Читать книгу Amélie - Wo Schatten ist - Genèvieve Dufort - Страница 4
Оглавление»Du bist die Blume aller Blumen,
alles an dir ist Paradies.
Dein Blick, die zarten Hände,
dein Duft, die Lenden.
Ein ganzes Lied möcht ich dir schenken,
und dich in deiner Schönheit loben.«
Beat Jan
Kapitel 1
»›Souriceau‹, was willst du hier! ... Verdammt! Verschwinde!« oder sehr viel Schlimmeres, bekam das unscheinbare, sich zumeist unsichtbar machende Mädchen immer wieder zu hören. Dabei wurde sie von allen abwertend nur ›Souriceau‹ genannt – Mäuschen, wegen ihres spitzen Gesichtes. Amélie Chivier gefiel es zwar nicht, aber sie schwieg dazu. Die junge achtzehnjährige wirkte abgemagert und zierlich, fast schon ein wenig androgyn. Bei einer Größe von einsdreiundsechzig mit gerade einmal achtundvierzig Kilogramm war sie sogar leicht untergewichtig. Das blonde Mädchen mit saphirblauen Augen war immer durch ihr Umfeld eingeschüchtert. Was hätte sie auch sagen oder tun sollen? Was dagegen unternehmen können? Hätte sie sich darüber auch nur einmal beschwert, wären die Menschen in ihrem Umfeld nur noch fieser mit ihr umgesprungen und hätten es erst recht auf sie abgesehen. Menschen, dass hatte sie inzwischen schmerzhaft gelernt, konnten unvorstellbar grausam sein.
Und das galt nirgendwo mehr als im ›Achtzehnten Arrondissement‹ im Norden von Paris – im Stadtviertel ›Quartier de la Goutte-d'Or‹, wo die Bewohner im ewigen Sog der Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit in den Ausguss des Lebens gespült wurden. Die guten Zeiten des ›Goldenen Tröpfchens‹, wie das Viertel hieß, waren schon lange vorbei – die Zeiten, in denen die Bewohner hier noch edlen Weißwein produzierten. Jetzt entsprach die Gegend mehr und mehr einer Beschreibung aus Émile Zolas Roman ›Der Totschläger‹.
Amélie quälten die immerwährende Entwürdigung und Missachtung ihrer Person schon lange. Die meiste Zeit kam sie mit dieser Situation einigermaßen zurecht. Doch es gab Tage, an denen es ihr nicht gelingen wollte, sich über all diese Dinge hinwegzusetzen oder sie wenigsten zu ignorieren – insbesondere, weil sie keine Menschenseele hatte, der sie sich anvertrauen und mit der sie darüber reden hätte können. Die Leute haben ja recht damit, schalt sie sich oft, ich sehe wirklich übel aus. Keine ist hässlicher. Ich bin der Schrecken der Straße. Was soll’s! Ich muss mich eben damit abfinden.
Amélie lebte in einem völlig heruntergekommenen Haus und hatte Eltern, die sich kaum um sie kümmerten. Und noch viel schlimmer empfand sie, dass sich ihre Mutter laufend darüber aufregte, dass sie, ihre ›Große‹, nicht so verschlagen und gerissen war, wie die anderen Straßenkinder.
»Die kommen alle zurecht! Die wissen genau wo es langgeht! … Aber du!?« Andauernd hielt sie ihr das in einem aggressiven Ton vor. Und immer, wenn Amélie diese Litanei wieder einmal über sich ergehen lassen musste, dabei verängstigt in der Küche herumstand, zitterte sie innerlich am ganzen Leib und wagte es kaum noch zu atmen.
Am allerschlimmsten von allen trieb es aber ihr älterer Bruder Raphael. »Wenn du wenigstens noch etwas hermachen würdest, du hässlicher Vogel ...«, höhnte er regelmäßig und deutete dabei mit den Händen eine üppige Oberweite an, »dann könnte man ja noch etwas mit dir anfangen ... Aber du bist doch echt der reinste Männerschreck! So eine wie dich, packt doch nicht mal einer mit Schutzhandschuhen und einer Kneifzange an!«
»Wieso sagst du das?«, stammelte Amélie dann und versuchte verzweifelt ihre aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. »Ich kann doch nichts dafür!«
»Mensch, halt doch einfach die Fresse! Wer will denn schon wissen, was du denkst?!«
»Genau!«, stimmte ihre Mutter ihm zu und warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Du kannst doch höchstens als Putze herhalten. Aber selbst dazu bist du noch zu blöde!«
Amélie schluckte die Demütigungen herunter und drückte sich dabei noch enger an die Wand, in der sie sich am liebsten aufgelöst hätte.
»Zieh' bloß Leine! Los! … Verschwinde!«, herrschte ihr Bruder sie lautstark an. »Was willst du noch hier? Verpiss' dich endlich, klar?!«
Wie immer saß ihr Vater apathisch in seiner Ecke. Er kümmerte sich nicht darum, was um ihn herum vorging und war froh, wenn er regelmäßig seinen Schnaps bekam. Für alles Andere interessierte er sich schon lange nicht mehr.
»Bei dem ist sowieso Hopfen und Malz verloren ...«, hatte die zuständige Frau von der ›Aide Sociale‹ einmal gesagt. »Ein weiterer Alkoholentzug wird eh wieder nicht lange vorhalten. Er ist schlicht nicht therapierbar.«
Amélie kannte diese hochgewachsene Frau mit dem grauen Mantel recht gut. Doch auch wenn sie hier war, traute sie sich nicht, den Mund aufzumachen. Dabei hatte sie so viele Fragen, die ihr auf den Nägeln brannten. Vor allen Dingen hätte sie gern gewusst, wie man so etwas wird wie sie. Sie wünschte sich von ganzem Herzen aus diesem Sumpf herauszukommen, um nicht so zu werden wie ihre Eltern und ihr Bruder. Auf keinen Fall wollte sie für immer in diesem Viertel leben müssen. Ich muss einen Beruf erlernen, mit dem ich den Menschen nützlich sein kann, sagte sie sich oft, vielleicht akzeptieren sie mich dann?
*
Langsam stieg sie die ausgetretenen Holzstufen im Hausflur hinunter. Sie war deprimiert über die eingefahrene Situation. Mit ihren gerade einmal achtzehn Jahren nahm man das ganze Leben sehr schwer.
Auch in der Schule war es nicht besonders gelaufen. Sie hatte sich nicht gerade als eine große Leuchte gezeigt. Aber die Lehrer hatten sich mit den Kindern aus diesem Viertel auch nie wirklich Mühe gegeben. So klein die Kinder auch waren, sie spürten instinktiv die Ablehnung der übrigen Welt, was dazu beitrug, dass sie noch härter gegen alles und jeden wurden. Wer im ›Quartier de la Goutte-d'Or‹ seine Ellbogen nicht einzusetzen lernte, der ging mit wehenden Fahnen unter …
… und Amélie war am Ertrinken.
Eine Weile verharrte sie reglos auf der Straße vor dem Haus. Dann schlenderte sie in Richtung des Straßenstrichs, wo sie direkt auf Inès traf.
Inès war in ihren Augen eine richtig alte ›Putain‹, eine erfahrene Hure, die ihr fünfzigstes Lebensjahr schon lange überschritten haben musste, wenngleich niemand ihr genaues Alter kannte. Wie immer hatte sie ihre erstaunlicherweise noch schlanke Figur ganz in schwarz gehüllt. Ihr nur selten nachgefärbtes langes und strähniges Haar, war im Ansatz bereits silbriggrau geworden. Ein Umstand, den sie hasste. Aber ihr weniges Geld in Alkohol umzusetzen, war ihr wichtiger als ihr Aussehen. Auch heute trug sie ihre auffällige Arbeitskleidung: ein Blouson und einen ledernen Minirock, dazu Strümpfe und Schaftstiefel.
Amélie wusste, dass Inès, schon solange sie denken konnte, in der Straße anschaffen ging und bewunderte sie über alle Maße.
Inès lehnte lässig mit ihrer Schulter an einer Hauswand und rauchte eine ›Fluppe‹, wie sie ihre Zigaretten immer nannte. »Na, ›Ma Petit‹, willst du dir mal wieder den Betrieb ansehen?« Sie nannte Amélie immer ›Ma Petit‹, weil sie sich ihren Namen nicht merken wollte oder wegen ihres jahrelangen Alkoholkonsums nicht mehr dazu in der Lage war. Auf eine gewisse Art war Inès mütterlich und freundlich – aber nur zu Menschen, denen sie sich überlegen fühlte. Amélie war so ein Mensch und mit ihren achtzehn Jahren noch so unerfahren, dass sie ihr eine Menge vormachen konnte. Inès brauchte das für ihr Selbstwertgefühl.
Amélie blieb stehen. Verunsichert blickte sie die Prostituierte an. »Ich mach' schon keinen Ärger ...«, erklärte sie schüchtern und wollte schon mit gesenktem Kopf weitergehen.
»Ach, Quatsch! ...Das meine ich doch gar nicht. Bleib' doch mal stehen.«
Amélie drehte sich ihr zu, immer noch fluchtbereit. Sie traute sich nicht ihr direkt in die Augen zu sehen.
Inès musterte sie von oben bis unten. »Ich kenne dich doch.«
Amélie lächelte unsicher.
»Wer ist denn deine Mutter?«, fragte sie, mit leicht zur Seite geneigtem Kopf.
»Gabrielle Chivier.«
»Da schau' an ...«, grinste Inès, »das hätte ich mir doch eigentlich denken können! … Du bist also tatsächlich die Tochter von der alten Gabrielle.«
»Ja«, antwortete sie gedehnt, nicht wissend, worauf das gerade hinauslaufen sollte.
Inès ging um sie herum, grinste sie höhnisch an und strich sich eine falsche Locke ihrer Haarverlängerungen aus dem Gesicht. »Gabrielles Tochter ... Also, dich muss sie ja wirklich im besoffenen Zustand gezeugt haben!«
Amélie war es unangenehm, so von ihr taxiert zu werden und wollte schon weiterschleichen, als sie von ihr aufgehalten wurde.
»Hey! Habe ich dir etwa gesagt, dass du schon gehen kannst?«, fuhr Inès sie auf eine Weise an, die keinen Widerspruch duldete.
Unwillkürlich zuckte Amélie zusammen.
»Ich meinte es nicht so, ›Ma Petit‹!«, lenkte Inès rasch ein, die ihre Reaktion bemerkt hatte. »Ich bin nur überrascht, verstehst du?«
»Nein.«
Inès kratzte sich am Kopf. »Kannst du vielleicht auch nicht, ›Ma Petit‹«, überlegte sie laut. »Mensch, wenn ich daran denke ... Damals, als wir zusammen anschaffen gingen, deine Mutter und ich ... Die ›Formidable Gabrielle‹ nannte man sie überall. Du liebe Güte, was haben wir zusammen Geld gescheffelt. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, was für ein heißer Feger deine Mutter damals war. Die hat die ganze Straße eingesteckt, wenn sie wollte. Und Kavaliere hatte die … Ich weiß das noch wie heute, nur reiche Pinkel waren das. Damals dachten alle, die Gabrielle würde das große Rennen machen ... Tja, hin und wieder kommt es ja mal vor, dass eine von uns den großen Fang macht … Sag' mal, hat die wirklich diesen Robert geheiratet?«
»Ja, das ist mein Vater«, bestätigte Amélie nickend.
Inès lachte verächtlich auf. Freundschaftlich bot sie ihr eine Zigarette an. »Kannst ruhig eine nehmen. Ich habe die nicht vergiftet.«
»Danke«, stotterte Amélie irritiert. Sie hatte noch nie geraucht. Aber sie traute sich nicht, ihr das zu sagen. Zum ersten Mal unterhielt sich ein Mensch wirklich mit ihr – interessierte sich für sie. Sie hustete beim ersten Zug, und Inès musste ihr ein paar Mal kräftig auf den Rücken klopfen.
»Kannst dir das, mit deiner ›Maman‹ wohl nicht ganz vorstellen, oder?«
»Nein«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. Sie führte die vor sich glimmende Zigarette nur zum Mund, sog aber nicht wirklich daran und ließ sie in ihrer Hand einfach herunterbrennen.
»Aber, dass deine ›Maman‹ früher auf den Strich gegangen ist, hast du doch gewusst?«
»Ja, das hat sie mir oft genug gesagt.«
Inès kicherte und nahm einen kräftigen Zug von ihrer Zigarette. »Jetzt sieht sie wohl wie eine alte Schachtel aus, wie?«
Amélie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter einmal so etwas wie eine Schönheit gewesen sein sollte. Sie ließ sich gehen, war verkommen und schlampig. »Ja.« Sie konnte nur einsilbig antworten, weil sie dieses Gespräch weiterführen wollte, so unangenehm es ihr auch war.
Inès stellte sich in Positur. »Tja, ›Ma Petit‹, das macht die Ehe!«, behauptete sie steif und fest. »Schau' mich mal an, ich bin genauso alt wie deine Mutter, aber ich gehe immer noch anschaffen. Ich mache immer noch gutes Geld damit. Ja, da staunst du, was?«
In diesem Augenblick kamen zwei Männer vorüber.
Amélie wusste nicht, dass es ›Souteneurs‹, Zuhälter, waren.
»Na, Inès, reißt du mal wieder ein Kind auf?«, rief ihr einer der beiden ›Macs‹[1], wie man die Luden hier im Viertel auch nannte, verächtlich zu.
Inès schimpfte ihnen wütend hinterher.
Die ›Souteneurs‹ lachten gutmütig.
»Verdammte Schweine, lasst mich in Ruhe!«
»Tun wir ja, Inès ..., tiefer kannst du ja gar nicht mehr sinken, altes Scheusal. Dass dich die Freier überhaupt noch anfassen ... Aber es muss ja wohl welche geben, denn ohne die Dummen würde die Welt ja aussterben.«
Amélie hatte sich jetzt ebenfalls gegen die Hauswand gelehnt und beobachtete zu ihrer Verwunderung, dass die Inès rot wurde. Es war ihr offensichtlich sehr peinlich, dass man sie derart vor ihr herabwürdigte, wo sie sich doch gerade in ihren angeblichen Erfolgen gesonnt hatte.
Die ›Macs‹ blieben bei zwei superblonden, langbeinigen Geschöpfen stehen, die nur gut zwanzig Meter von ihnen entfernt an der Straße standen. Auch sie waren nicht mehr viel wert, denn sie wurden in die Tagesschicht geschickt. Die wirklich guten, Geld bringenden Huren kamen erst am späten Abend, und die anderen hatten dann das Feld zu räumen.
Amélie wusste das.
»Die mit ihren falschen Mähnen!«, schimpfte Inès wütend. »Die tun wirklich so, als könnten sie sich alles leisten.«
»Warum bist du jetzt so wütend?« Amélie schaute sie erstaunt an.
»Oh, ... dich habe ich ja völlig vergessen!«, starrte Inès entgeistert zurück. »Wo war ich eben stehen geblieben?«
»Du hast von meiner Mutter gesprochen.«
»Ach ja, ... verdammt, du siehst ihr kein bisschen ähnlich, ›Ma Petit‹.«
Amélie schwieg.
»Na ja, man könnte sicherlich etwas aus dir machen ... Ehrlich! Wird zwar ein ganzes Stück harte Arbeit, aber ich glaube schon, das es gehen wird.« Sie spielte wieder mit ihrer Locke, als sie Amélie weiter musterte. »Du hast aber auch dürre Arme und Beine, … bist ein echtes Klappergestell!«
»Ja, ich weiß.«
Inès regte sich immer noch über die beiden ›Vollkaufleute‹ auf, wie man die ›Souteneurs‹ umgangssprachlich auch nannte. »Ich brauche jetzt einen Schnaps, sonst platze ich! … Sag' mal, du kannst mir nicht zufällig mal einen Flachmann besorgen?«
»Wenn du mir Geld gibst«, antwortete Amélie, einen Daumen am Zeigefinger reibend.
»Hier hast du einen Schein, aber beeil dich.«
»Ja.«
Ich weiß noch nicht einmal, ob sie ehrlich ist. Vielleicht kommt sie gar nicht wieder? Verflucht, ich hätte besser selbst gehen sollen, überlegte Inès, als sie ihr hinterher sah. Im Augenblick kommen doch eh keine Freier. Man kann sich schier die Beine in den Bauch stehen.
*
Amélie rannte schnell die Straße hinunter und kam atemlos im Eckladen an.
Der Besitzer lehnte an einem Regal und kontrollierte seine Bestände. Als er die Türglocke hörte blickte er kurz auf. »Gib dir erst gar keine Mühe, ›Souriceau‹!«, knurrte er sofort. »Bestell' deiner Mutter, erst muss das andere bezahlt werden. Vorher gibt es nichts, aber auch gar nichts mehr auf Kredit!«
»Ich habe Geld, Monsieur Duvenet«, erklärte Amélie und fühlte sich in diesem Augenblick stark.
»Dann zeig' mal her!«
Lächelnd hielt sie ihm die Fünf-Euro-Note entgegen, die Inès ihr gegeben hatte.
»Was will Mademoiselle denn?«, erkundigte sich Duvenet spöttisch. Er legte die Liste und den Kugelschreiber beiseite.
»Einen Flachmann!«
»Ist Robert, der alte Säufer, jetzt umgestiegen?«
»Nein, der Flachmann ist für Inès«, erklärte Amélie.
»Okay, … hättest du mir ja auch gleich sagen können. Du machst dich also endlich mal nützlich und arbeitest jetzt als Laufmädchen für die Damen?«
»Nein«, widersprach sie kopfschüttelnd. »Das mache ich nur so.«
»Na schön. Hier! Aber pass' auf und lass' die Flasche nicht fallen. Inès könnte sonst ziemlich sauer reagieren.«
»Ja.« Sie presste die Flasche an ihre magere Brust und rannte dann schnell zurück.
*
Inès grinste sie an. »Du bist wirklich ein fixes Mädchen. Komm, bleib' doch, unterhalten wir uns noch ein wenig.«
Sie setzten sich auf eine niedrige Mauer.
Mit fahriger Hand drehte Inès die Verschlusskappe ab, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und wischte sich anschließend mit dem Handrücken über den Mund. »Ah, das tut gut!«
»Du, Inès, ... darf ich dich mal was fragen?«, wagte sich Amélie schüchtern vor.
»Schieß' los. Ich höre.«
»Was muss man tun, um eine ›Putain‹ zu werden?«
Mit dieser Frage hatte Inès nun wirklich nicht gerechnet. Überrascht schaute sie Amélie von der Seite an. »Warum fragst du?«
»Sag' es mir doch einfach«, bettelte Amélie.
»Soll das heißen, du willst diesen ehrenvollen Beruf ergreifen, ›Ma Petit‹?«
»Ja, möchte ich vielleicht schon ...«
»Ach, du liebe Güte!«
»Kann ich das vielleicht nicht, Inès?«
»Tja, das ist so eine Sache. Also ich will mich da ja nicht festlegen. Weißt du, vor vielen Jahren war es mal schick, wenn man wie ein Brett aussah. In den Sechzigern, da gab es dieses englische Fotomodell ... Hab' den Namen vergessen ... Ach, nein, jetzt fällt er mir wieder ein, Twiggy hieß die ... also, die war so dünn wie eine Bohnenstange. Aber die Kerle waren so richtig verrückt nach ihr. Alle Mädchen wollten wie Twiggy sein. Am Ende haben sich einige dabei sogar zu Tode gehungert. Ich erinnere mich noch an einige Schlagzeilen in der ›Libération‹ … Das kann ja mal wieder in Mode kommen, dann hättest du eine wirklich tolle Chance.«
Amélie ließ den Kopf hängen. »Also kann ich das auch nicht.«
Inès tätschelte ihr ein wenig unbeholfen die Schulter. »Hey, ›Ma Petit‹, Kopf hoch! Jetzt lass' dich doch nicht kirre machen. Außerdem ist das nicht gerade ein Zuckerschlecken, hörst du?«
Sie nickte und schaute auf ihre Füße, die sie ein wenig baumeln ließ.
»Hure sein, das hat was von Rauschgift. Wenn du erst einmal eine bist, dann kommst du davon in der Regel nicht wieder los, verstehst du?«, fuhr Inès fort. »Das ist eine echt verflixte Sache … Sieh' mich an. Ich werde hier bis zum Verrecken stehen. Soziale Absicherung? … Vergiss es! Und eines Tages, ja, eines Tages, da wird dann endgültig Schluss damit sein … Und was habe ich dann von meinem Leben gehabt, frage ich dich? Nichts, gar nichts! Glaub' mir, ›Ma Petit‹!«
»Aber irgendetwas muss ich doch machen!«, seufzte Amélie. »Ich will Geld verdienen, Inès. Ich habe noch nie eigenes Geld gehabt. Es ist furchtbar ... Ich will von hier fort, raus aus diesem Viertel.« Sie blickte Inès traurig an. »Ich will endlich frei von all dem hier sein und leben. Wo Schatten ist, … da muss doch auch irgendwo Licht sein … Verstehst du mich?«
»Sie quälen dich wohl sehr daheim, wie?«
»Raphael ist am schlimmsten.«
»Wer ist Raphael?«
»Mein Bruder.«
»Hör' doch nicht auf den.«
»Mein Vater ist ein Scheusal, er will seit Jahren unbedingt ein Aufklärungsgespräch mit mir führen, in allen Details ...«
Inès lachte rau. »Dieses Schwein! … Und was hast du ihm gesagt?«
»Dass wir schon in der Schule aufgeklärt worden sind und ich auf praktische Übungen sehr gern verzichte.«
»›Ma Petit‹, du gefällst mir«, lachte Inès erneut. »Du bist gar nicht auf den Mund gefallen. Ehrlich.«
Amélie blickte mit trüben Augen vor sich hin. »Ich finde mein Leben so sinnlos«, murmelte sie leise.
Inès bekam jetzt echtes Mitleid mit ihr, wozu auch der Alkohol beitrug. Denn immer, wenn sie ein bestimmtes Quantum inne hatte wurde sie rührselig. »Sag' doch nicht so einen Quatsch.«
»Putze soll ich werden. Mein ganzes Leben soll ich für andere schuften! Dabei meint sie, dass ich selbst dazu zu bescheuert wäre!«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Meine Mutter.«
Tja, dachte Inès, das ist für Gabrielle wohl ein harter Schlag gewesen. Ihre ›Ma Petit‹ sieht ja auch wirklich arg aus. Lang und dünn, dazu dieses spitze Gesicht. Die Augen sind hübsch, ja, das kann man wohl sagen: Ihre Augen sind direkt schön. Aber ansonsten? Kein Arsch, keine Titten. Alles Dinge, die die Männer nun mal an einer Frau wollen, die fehlen ihr völlig. Die Haare strähnig und unmöglich angezogen. Sie hatte es wirklich nicht leicht. »Hast du denn schon einmal mit der ›Aide Sociale‹ gesprochen? Von denen kommt doch bestimmt jemand zu euch, oder etwa nicht?«
»Natürlich, die kommt doch in jeden Block.«
»Wusste ich doch. Die können es nicht lassen. Die müssen ihre Nase überall reinstecken. Was sagen die denn?«
»Die Frau sieht mich doch gar nicht, … hat mich noch nie gefragt, wie es mir geht oder wie sie mir helfen kann«, antworte Amélie leise.
»Weil du deine Klappe nicht aufmachst, deswegen!«, behauptete Inès direkt.
»Ich will ja, aber wenn sie dann da ist dann schaffe ich es einfach nicht.«
Inès nahm wieder einen großen Schluck. »Tja, ›Ma Petit‹, das Leben ist wirklich nicht einfach. Aber ich will dir mal was sagen: Du kannst noch immer schön werden.« Sie hatte das Bedürfnis ihr ein paar nette Worte zu sagen.
Amélie saugte sie gierig auf. »Ehrlich?«
»Aber klar doch!«, beharrte Inès schmunzelnd. »Du bist doch noch gar nicht richtig reif! Das kann alles noch werden!«
»Meinst du?« Amélie schüttelte ungläubig den Kopf. »Meinst du wirklich, mich wird mal ein Kerl anfassen und so ... «
»Du hast noch nie?«
Sie schüttelte wieder den Kopf. »Die Mädchen auf der Straße erzählen sich alle eine Menge und ich weiß gar nichts.«
»Bist wohl neugierig, wie?«
Amélie sah auf ihre schmutzigen Hände.
»Kannst es der alten Inès ruhig sagen. Mensch, ich bin schon mit sechzehn anschaffen gegangen. Tja, damals waren eben andere Zeiten. Da blieb einem nichts als anzuschaffen oder zu krepieren. Sogar mit Kaffee und Zigaretten habe ich mich bezahlen lassen. Na ja, deine Mutter könnte dir da sicher auch eine Menge erzählen.« Sie tätschelte ihr die magere Schulter. »Also was ist?«
»Sie reden alle davon«, sagte sie zögernd.
»Aber getan hast du es noch nicht?«
Und wieder schüttelte Amélie den Kopf.
Deine Hässlichkeit hält dich ehrbar. Du bist wirklich ein armes Luder, dachte Inès über sie nach. »Weißt du, auf jeden Topf passt ein Deckel. Für dich gibt es auch einen, ganz sicher.«
Amélie sah sie schräg an. »Es ist mir egal, ich mach' mir da nichts daraus.«
»Irgendwie wirst du doch wohl noch Gefühle habe, oder?«
»Ich möchte einfach weg«, wiederholte sie leise. »Weit fort.«
»Vom Straßenstrich?«
»Nein, das ist mir egal, der stört mich nicht.« Sie war ein Straßenkind. War damit aufgewachsen und kannte nichts anderes. In dieser Beziehung hatte sie keine Illusion. »Von daheim.«
Inès nahm erneut einen großen Schluck aus der Flasche. »Jetzt versteh ich dich endlich. Du willst von zu Hause abhauen, hast aber kein Geld?«
Amélie nickte.
»Ach, und da hast du gedacht, ich geh' mal etwas anschaffen und dann wird das schon?«
»Ja, sagen doch alle, dass man da schnelles Geld verdient.«
»Klar, wenn man jung und knusprig ist. Ja, dann kann man eine Masse Geld verdienen, ›Ma Petit‹. Aber wenn man älter wird, dann muss man sich bis zur Decke strecken.«
»Ich möchte aber jetzt fort. Daheim halte ich es einfach nicht mehr aus. Und ich glaube, die sind auch froh, wenn ich endlich verschwinde.«
»Ist Gabrielle denn wirklich so schlimm geworden?«, staunte Inès.
»Sie war wohl immer schlimm«, meinte Amélie. »Immer. Ich kenne es gar nicht anders. Sie mag uns nicht, weißt du? Sie hasst mich und Raphael auch. Sie hasst uns Kinder. Es ärgert sie, dass sie wegen uns alles aufgeben musste.«
Inès hörte auf zu trinken. »Jetzt mach' aber einmal einen Punkt, ›Ma Petit‹! So war das damals aber nun wirklich nicht. Nein, und was deinen Bruder betrifft, das hat sie doch nur getan, um nicht in den Knast zu kommen. Sie war nämlich ein raffiniertes Luder, deine ›Maman‹.«
Amélie riss die Augen auf. »Was sagst du da?«
»Ach, dass hat sie dir also verschwiegen?«, kicherte Inès. »Na, das hätte ich mir ja gleich denken können!«
Amélie war unbegreiflich, dass sie bis jetzt nichts davon gehört hatte. Sie lauschte gespannt, um zu erfahren was Inès zu erzählen wusste.
»Ja, das mit dem Knast … Also, wie es wirklich war, das haben wir nie herausgefunden. Weißt du, ihr damaliger ›Souteneur‹, der war auf einmal tot. Lag da mit durchgeschnittener Kehle in seinem Blut ...«
Meint sie das ernst? Amélie ahnte, was sie gleich von ihr hören würde.
»Wir hatten ja alle Gabrielle im Verdacht, und das glaube ich eigentlich noch immer, ehrlich. Aber ich kann dir sagen, die hat das ganz raffiniert gemacht und ganz groß die Trauernde gespielt. Richtig verrückt hat sie sich angestellt, gejammert und gejault und den Bullen erzählt, sie sei doch schwanger, und jetzt wisse sie gar nicht, wie es weiter gehen soll ...« Inès redete wie ein Wasserfall, ohne zu bemerken, wie Amélies Augen immer größer wurden.
Oh, mein Gott! ... Meint sie etwa Raphael? Amélie überlegte, ob das wirklich möglich sein konnte.
»Nun ja, da waren noch ein paar Hintermänner. Also, ich will mich mal so ausdrücken: die Gabrielle wollte ihn loshaben, das weiß ich genau. Ob Raphael wirklich von dem ›Mac‹ ist, weiß ich nicht. Jedenfalls ist sie dann doch nicht in den Knast gekommen.« Inès starrte blicklos geradeaus. Sie war ganz in der Vergangenheit versunken.
Knast? ... Das wird ja immer schlimmer? Ich versteh' nicht, weshalb ich nie etwas von dieser Geschichte gehört habe. Ist da vielleicht was Wahres dran oder entspringt das nur ihrem Alkoholrausch? Amélie konnte das Erzählte nicht glauben. Sie wollte es einfach nicht.
»Der Robert hat sie dann geheiratet, in der Hoffnung, sie hätte das ganze Geld von dem ›Mac‹ einstecken können. Damit war's aber nix!« Inès konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
Amélie sah es, was sie noch mehr an dem Gehörten zweifeln ließ.
»Damals hat sie uns allen erzählt, sie wolle ehrbar werden, eine Familie gründen und Kinder haben. Sie würde Kinder über alles lieben ... Ja, das waren ihre Worte. Doch der Robert war schon immer ein stinkfauler Sack und … Na ja, sie ist nie aus dem Viertel rausgekommen. Später ist sie dann noch Mal vorübergehend auf den Strich gegangen. Bis die von der ›Aide Sociale‹ kamen und sich um euch Kinder kümmerten. Als die beiden herausfanden, dass man auch auf Kosten des Staates leben kann, da hat sie dann auch nichts mehr gemacht.« Inès Blase der Vergangenheit platzte, und sie war wieder in ihrem trostlosen Hier und Jetzt. Sie sah in die Amélies geweiteten Augen und erschrak.
Amélie war in sich zusammengesunken, weil sie noch mehr schlechte Nachrichten erwartete.
Bei Gott! Sie hat wirklich keine Ahnung von der Sache gehabt, schoss es Inès durch den Kopf. Sie machte sich Vorwürfe. Vielleicht hätte ich ihr das doch nicht erzählen dürfen.
»Ach, ich wünschte ...«
»Was?«
»Nein, ich weiß nicht ...«
»Bist ein armes Luder, wirklich. Hier, nimm doch mal einen Schluck.« Inès bot ihr die schon gut geleerte Flasche an.
»Ich möchte nicht«, wehrte Amélie ab.
»Weil dein Alter säuft, nicht wahr?«
Sie nickte.
Inès streichelte die Flasche. »Ich will dir mal was sagen: Wenn ich den Tröster nicht hätte, könnte ich das Leben gar nicht mehr aushalten.«
»Wirklich?«
Inès ließ ihre Frage unbeantwortet. Sie war vom ungewohnten vielen Reden müde und starrte mit leeren Augen vor sich hin, während Amélie neben ihr sitzen blieb – nicht wissend, was sie tun sollte.
***