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Kapitel 1

Es war kalt. Bitterkalt. Minus vierzehn Grad im Dezember, fünf Tage vor Weihnachten – dem Feiertag der Geburt Christi. Oder wie es verweltlicht das »Fest der Liebe« genannt wurde. Renate, die Mutter sowie Annika, zwölf und der zehnjährige Lars backten Plätzchen. Der Adventskranz schmückte das Wohnzimmer, wo am Abend die Familie zusammenkam, betete und Lieder sang. Der Holzofen bollerte, die Wärme kroch in die Kleider. Die Glut knisterte.

Der Alte treibt mich in den Wahnsinn. Der Sargnagel meines kurzen Lebens. Habe die Schnauze gestrichen voll, dachte Renate.

Sie suchte in der Schublade, ob das … noch?

»Es liegt Gott sein Dank am selben Ort« sprach sie erleichtert in sich hinein und diese Gewissheit strahlte Zuversicht in ihr aus. Damit spürte sie Kraft in den Körper emporsteigen. Wärme durchflutete alle Fasern, jeder Körperzelle, die durch die Witterung und das menschliche Klima erkaltet war. Eben durch die Pflege ihres Schwiegervaters haderte sie mit Gott und der Welt.

Nach getaner Arbeit waren Renate, Roland und die Kinder müde. Der Familienvater war der Forstwirt der Gemeinde, seine Schufterei im Wald strengte an und erforderte viel Konzentration und Geduld. Geduld mit den Bäumen, die tief verwurzelt und schwer zu fällen waren und mit den Mitarbeitern, die schwerfällig taten, was Roland erwartete. Die Männer im Dorf konnten die Fallwege der Bäume nicht mit dem Auge berechnen, sie arbeiteten grobschlächtig. Wenn es nach den Hilfsförstern ginge, hätten die angesägten Nadelhölzer an dem Ort liegen zu bleiben, wo sie just standen. Das trieb Roland häufig auf die Palme, ein Wort gab das andere, die Forstgehilfen knurrten kurz und gaben letztlich widerwillig nach. Sie waren auf den Stundenlohn angewiesen. Hier, in dem kleinen Ort Hebelbach in Südbaden, war es schwer, einen Beruf zu finden, in dem genug zu verdienen war. Die Menschen schämten sich, arm zu sein, und ein Großteil der Bürger mied das Amt, obwohl sie die staatliche Unterstützung händeringend benötigt hätten.

Die sollen froh über mich sein, wegen mir hat Renate Arbeit, weiß sie, mit ihrer Zeit was anzufangen war Franz der Meinung.

Er wurde nachdenklich. Er bekam in der Vergangenheit oft dazu Gelegenheit, über das eigene Leben zu grübeln. Auch Renate, Roland, Annika und Lars Kastel besaßen eher knapp Geld. Zusätzlich war die Familie einer ganz besonderen Belastung ausgesetzt. Der Stress, der unkontrollierbar den Alltag durcheinanderbrachte, beunruhigte und traurig machte. Er forderte den vollen Einsatz der Familienmitglieder und gewährte selten eine mehr als zwanzigminütige Atempause. Schon seit zwei Jahren hatten die Kastels ein Problem, das die größte Aufmerksamkeit verlangte, und sie fanden keine Lösung dafür. Die Pflege des todkranken Großvaters zermürbte sie alle, und nur zu gerne hätten sie die Verantwortung abgegeben.

Eigentlich gehört der Alte ins Heim. Ich kann nicht mehr, die Kräfte sind aufgezehrt.

Doch sie scheuten bis zu dem Zeitpunkt diesen Schritt und wollten sich die Erschöpfung, die zur seelischen Ohnmacht geworden war, überspielen. Außerdem hatten die Kastels rechtliche Fesseln an den Händen. Franz Kastel, neunundsiebzig, litt seit vier Jahren und zweihundertsiebenundsechzig Tagen an Lungenkrebs. Die Metastasen zerstörten das Lungengewebe und befielen Leber und Nieren. Endstation, unmittelbar vor dem Friedhof. Aber was bedeutete das? Seit zwei Jahren kämpfte er täglich, stündlich, manchmal äußerst dramatisch gegen die Todesschlinge, die ihm die Luft abdrückte. Spätestens alle zwei Wochen verabreichte der Notarzt eine Spritze, damit er für weitere zehn Tage atmete. Die Ärzte wie die Kastels wussten um die Sinnlosigkeit der Maßnahmen. Einen Heimplatz lehnten die Kastels aus zwei Gründen ab: Erstens gab es einen Erbvertrag, der Roland verpflichtete, Franz bis zu seinem Tode zu pflegen. Bei einer vorzeitigen Aufgabe der Pflege müssten sie das Haus verkaufen und den Erlös unter den sieben Geschwistern aufteilen. Und zweitens lag das nächste Pflegeheim 20 Kilometer entfernt. So viel Herzblut floss durch die verstopfte Familienarterie, als dass man dem alten Kastel eine Pflegeheimunterbringung ersparte. Sie hingen irgendwie aneinander, auch wenn die Emotionen inzwischen eher in die negative Richtung ausschlugen. Eine unterkühlte Form der Hassliebe.

Lande ich im Heim, geht das Haus flöten, dann muss es verkauft werden. Renates Blick möchte ich in dem Moment sehen, wo der Notar den Vertrag protokolliert ... , jubilierte Franz.

In Hebelbach lebten in den meisten Familien gewöhnlich mindestens drei Generationen unter einem Dach, das war selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. Wer es ablehnte, die Eltern zu pflegen, wurde mit Verachtung gestraft. Renate zumindest hätte das in Kauf genommen: Am Boden ihrer Kräfte fühlte sie den Mitbewohnern des Dorfes und den sozialen Regeln gegenüber nur noch Abscheu. Die Dorfbewohner zeigten gerne mit dem Finger auf Leute, die es schwer hatten. Mit den Dorfregeln, aber zudem mit dem Leben. Zu dieser Gruppe gehörte Renate. Sie kämpfte ums seelische Überleben. Vorwürfe von Menschen, die in einer anderen Lebenssituation sind, würde sie kalt lassen, sie hasste Leute, die mit erhobenem Zeigefinger den Gehsteig entlangschlichen und überforderte Mitbürger verurteilten.

»Die Arschlöcher, putzen bestenfalls den eigenen Popo, und verachten mich, die einen dreckigen Alten ins Bad schleift und abduscht.« Renate hatte genug vom Dorftratsch, satt bis über beide Ohren.

Wenn Franz nicht verschwindet, .... Roland muss aufwachen!

An den vergangenen zwei Heiligabenden hatte der Notarzt ausgerechnet die Bescherung gestört, auf die Annika und Lars hin gefiebert hatten.

Das tut mir leid für die Kleinen. Aber was kann ich für meine Erstickungsanfälle? Würde jeder andere um Luft ringen, käme auch der Rettungsdienst. Jeder würde eine Hilfe dankbar annehmen. Von mir erwartet mir was anderes ... abkratzen. Da geb ich mein Haus her und als Dank pflastert man mir den Weg in die Grube. Wie nett und herzlich. Leben kann ich hier in der Tat nicht mehr, aber deswegen ins Heim abhauen? Damit Renate die Früchte meiner harten Lebensarbeit allein einsackt?

Niemand behauptete, Franz simulierte. Roland, Renate und die beiden Kinder, sie sehnten ein liebevolles und friedliches Weihnachten herbei. Annika und Lars lebten die längste Zeit ihres noch kurzen Lebens mit dem Opa zusammen und fühlten sich permanent in die zweite Reihe gedrängt. Begrenzt akzeptierten sie diese Rolle. Langsam wurde es Zeit, dass auch ihre Bedürfnisse erfüllt wurden.

Opa am Morgen, Opa hier und Opa am Abend. Pass mal auf Opa auf, ich muss einkaufen. »Darf ich eine Freundin einladen?«

»Nein, du weißt doch, dass der Opa Ruhe braucht.«

In dem Klima gedieh eine aggressive Stimmung, denn Annika kam in die Pubertät und spürte eigene, pulsierende Energien aufkeimen. Sie beobachtete an anderen, wie die mit ihren Müttern redeten, wie sie ernst genommen wurden. Das wünschte sich die junge Kastel, wie sie im Dorf genannt wurde, auch. Und sie giftete dann zurück:

»Der Opa hat kein Recht, dich aufzufressen, ich bin auch da.«

Die verzweifelte und kraftlose Renate wollte nach mehreren Jahren endlich wieder einmal Weihnachten feiern. Nichts anderes. Ein berechtigtes Anliegen. Jeder feierte in Deutschland das Fest der Liebe, für sie wurde es zum Horrorfest der Hiebe. Sie quälte sich jahrelang im Hamsterrad, aus dem sie keinen Ausweg fand. Es keimten Gedanken an die eigene Zukunft und die der Kinder auf. Eine Zeit erleben, die von Selbstbestimmung und ohne Zwänge gestaltet wurde. Keine strangulierenden Bindungen an einen siechenden Opa. Die beiden Kinder lebten befreit auf, lernten mit Freude und genossen die Kindheit und Jugend. Sie war so entnervt von der ausweglosen Situation und hatte kein Patentrezept. Opas Zustand verschlechterte sich zusehends.

Bald betrachte ich die Radieschen von unten, dann freut sich Renate. Und Roland? Der steht unter ihrer Fuchtel und sie knechtet ihn. Furchtbar. Er übersieht mit den blinden Augen die Tatsachen, der arme Kerl. Mir tut´s weh, was aus ihm geworden ist. Ein pieseliger Waschlappen, der für jeden Schritt Renates Zustimmung braucht. Würd`s mir besser gehen, ich hätte der Tyrannin längst eine geknallt. Roland muss auf den Tisch hauen, er geht sonst vor die Hunde.

Heimlich holte sie bei ihrem Hausarzt Dr. Fünfstern und einem weiteren Fachmann Informationen ein. Sie interessierte, ob man einen Sterbenskranken durch medikamentöse Hilfen rechtlich einwandfrei erlösen könnte besser, dürfte. Sie dachte dabei mehr an ihre juristische Absicherung, weniger an ein sterbenbeschleunigendes Präparat. Die Mediziner boten übereinstimmend eine schmerzstillende Spritze an, Weitergehendes wäre bedenklich.

Eine Maßnahme, die zum sofortigen Ableben führte, lehnten beide ab. Allenfalls käme eine Sekundärmaßnahme in Betracht, also eine solche, die vordergründig eine zusätzliche Krankheit behandelt mit dem Nebeneffekt, dass der Patient eventuell früher stürbe.

Renate hatte den Ausführungen der Fachleute gelauscht, aber nicht alles richtig verstanden.

»Dann wäre es also möglich, unserem Vater eine letzte Injektion zu verabreichen, damit er schneller sterben könnte?«

Fünfstern stotterte ein wenig, leise, kaum hörbar.

Was soll ich der Frau Kastel denn sagen? Ich verstehe sie, ja, nur zu gut. Der alte Knochen macht ihr das Leben zur Hölle, zur Höchststufe einer überhitzten ... Ich baue ihr eine gedankliche Brücke, was sie anfängt, überlasse ich ihr ... Ich ... lasse die Finger von Sterbehilfe, ansonsten lande ich in Teufels Küche.

»Man kann einem Todkranken, der Selbstmord begehen möchte, mit einer Spritze die Angst nehmen.« Sie hörte nur noch »Spritze« und sehnte die nahe Erlösung ihres Martyriums herbei. Ob ihr Schwiegervater an Selbstmord dachte, musste sie mit Schulterzucken beantworten. Ihre Gedanken waren auf das bevorstehende Fest der Liebe fokussiert. Und dass Franz dann ...

»Dieses Weihnachten werden wir ungestört feiern«, versprach Renate den Kindern, »nochmal lassen wir uns durch nichts und niemanden stören.«

»Wie meinst du das?«, schaltete sich Roland ein.

»Dass der Notarzt wegbleiben wird.«

»Woher willst du wissen, dass wir den dieses Jahr nicht brauchen?«

»Weil wir ihn nicht mehr rufen werden oder dein Vater nicht mehr bei uns ist ... oder ich.«

»Wie bitte? Du willst meinen Vater nicht mehr ...?

»Genau. Dr. Fünfstern wird uns vielleicht ...«

»Was wird Dr. Fünfstern?, he?«

»Dein Vater ist schwerkrank, er röchelt vor sich hin und wird bald sterben, das sagt auch der Arzt. Der meint, Franz würde nicht loslassen können und er hätte eine Medizin, die Franz beim Sterben helfen würde. Warum dann nicht ...«

»Hör mal gut zu, liebe Renate. Franz ist mein Vater, er gehört für mich zur Familie wie Annika und Lars. Fertig, aus.«

»Die Kids leiden unter ihm. Welchen Eindruck bekommen sie von Weihnachten, wenn er uns permanent mit seinen Erstickungsanfällen die Freude nimmt? Willst du, dass deine Kinder mit Weihnachten den puren Horror verbinden?«

»Wenn du ihn umbringen willst, was lernen die beiden dann? Man kann jeden beseitigen, falls er einem lästig wird? Nein und abermals nein! Mein Vater gehört zu uns, er hat das Recht, dass wir ihm helfen. Du warst auch einverstanden, als er uns vor neun Jahren das Haus überschrieben hatte, oder nicht?«

»Ich will ihn grundsätzlich am Leben halten. Seine Gesundheit weist eine andere Richtung, ins Finale. Nimm das zur Kenntnis. Dein Vater hat ein Problem: Er tut sich schwer mit dem Sterben. Das ist vielleicht eine Liebestat, wenn wir ihn erlösen. Und übrigens: Im Erbvertrag steht nicht, dass er uns jedes Weihnachtsfest zerstören darf und wir uns von ihm zugrunde richten lassen müssen.«

»Da steht aber, dass wir für seine Pflege bis zum Tod aufkommen. Und du kassierst 1800 Euro Pflegegeld doch auch gerne. Wenn er nicht mehr lebt, ist Schluss damit.«

»Roland, kapier endlich: Ich bin mit meiner Kraft am Ende, mit den Nerven sowieso. Mir geht es nicht mehr um die Kohle. Sollte ich draufgehen, hilft dir keine Million!«

»Du hast bisher immer wieder die Kurve gekriegt. Denk an den Erbvertrag. Willst du das Haus verkaufen und den Kindern ihr Heim wegnehmen? Vater wird bald sterben, aber noch lebt er. Und wir sollten alles tun, damit er würdig lebt und genauso stirbt.«

»Wir sollen ihn wegen der Kröten um jeden Preis am Leben lassen, meinst du das? Mir steht Franz hier, am oberen Scheitel. Wenn du wüsstest. Nein, Roland, ich fange lieber woanders neu an, aber diese Qual muss ein Ende haben.«

»Das Geld ist das eine, es geht aber auch ums Prinzip. Man bringt nicht einfach einen Menschen um, weil er stört. Denk an deine Mama. Du hast sie auch bis zu ihrem Tod gepflegt. Und die hat unter Demenz gelitten. Unser Haus war unsicher wegen ihr. Was hättest du gesagt, wäre ich eines Tages dahergekommen mit dem Vorschlag, sie um die Ecke bringen zu wollen? Wärest du damit einverstanden gewesen?«

»Du übersiehst den entscheidenden Unterschied: Meine Mutter konnte reden und hat Weihnachten mit uns gefeiert. Sie störte nicht eine Feier, dein Vater jede

»Sie brauchte uns die ganze Zeit. Und ich musste sie oft zum Arzt fahren. Fünfstern kommt dagegen immer hierher. Natürlich können wir das Geld gebrauchen, keine Frage.«

»Und deswegen sollen wir ums Verrecken einen Todgeweihten künstlich am Leben halten?«

»Nein, wir begleiten ihn beim und im Sterben, wie bei deiner Mutter. Wir pfuschen nicht rein und geben ihm keine Spritze!«

»Du kapierst nicht, dass ich mit den Nerven am Ende bin. Roland, ich kann nicht mehr. Ich will auch nicht mehr. Entweder, wir finden eine Lösung, oder ...«

»Oder was?«

»Oder du kannst Franz alleine pflegen. Ich bin dann weg.«

Die ständigen Hilfsmaßnahmen, wenn Franz sich beim Essen verschluckt hatte, die Körperpflege, das Einmassieren des schrumpeligen Rückens, all das überforderte sie. Zudem der Haushalt, die Kinder mit den Schulschwierigkeiten und einen Ehemann, der tagsüber kaum greifbar war. Sie war überlastet, ihre Umgebung überhörte und übersah sie. Die Fronten verhärteten sich. Roland und Renate kamen nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Keiner verstand den anderen. Beste Voraussetzungen für ein katastrophales Weihnachtsfest. Immerhin wusste Roland nun, dass Renate seinen Vater nicht mehr weiter pflegen wollte und konnte. Jetzt waren die Karten auf dem Tisch.

Renate ging die Treppe hoch ins Schlafzimmer und suchte ihre Kleidung zusammen. Sie stapelte sie und legte sie zur Seite auf den Boden. Ihr war klargeworden, wie chancenlos und einsam sie im eigenen Haus dastand. Roland hing an seinem Vater. Er konnte sich genauso wenig von Franz trennen wie umgekehrt. Aber die Pflegearbeiten musste sie größtenteils leisten, ihre Erschöpfung wurde nicht zur Kenntnis genommen. Annika und Lars passten ab und an auf Franz auf oder kochten ihm einen Tee. Roland stand nachts auf. Umfangreichere Hilfe sah anders aus.

Sie stieg zum Dachboden hoch und holte zwei Koffer. Zeichen, die Roland die Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens vor Augen führen sollten. Annika und Lars schliefen bereits. Ihretwegen zögerte Renate noch, ob sie tatsächlich gehen wollte. Es wäre eine Option für die Familienmutter, die Kinder zurückzulassen. Und das war schon eine ganze Zeit so. Sie rang mit ihrer Mutterrolle und der aus der Erschöpfung gediehenen Sehnsucht, auf eigenen Füßen zu stehen. Weihnachten erkor sie aus, für klare Verhältnisse zu sorgen. Sie sah keine gemeinsame Zukunft mehr. Keine mit Roland und Franz. Ihre Kinder liebte sie innig, doch die Spannungen im Haus waren für alle belastend. Lars und Annika liebten ihren Vater, sie vergötterten ihn nahezu. Renate sah die letzte Chance, dass sich etwas änderte, wenn sie ging. Definitiv, ohne geäußerte Rückkehrabsichten. Dann musste Roland in die Bresche springen und er würde nur dann erkennen, was Renate für die Familie geleistet hatte. Sie genoss die Vorstellung, wie Roland winselnd, bettelnd angekrochen käme, sie ihn zappeln ließe. Der Hass fraß sie auf. Sie brauchte zu viel Lebensenergie auf, in der Aufopferung für Franz, die Familie, den Haushalt.

»Du wirst morgen die Koffer wieder hochbringen, wetten?«, frohlockte Roland. »Du bist immer schwach geworden, wenn es hart auf hart gekommen war. Wohin willst du überhaupt?«, setzte er eins drauf.

»Warts ab. Morgen sieht deine Welt anders aus, das schwöre ich.«

»Und was ist mit Annika und Lars? Nimmst du sie mit?«, stach der in die Wunde.

»Fürs Erste wirst du dich um sie kümmern. Wenn ich eine Bleibe gefunden habe, wo wir zu dritt wohnen können, hole ich sie nach.«

Nur, wenn die Kids es wollten, würde sie über eine zeitlich befristete und klar geregelte Rückkehr nachdenken. Ohne Zwang würde Roland nichts ändern. Wenn sie bliebe ..., ein Gedanke, den sie rasch runterschluckte ...

»Du weißt, dass ich im Gegensatz zu dir einer Beschäftigung nachgehe. Die Kinder sind deine Angelegenheit, darauf hatten wir uns verständigt.«

Renate hörte nicht mehr zu. Sie ertrug das Geschwätz Rolands, dem es ihrer Meinung nach ausschließlich um sich ginge, nicht mehr aus, Sie wollte stark bleiben, ein Zeichen setzen, dass es so nicht mehr weiterging.

Welche Herausforderung wartete auf sie nach dem Tod von Franz? Ein Leben mit Roland? Die Ungewissheit grub tiefe Furchen in die Seele. Sie erlebte nur eine lange Zeit mit Franz und einem Ehemann, der sie mit der Last in Gestalt eines alten Sterbenden alleine ließ. Sie packte der Mut. Die Phantasien, die Hassvorstellungen, Enttäuschungen, führten zu nichts. Sie musste ins Handeln kommen.

Sie dachte endlich mal an sich. Und ihre Gedanken fühlten sich warm und wohlig an. Sie ging mit einem entschlossenen Lächeln ins Bett.

Stirb endlich Alter

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