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Kapitel 4

Man könnte die Vorgehensweise perfide nennen, emotionale Hilflosigkeit würde das Verhalten Rolands besser beschreiben. Er hatte Renate bei der Polizei in Happbach als vermisst gemeldet, der nächst größeren Stadt von Hebelbach gesehen. Da er ahnte, wohin Renate geflohen war, erwähnte er Mariannes Wohnung als mögliche aufnahmebereite Örtlichkeit. Auf diese Weise umging Roland den persönlichen Kontakt mit der ungeliebten Schwägerin und erreichte doch, was er vorhatte: dass Renate zwangsweise Farbe bekennen musste.

Die Kinder bleiben zu Hause. Ich brauche sie, wer kümmert sich ansonsten um Franz? Sie haut ab, die Kinder müssen zur Schule, ich in den Wald, und Franz? Wenn dem was zustößt, bin ich der Dumme, nee, nicht mit mir. Wahrscheinlich will sie noch Unterhalt.

Annika und Lars besuchten die Realschule in Happbach. Sie benutzten den Schulbus, um dorthin zu gelangen. An diesem Tag, dem zwanzigsten Dezember, war alles anders. Sie durften nicht in die Schule.

»Hört zu, ihr beiden. Ich verlange, dass ihr euch um Franz kümmert. Es geht nicht anders. »Roland meldete sie krank. In Wahrheit mussten die beiden ihren überforderten Vater entlasten und auf Franz aufpassen. Roland sägte Christbäume im Dorfwald und verdiente damit das Einkommen in den Wintermonaten. Er konnte unmöglich gleichzeitig an zwei Orten sein, daher brauchte er jemanden, der ihm half. Da er keine Zeit hatte, sich über professionelle Hilfe zu informieren, entschied er kurzerhand, die Kinder einzuspannen. Die wussten nicht, wie ihnen geschah, zwang ihr Vater sie in der Vergangenheit in die Schule, wenn ihnen schlecht war oder sie unter Fieber gelitten haben. Jetzt, wo es ihm gelegen kam, hielt er sie von der Penne entfernt. Beide hätten wichtige Klassenarbeiten zu schreiben, worauf Roland mit abweisender Hand reagierte.

»Der Opa ist wichtiger als Klassenarbeiten«, meinte er und erklärte in dürren Worten, was die beiden zu tun hatten. Er zog seine Arbeitsjacke an, stieg in den Geländewagen und tuckerte vom Hof. Die beiden jungen Kinder bekamen es mit der Angst zu tun, weil sie mit ihrem todkranken Opa alleine im Haus und für ihn verantwortlich waren. In ihrer Not schrieben sie an Renate:

»Papa ist im Wald, wir mit Opa allein. Haben Angst.« Sie las die SMS, als die Polizei in Person Herrn Mühlroths an der Türe von Mariannes Wohnung klingelte und ihre Schwester gerade öffnete:

»Guten Morgen, Frau Haberer, entschuldigen Sie die Störung. Wir haben eine Vermisstenmeldung erhalten. Ihr Schwager sucht seine Frau, also Ihre Schwester, Renate Kastel.«

»So, er sucht seine Ehefrau. Hat er Ihnen gesagt, dass meine Schwester sich heute von ihm getrennt hat?«, fragte Marianne.

»Diese Information ist neu für uns.« Während ihre Schwester sich für sie den Mund fusselig redete, quälte Renate der Hilfeschrei ihrer Kinder. War es richtig, die beiden den Konflikt ihrer Eltern ausbaden zu lassen? Sie zauderte kurze Zeit, denn warum sollten Unschuldige die Suppe auslöffeln? Dann schoss es ihr durch den Kopf: Wenn sie klein beigab, hätte Roland sein Ziel erreicht. Dass alles so weiterlief, wie es bislang in seinen Augen funktioniert hatte. Aber nur in seinen, Renate blieb standhaft und ließ Marianne gewähren.

»Frau Haberer, jetzt mal konkret: Ist Ihre Schwester bei Ihnen?«

»Ja, sie ist hier, will aber definitiv weder mit Ihnen reden noch zur Familie zurück. Noch was?«, wurde sie ungeduldig.

»Das wäre es fürs Erste. Einen schönen Tag.« Und damit rauschten die Polizeibeamten davon.

Anschließend zeigte Renate ihrer Schwester die SMS von Annika und Lars und fragte nach ihrer Meinung.

»Renate, bleib hart. Das Problem ist nicht mehr deines. Schreibe den Kids, sie sollen nur das machen, was sie können und ansonsten Roland fragen.«

Der Vorschlag bestärkte Renate und sie setzte ihn um.

Annika und Lars missfiel das Vorgehen ihrer Mama. Sie fühlten sich alleine gelassen und ließen es Renate wissen. Die ergriff endlich die Initiative und rief Roland an:

»Roland, die Kinder sind mit der Pflege des Opas überfordert. Das ist ab sofort dein Job. Wenn du nicht augenblicklich die Kinder in die Schule schickst, schalte ich die Ämter ein.« Sie gab ihrem Noch-Mann keine Antwortmöglichkeit mehr. Der schmiss voller Wut die Motorsäge auf den Boden, stieg in den Geländewagen und machte sich aus dem Staub. Aber nicht nach Hause, sondern zu Marianne. Die Polizei hatte ihm verraten, dass Renate sich dort aufhielt.

»Ich will Renate sprechen«, fauchte er die Schwägerin an.

»In dieser Stimmung bleibst du vor der Tür. Renate hat sich von dir getrennt. Alles Weitere dann später.«

»Bitte, lass mich kurz mit ihr reden«, flehte er Marianne an.

»Willst du mit Roland sprechen?«, fragte sie Renate in die Wohnung gewandt.

»Nein. Es ist besser, wenn er nach Hause fährt.« Roland hörte, was Renate von hinten sagte. Er resignierte, denn auch er fühlte sich überfordert. Was blieb ihm anderes übrig, als wieder nach Hause zu fahren?

Kapitel 5

Franz hatte die Konflikte der Familie Rolands hautnah miterlebt. Er litt selbst unter dem Konflikt, niemals wollte er, dass die Schweigertochter Reißaus genommen hatte. Selbstredend hatte den eigenen Anteil daran im Gedächtnis:

Ja, ich kann mir vorstellen, warum sie gegangen ist. Ich spüre immer noch meine sexuellen Triebe. Eine andere Frau sehe ich weit und breit keine. Ich kann auch kaum nachvollziehen, warum sie sich so ziert. Weiber mochten Zärtlichkeiten. Und jetzt? Sie lehnte ab. Dabei ist die garantiert scharf wie ein Messer. Einmal hatte ich sie beinahe soweit … dann kam Roland heim und sie zog ganz schnell ihre Klamotten wieder an. Das wäre ein nettes Schäferstündchen geworden. Musste der Kerl ausgerechnet in dem Augenblick, wo ich geil war und sie ausgezogen hatte, nach Hause kommen, vorzeitig und unangekündigt. Da hat er mir gründlich den Spaß verdorben. Renate hungert nach Aufmerksamkeit und Nähe. Das steht fest. Sie bekommt viel zu wenig von Roland. Der kann froh sein, dass sie noch bei ihm geblieben ist. Schäbig, warum sie ausgerechnet mich als Grund vorschiebt? Was habe ich ihr getan? Zärtlichkeiten gegeben, nach denen sie gelechzt hatte wie der Nomade nach Wasser. Jetzt bin ich pflegebedürftig und todkrank. Niemand muss sich verpflichtet fühlen, einen Arzt anzurufen, wenn es mir schlecht geht. Ich würde immer helfen. Leben ist etwas Schönes. Ich kämpfe um das größte Geschenk, das ein Mensch empfangen kann. Warum hat Renate ein Problem mit dem Geschenk? Oder hasst sie nur mich? Kann ich kaum vorstellen, als ich sie zärtlich verwöhnt hatte, war sie gelassen und genoss meine Streicheleinheiten. Ja, auch zwischen den Beinen. Frauen wurden als geschlechtliche Wesen erschaffen. Warum leugnet sie ihre Sexualität? Sie leidet unter ihrer Ehe. Sie warf mir vor, dass ich meinen eigenen Sohn hintergangen hätte. Ich? Und sie? Wenn, dann wir beide, dann soll Roland mit das vorwerfen und mich um eine Entschuldigung auffordern. Sie teilte diese Aktion.

»Roland. Ich habe nie gewollt, dass Renate abhaut, nie, hörst du? », sagte er Roland, der erschöpft von der Arbeit heimkehrte. Sagen ist übertrieben. Er presste jeglichen Laut, den er verbalisierte, aus dem verkrebsten Kehlkopf und hatte eine Maschine an der Gurgel, die den Sprechlaut verstärkte.

»Franz. Du kannst gut reden. Du liegst hier im Bett, dämmerst vor dich hin und wartest, bis deine Lichter ausgegangen sind. Ich habe noch ein paar Jahre vor mir. »

»Junge. Ich kann mich nur entschuldigen. Renate herzaubern schaffe ich nicht, ich vermisse Renate wie du auch. » Das Statement, das Roland wie eine billige Entschuldigung vorkam, machte ihn rasend.

»Du bist ein jämmerlicher alter Sack. Tu nicht so scheinheilig. Ich weiß, welchen Anteil du an der Scheiße hier trägst. » Diese ausfallenden Beleidigungen trafen den Alten ins Herz. Solche Worte hatte er nicht verdient. Das Leben spielte sich auf einer Kampfbahn ab. So verstand er es. Wer verloren hatte, beschimpfte andere.

»Hör mal, Junge. Du bist ein grottiger Versager. Sonst würdest du den Verlust Renates akzeptieren. »

»Ich ein Versager? Weil ich hart arbeite und du dich in der Zeit an meiner Frau vergriffen hast. »

Jetzt schwieg Franz. Roland hatte seine Eskapaden doch mitbekommen, das war ihm sehr peinlich. Er ertappte sich dabei, wie er Roland gründlich unterschätzte.

Franz legte sich auf die von Roland abgewandte Bettseite. Sich entschuldigen?

»Der soll ruhig wissen, dass er Renate einiges schuldig geblieben ist. Er sieht das anders, was soll`s? »

»Alter, hör zu«, begann Roland abfällig, »Vielleicht ist es besser, wenn du in ein Heim gehst. »

»Du vergisst den Vertrag. Kannst schon mal den Umzugswagen bestellen und den Kids klarmachen, dass sie ab nächsten Monat woanders wohnen. »

»Willst du mich erpressen? Wegen eines Fetzens Papier? »

»Erpressen nennst du, was ich Vertragstreue bezeichne. Du wusstest, worauf du dich eingelassen hattest. Also, verkauf das Haus und dann kannst du mich in ein Heim stecken. »

Roland schäumte vor Wut. Die Wut wechselte mit einer Trauer. Wegen des Wegzugs Renates, aber auch dem Leiden der Kids. Sie hielten die Spannungen nicht mehr aus. Er wusste nicht mehr ein und aus, er hatte noch keinen Plan. Den sollte die Zeit aufschreiben. Alles andere wäre unnötige Zeitverschwendung.

Stirb endlich Alter

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