehr nett. Gestern war ich gut drauf, die Ärztin sagte mir, dass meine Zellen kommen, und das bedeutet wohl, dass ich nächste Woche nach Hause kann. Ich habe mich echt gefreut. Dann erzählte mir Peter, dass ihm wahrscheinlich fünf Zähne vor der Transplantation gezogen werden sollen. Ich war bedient! Das hat sich aber wieder relativiert. Er hatte noch ein Gespräch, und heute Morgen war nur noch von einem Zahn eventuell die Rede. Er hatte wohl auch vorher schon Probleme mit den Zähnen. Gestern telefonierte ich mit Berit, und ich erzählte ihr, dass bei einer Herztransplantation alle Zähne gezogen werden müssen. In dem Augenblick kam Frau Dr. Berger und meinte, das sei heute nicht mehr so, nur bei Eiterzähnen. Ach, weißt Du, ich habe einfach keinen Bock mehr auf Krankenhaus und alles, was damit zusammenhängt. Ich freue mich natürlich, wenn ich nächste Woche nach Hause kann, aber der nächste Schritt folgt dann auch bald.
Liebe Gabi,
diese Geduld aufzubringen ist echt nicht immer einfach. Ich würde so gern die stationären Aufenthalte endlich mal hinter mich bringen!! Gerade hat Achim angerufen, echt nett. Er hat gestern Abend einen Salat mit Scampi genossen, der Glückliche. Aber nächste Woche darf ich auch wieder alles essen...vier Wochen lang. Und dann ist erstmal Schicht im Schacht. Irgendwie ist das richtig blöd, dass ich Dich nicht mehr sehe...obwohl ich natürlich verstehe, dass Du jetzt wieder mit Deinen eigenen Sachen beschäftigt bist. Besuchsmäßig war es recht mau die letzten Wochen. Gleich kommt Christine, eine alte Schulfreundin, vorbei. Meine Eltern kommen auf jeden Fall heute Nachmittag. Eventuell kommt heute sogar noch Wiebke. Normalerweise kommen nur meine Eltern und ab und zu Laura. Naja, Wiebke ist jetzt Gott sei Dank aus dem Skiurlaub zurück.
Meine Zellen explodieren übrigens, die Leukos waren heute bei 2,7, es geht rasant, im Grunde bin ich schon aus der Isolierung raus, ich wundere mich, warum noch keiner das Schild umgedreht hat. Vorhin war mein Onkel aus Singapur spontan hier, war total nett! Wir haben nett geschnackt, ich habe mich echt gefreut, ihn mal wieder zu sehen.
Darüber freue ich mich wirklich. Plötzlich klingelt mein Handy und mein Onkel aus Singapur ist dran. Er ist schon im Klinikgebäude und kann die Station nicht finden, die auch anscheinend wirklich nicht besonders gut ausgeschildert ist. Ich habe auch Schwierigkeiten, ihm den Weg zu beschreiben, da ich den nur selten gegangen bin. Ich gehe also in den Flur, um eine Schwester zu fragen. Gemeinsam versuchen wir, meinen Onkel auf den richtigen Weg zu bringen. Ich gehe schließlich zum Eingang der Station.
Und da gehen plötzlich die Schwingtüren auf und mein Onkel steht vor mir. Wir beide haben noch unser Telefon am Ohr und prompt müssen wir lachen! Ich zeige ihm kurz mein Zimmer, aber da meine Nachbarin ihre Ruhe braucht, gehen wir in den Aufenthaltsraum. Mein Onkel ist beruflich immer sehr eingespannt, und ich freue mich sehr, dass er sich die Zeit genommen hat, mich zu besuchen, obwohl er nur ein paar Tage in Hamburg ist. Als er nach einer Stunde wieder geht, gibt er mir eine Tüte, in der ich u.a. einen indischen Drachen und etliche Fotos von seiner Familie finde. Er erklärt mir, dass der Drache in Asien eine beschützende Funktion hat.
25.02.2011:
Herr Jost war vorhin zur Visite da und meinte, der Block wäre doch wirklich gut gelaufen. Die Entzündungswerte sind ganz leicht angestiegen, deswegen behalten sie mich noch übers Wochenende hier, und wenn alles gut läuft, kann ich Montag nach Hause. Juchuuu!!! Ansonsten hätte ich schon heute gehen können...wäre auch nett gewesen! Er meinte: „Na, Sie haben sich mit uns ja auch arrangiert trotz aller Unfreundlichkeit und Inkompetenz." :-) Die Ärzte hier sind echt klasse, und Herr Jost ist schon ein ganz besonderer Arzt.
27.02.2011:
Hi Inga, meine Nachbarin schläft schon wieder, es ist sehr still hier im Zimmer. Gerade hat meine Kollegin angerufen, das war nett. Irgendwie bin ich gerade in einer Depri-Stimmung. Es liegt alles wie ein großer Berg vor mir. Ich finde es echt schwer, immer den langen Atem zu behalten.... Als ich damals nach Hause kam, haben wir doch als erstes diese Frau im Supermarkt getroffen, die eine leukämieähnliche Krankheit hat. Meine Eltern haben mir heute erzählt, dass sie gestorben ist. Das hat mich ganz schön schockiert. Meine Stimmung sank sofort in den Keller. Es dauert alles noch so lange, Inga! Bis ich wieder ein relativ normales Leben führe, vergeht noch ein Jahr. Manchmal bin ich verzweifelt, wenn ich daran denke! Meine Eltern erzählten auch, dass eine alte Freundin mit ihren 92 Jahren mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert worden ist, heute. Das hört sich auch gar nicht gut an. Irgendwie ist momentan alles recht düster. Obwohl ich morgen für vier Wochen nach Hause kann. Ich freue mich ja auch...aber da kommt eben noch so viel. Ich muss diverse Arzttermine wahrnehmen in der Zeit. Ich muss die Klamotten besorgen usw. Allerdings lese ich gerade ein echt gutes Buch, „Im Land der weißen Wolke". Das ist ein Roman, der 1850 spielt. Es geht um zwei Frauen, die nach Neuseeland auswandern, um dort zu heiraten. Erinnert vom Thema her an „Brautflug". Dieses Buch hat 800 Seiten, ich habe gestern angefangen, und heute bin ich schon auf Seite 400. Man liest einfach immer weiter. Das Buch ist von Sarah Lark. Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht
Das mit dem Besuch war in den letzten drei Wochen wie abgeschnitten. Meine Eltern waren jeden Tag da, die treuen Seelen. An den meisten Tagen waren sie die einzigen Besucher. Laura rief heute noch an und sagte, sie würde mich besuchen, wenn ansonsten niemand käme. Als ich ihr sagte, dass meine Eltern kommen, beschloss sie, in den Citti-Park zu fahren. Was ich völlig in Ordnung fand. Naja, genug gejammert. Es ist einfach eine schwierige Zeit, die viel Geduld erfordert. Was machst Du so? Liebe Grüße, Gaby
Dann steht noch eine Punktion an und dieses Mal führt sie Frau Dr. Berger durch. Sie ist wie immer sehr lieb, und alles läuft ziemlich unproblematisch ab. Was das Ergebnis angeht, macht sie sich keine Sorgen. Sie geht davon aus, dass die Chemo noch mehr kaputte Zellen zerstört hat und kündigt an, mich nur dann zu Hause anzurufen, wenn dem nicht so wäre. Ich werde keinen Anruf von ihr bekommen.
Es ist so weit, ich darf wieder nach Hause! Meine Mutter kommt, um mich abzuholen. Ich habe schon meine Sachen zusammengepackt. Wir verabschieden uns von meiner Zimmergenossin. Sie wird auch transplantiert werden. Insofern sieht man sich vielleicht in der Mildred-Scheel-Klinik wieder. Auf dem Gang angekommen, spreche ich noch mit Schwester Nicole. Da kommt der Sohn meiner Bettnachbarin angelaufen und sagt, ich hätte noch etwas vergessen. Tatsächlich, das Bild von Lina hängt noch an der Wand und auch der indische Drache von meinem Onkel.
Dann aber nehme ich wirklich Abschied von der Station, bedanke mich bei den Pflegekräften für die super Betreuung! Auch von Frau Dr. Berger verabschiede ich mich, Herr Jost ist leider heute nicht da, und Frau Dr. Egerland ist im Mutterschutz.
Ich folge meiner Mutter durch lange Gänge zum Hinterausgang der Klinik, wo sie geparkt hat. Der Weg ist für mich ganz schön anstrengend! Im Auto angekommen, erzählt mir meine Mutter, dass es heute meine Lieblings-Nudel-Rindfleischsuppe gibt. Juchuu! Wir fahren Richtung Heimat. Auf halber Strecke fällt mein Blick auf mein Handgelenk. Und was sehe ich? Meine Braunüle ist noch drin! „Oh nein“, rufe ich. Meine Mutter und ich seufzen, und bei nächster Gelegenheit dreht sie um, und wir fahren zurück.
Sie wartet im Auto, während ich wieder zur Station hochgehe. Dort angekommen, blicken mich alle erstaunt an. „Ich hab da noch was, was Ihnen gehört“, sage ich und ziehe meinen Ärmel hoch. Schwester Nicole prustet los und kann sich vor Lachen kaum halten. Sie nimmt mich in ein Pflegezimmer mit und entfernt die Braunüle. Dann gehe ich endgültig!! Einige Zeit später esse ich genussvoll Nudelsuppe. Wie schön!