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DIE KUNST DES MITTELALTERS

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(1904)

Das Mittelalter beginnt kunstgeschichtlich dort, wo die griechisch-römische Kunst, auf ihrem eigenen Boden abgestorben, im Schoße fremden Volkstums in neue, abartende Entwicklungen eintritt. In diesem allgemeinsten Sinn hat die abendländische Kunst denselben Ausgangspunkt wie die byzantinisch-orientalische. Verschieden ist aber hier und dort nicht nur das aufnehmende Medium, sondern auch formal die Art der Verbindung. Im Osten trifft die griechisch-römische Kunst mit einer anderen, die ihre eigenen, sehr alten und sehr bestimmt gerichteten Überlieferungen hat, zusammen. Die jungen Völker des Westens dagegen, Kelten und Romanen, haben ihr nichts Eigenes und Fertiges entgegenzustellen. Ihre Götter wohnten nicht in Tempeln, ihre Könige nicht in Palästen. Sie waren ohne Kunst. Von einer Vermischung zweier Systeme, wie sie im Osten sich vollzog, ist bei ihnen nicht die Rede.

Gewiss, alles, was nachher die mittleren und neueren Zeiten künstlerisch geleistet haben, bliebe unverständlich ohne die Annahme, dass irgendwo in einem sehr verborgenen Winkel der germanischen Volksseele auch ein Keim zu künstlerischer Anlage bereitlag. Nur bleibt er für uns unsichtbar. Er besteht lediglich als potentielle Energie und musste lange schlummern, bis er in aktuelle sich umwandeln konnte. Phantasiebegabung zwar war das Letzte, was der germanischen Volksseele gefehlt hätte. Die ihr natürlichste Form, sich auszudrücken, war aber die Dichtung; übergreifend selbst auf Gebiete, die ihrem Wesen nach dem Verstand gehören, wie Recht und Staat; nicht vorhanden war jene feinere sinnliche Reizbarkeit, die zur bildenden Kunst führt. Es will etwas sagen, dass der dreihundertjährige Zeitraum römischer Herrschaft in Germanien für die Erziehung der Unterworfenen nach der künstlerischen Seite völlig unfruchtbar blieb: über ein bescheidenes Begehren nach Schmückung ihres Leibes, ihrer Behausungen, Geräte und Waffen kamen sie nicht hinaus, und die Formen, die sie in Gebrauch hatten, waren von früh auf aus dem Kunstkreis der Mittelmeervölker geborgt. Alles Suchen nach einem ureigenen germanischen Formenschatz ist umsonst; was man zuweilen dafür gehalten hat, besonders im Bereich der Nordgermanen, ist doch nichts anderes als barbarisiertes Lehngut, wenn auch mit bestimmt gerichtetem eigenen Willen in der Art der Auswahl und Abwandlung der Originale. Das Wesentliche ist das Absehen von der Naturwirklichkeit, eine absolute Musik der Linie. Auch die als Eroberer in die römischen Grenzen eindringenden Stämme sind zur Kunst in kein aktiveres Verhältnis gekommen; sie waren weitaus nicht die Zerstörer, die »Vandalen«, zu denen die spätere Legende sie gestempelt hat; sie gründeten ein Geschlecht von Herren, nicht von Handwerkern; sie nahmen die Kunst hin als einen untrennbaren Bestandteil der vorgefundenen Kultur, aber kraft eigenen Geschmacks ihr Vorschriften zu machen, lag ihnen fern. Genug, auch nach der germanischen Eroberung wandelte sich die Kunst der lateinischen Länder genau so ab, wie sie es ohne sie getan hätte.

Erst die um Jahrhunderte jüngere zweite Aussaat im Norden, die von der christlichen Kirche unternommene, ging auf. Erst jetzt kam die Zeit, wo der nordische Mensch auf die an ihn herangebrachten Kunsteindrücke seelisch antwortete, wo er sie nach seinem Sinn sich deutete, nach seinem Sinne umgewandelt etwas Ähnliches und doch schon anderes hervorzubringen sich gereizt fühlte. Zum ersten Mal in greifbarer Gestalt tritt uns dies neue Verhalten im Reich Karls des Großen entgegen: hier ist schon Mittelalter.

Zweierlei Veränderungen hatten sich inzwischen vollzogen: die eine in der inneren Disposition des empfangenden Teils, der Forschung verschlossen, aber notwendig vorauszusetzen; die andere im überlieferten Stoff selbst. Es handelte sich nicht mehr um die echte Antike, sondern um die schon innerlichst verwandelte, durch das Eindringen des wiedererwachten alten Orients einer ersten Zerlegung und neuen Zielsetzung unterworfenen Spätantike. Einen zweiten Zersetzungsprozess leitete jetzt der nordische Geist ein. War dies Geschäft vollbracht, so konnte der Aufbau eines neuen Kunstkörpers folgen. Für das Verständnis des Vorganges wesentlich ist, dass in der antiken Überlieferung immer noch ein Rest von Leben geblieben war. Die Kunst des karolingischen Zeitalters ist nicht Wiederbelebung, nicht Renaissance, wofür man sie öfters ausgegeben hat. Es ist nur in sehr untergeordnetem Sinn wahr, dass sie nach rückwärts schaute; in ihr wirkte noch ohne Unterbrechung der von der Antike kommende Stoß fort, mit dem sich dann die neuen, bald als die stärkeren sich erweisenden Kräfte verbanden.

Vermittlerin war, wie schon gesagt, die christliche Kirche. Von ihr wurde die Rezeption verlangt, zugleich deren Maß vorgeschrieben. Nur so viel, wie die Kirche von der antiken Kunstwelt unter ihr rettendes Dach aufgenommen hatte, gewann Einfluss auf die werdende mittelalterliche Kunst; was außerhalb dieses Überlieferungsrahmens stand, war allerdings tot. Die römischen Baudenkmäler, die in nicht geringer Zahl in den deutschen Rheinlanden, in größerer in verschiedenen Teilen Galliens – von Italien nicht zu reden – sich erhalten hatten, sind kein Faktor in der neuen Bewegung; nach wie vor sah der Barbar sie mit blöden, verständnislosen Augen an; erst auf einer viel weiter vorgerückten Stufe der mittelalterlichen Entwicklung haben sie an einigen Orten etwas Renaissanceähnliches hervorgerufen. In Betracht kommt für die Grundlegung nun: was brachte die christliche Kirche an Kunstformen mit? Ein genaues Inventar davon vermögen wir nach jetzigem Stand der Kenntnis nicht aufzustellen. Sicher war der lateinische Okzident nicht die einzige Quelle; jene große Transformation, in der die Antike im Orient begriffen war, hatte frühzeitig, vor Karl dem Großen, ihre Wirkungen bis in die keltisch-germanische Welt, soweit sie christlich wurde, hineinerstreckt. So ist denn nicht Weniges von dem, was uns als neu und unantik entgegentritt, gar nicht germanische, sondern orientalische, dem Westen importierte Prägung. Die Barbaren des Westens fühlten sich denen des Ostens in vielen Punkten näher als beide der klassischen Antike.

So sehr die germanischen Völker zunächst als der bloß empfangende, der anzutreibende und zu belehrende Teil erschienen, lag doch bei ihnen die positive Kraft der Neubildung. Die irischen Kelten, früher als die Germanen mit einer eigentümlich gefärbten Kunst auftretend, erreichten sehr bald die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. In Frankreich zeigte sich anfänglich der Süden und der Westen dem halb germanisierten Norden überlegen, dann aber trat dieser dauernd an die Spitze. Aber auch nicht das rein romanische Blut ergab einen Vorzug. Die spezifisch mittelalterliche Kunst hatte ihren Herd in Deutschland, Nordfrankreich, Burgund; in Italien beteiligte sich an ihrer Hervorbringung nur der nördlich des Apennin gelegene Teil der Halbinsel, Rom schon nicht mehr; Spanien hat eine originale Kunst überhaupt nicht besessen.

National im eigentlichen Sinne ist indessen die Kunst des Mittelalters niemals geworden. Nicht der Genius eines einzelnen Volkes, wie im Altertum der hellenische, war Führer. Der Einheitspunkt lag in einer Institution, die mit dem Begriff der Nationalität nichts zu tun hatte, in der katholischen Kirche. Das auf Überlieferung beruhende Bedürfnis der Kirche hatte die Kunst ins Leben gerufen; kirchlich blieb sie, solange sie mittelalterlich blieb; das Emporkommen einer autonomen weltlichen Kunst ist eines der ersten Zeichen des nahenden Verfalls der mittelalterlichen Weltanschauung. Der Kirche verdankt die Kunst, dass sie nicht in Anarchie verfiel; sie verdankt ihr ebenso die Stetigkeit ihrer Fortentwicklung, denn es war der größte Segen für sie, dass sie immer wieder an denselben Aufgaben sich zu üben und zu vollkommneren Lösungen sich emporzuheben hatte. Ebenso klar ersichtlich ist freilich, dass die Verbindung mit der Kirche eine Schranke bedeutete. Die Kirche hat ihre Oberhoheit zwar ohne Engherzigkeit geübt; so umfassend, wie ihr Wirkungskreis genommen wurde, durfte als kirchliche Kunst vieles auftreten, was unmittelbar mit der Religion nichts zu tun hatte; gleichwohl blieb es bestehen, dass ein anderes Daseinsrecht, als das ihr die Zwecke der Kirche gaben, für die Kunst nicht in Betracht kam. Daher die Ungleichheit des Verhaltens in den verschiedenen Gattungen. Unvergleichlich kräftiger und ergebnisreicher betätigte sich der schöpferische Trieb in den tektonischen, als in den imitativen Künsten. Jene, die stofflich indifferent sind, gestatteten ein freies Ausleben der Phantasie. Auf diesen lastete die Autorität. Das Bild, das der Maler und Plastiker hinstellte, war wieder nur aus dem Bild, dem überlieferten, nicht aus der Natur geschöpft. Die mittelalterliche Kunst ist der neuzeitlichen ebenso überlegen in ihrer gewaltigen stilisierenden Potenz, wie unterwertig durch ihre Naturfernheit. Einen Augenblick, auf ihrer Höhe im 13. Jahrhundert, schien es, als wollte sie auch nach dieser Seite zur Freiheit durchdringen; dann aber sank sie in Konventionalismus zurück. Wer sie aufsuchen und schildern will, nicht in ihrer Beschränktheit, sondern ihrer schöpferischen Ursprünglichkeit, dort wo sie wirksam blieb auf die nachfolgenden Zeiten bis herab auf die unsrige, der hat in erster Linie die Baukunst und die mit dieser unter gleichem Gesetz lebenden Kleinkünste ins Auge zu fassen.

Die Bauweise der germanischen Urzeit war reiner Holzbau; ihr setzte sich der Kirchenbau als reiner Steinbau entgegen. Ein stärkerer Gegensatz kann in der Welt architektonischer Möglichkeiten nicht gedacht werden. Eine Vermischung trat nicht ein; höchstens dass einige wenige aus der Behandlung des Holzes sich ergebende Schmuckformen in den Steinbau sich einschlichen, wozu wir aber z. B. das im romanischen Stil zu großer Verbreitung gelangte Motiv des Würfelkapitells nicht rechnen möchten; auch nicht die oft besprochenen Giebelchen als Ersatz für Bögen an der Torhalle des Klosters Lorsch in einem sonst ganz antikisierenden Formenensemble, da diese längst schon an altchristlichen Sarkophagen die gleiche Verwendung gefunden hatten. Der nationale Holzbau wurde infolgedessen auf einer inferioren Stufe zurückgehalten: die Entwicklung der Baukunst als Kunst vollzog sich allein im Steinbau. Für den autoritativen Charakter der Überlieferung ist das bezeichnend. Denn mit den konstruktiven Kenntnissen der Kirchenmänner, die jetzt als Bauleiter und Lehrer auftraten, war es schwach genug bestellt, und sie hatten große Mühe, sich ihre Handwerker heranzuziehen. Immerhin, auch in der rohesten Form hatte der Steinbau einen unersetzlichen Vorrang in Bezug auf Sicherheit und monumentale Würde. Der Fortschritt im Technischen nahm denn auch einen äußerst langsamen Gang; erst mit dem Eintritt ins 12. Jahrhundert beschleunigte er sich; das dreizehnte sah in der Baukunst, wie auf allen anderen Gebieten des mittelalterlichen Kultursystems die Höhe. Immer wird auch die Frühzeit für den Historiker kulturpsychologisch ein großes Interesse bewahren. Wir wollen als ihre Grenzen in abgerundeter Rechnung die Jahre 800 und 1000 annehmen. Sie als bloße Übergangszeit einzuschätzen, halten wir für falsch: denn gerade in ihr werden eine Anzahl der wichtigsten Grundlinien für die Zukunft gezogen. Gegenüber der Spätantike, so gesunken diese auch war, erscheint sie rau und barbarisch; aber der müde Quietismus, der jene gekennzeichnet hatte, ist überwunden; eine Wandlung mit klarer und energischer Zielstrebigkeit ist im Gang.

Wie überall in einer gesund sich entwickelnden Baukunst gingen die praktischen sachlichen Forderungen auf dem Weg voran. Die Kirche hatte ein Recht, sich als die Achse in der vom großen Kaiser neugeschaffenen Welt zu fühlen, und es gehörte zu den Mitteln ihrer Herrschaft, dass dieses dem Volk sichtbar werden sollte, wo immer sie sich feierlich zur Darstellung brachte, in den Formen des Gottesdienstes, in der Gestalt des Gotteshauses. Vor allem war der Abstand zwischen Geistlichkeit und Volk in der liturgischen Ordnung schärfer herauszukehren, nicht mehr bloß durch Schranken und Vorhänge, sondern durch eine neue Gliederung des Gebäudes selbst; die Zahl der Altäre mehrte sich; Reliquienkult und Wallfahrten wurden ein großes Wesen; vor allem die tonangebend an der Spitze der Baukunst stehenden Klöster hatten ihre besonderen Bedürfnisse. Die heilige Grundgestalt des Gotteshauses, die Basilika, wollte niemand antasten, aber man machte ihren Grundriss reicher, zusammengesetzter. Die folgenden neuen Motive sind die wichtigsten:

Erstens: Das Halbrund des Altarhauses von einem niedrigen konzentrischen Seitenschiff umzogen, beide Raumteile durch offene Bogenstellungen in Kommunikation; aus der Außenwand kleine halbrunde Kapellen, radiant zum Kreiszentrum des inneren Chors hervortretend. Diese Form – an welche älteren Vorformen etwa anknüpfend, ist hier nicht zu erörtern – entstand spätestens im 9. Jahrhundert in der großen Wallfahrtsbasilika zu Tours über dem Grab des hl. Martin, des größten Heiligen der Franken. Sie wurde die klassische Chorform des romanischen Stils im westlichen, südwestlichen und zentralen Gallien; einzelne große Kloster- und Pilgerkirchen des Nordens eigneten sie sich frühzeitig an, Burgund vom Ende des 11. Jahrhunderts ab; die Normandie kannte sie nicht, auch sonst kein außerfranzösisches Land mit Ausnahme von Spanien; im gotischen Stil später erlangte sie die größte Bedeutung.

Zweitens: Die Grundform des lateinischen Kreuzes, d. h. Anlage eines Querschiffs, an das sich östlich ein rechteckiger Chor, räumlich als Fortsetzung des Mittelschiffs gedacht, anschließt; damit verbindet sich als Wesentliches die Festsetzung einer konstanten Maßrelation zwischen den einzelnen Bauteilen in der Weise, dass die Breite des Mittelschiffs der Breite des Querschiffs gleichgesetzt und das dadurch im Kreuzesmittel entstehende Quadrat in der Ausmessung des Chors und der Kreuzflügel wiederholt, häufig auch in der Abmessung des Langhauses zugrunde gelegt wird, das dann als Summe mehrerer Quadrate erscheint. Die Bedeutung dieser Neuerung gegenüber der unentwickelten und schlaffen, nur selten überhaupt mit einem Querschiff begabten Konfiguration der altchristlichen Basilika leuchtet ohne weiteres ein. Sie ist typisch für das Ostfrankenreich. Im berühmten Bauriss für Sankt Gallen vom Jahr 820 zum ersten Mal sicher bezeugt, doch gewiss um einiges früher schon entstanden. Für den deutsch-romanischen Stil blieb sie während seiner ganzen Dauer ebenso bezeichnend, wie die vorher betrachtete Form für den französisch-romanischen.

Drittens: Der Grundriss des Ordens von Cluny: er erweitert den zuletzt beschriebenen; der Hauptchor erhält Nebenchöre, jeder mit einer apsidialen Nische geschlossen; ebensolche an der Ostwand der Kreuzflügel, so dass ihre Zahl auf fünf steigt. Unter dem Einfluss von Cluny dringt dieser Chortypus über Burgund hinaus in andere Länder vor; in geschlossenen Gruppen erscheint er in Deutschland (»Hirsauer Schule«) und der Normandie.

Viertens: Die Krypta; aus unentwickelten Vorformen des altchristlichen Brauchs entsteht im 9. und 10. Jahrhundert die bekannte Form einer halb unterirdischen Gewölbehalle, der bevorzugte Ort der Reliquienverehrung. Besonders den kreuzförmigen Anlagen, deren Chor sie zu einer wirkungsvollen Bühne für den Altardienst emporhebt, fügt sie sich glücklich ein und ist deshalb in Deutschland, aber auch nur hier, ein unentbehrlicher Bestandteil einer romanischen Kirchenanlage geworden. Der burgundisch-kluniazensische Schulkreis (mit Einschluss der Hirsauer) lehnte sie ab; auch im Westfrankenreich war sie wenigstens kein regelmäßiges Erfordernis.

Fünftens: Die Anlage eines zweiten Chors am westlichen Ende des Gebäudes unter Verdrängung des traditionellen Eingangs; meist mit eigener Krypta und nicht selten auch mit eigenem Querschiff. Dieser Typus entfernt sich vom ursprünglichen Gedanken der Basilika am weitesten. Nicht allein, aber am häufigsten kommt er wieder in deutschen Kloster- und Domkirchen vor. Vom 12. Jahrhundert ab ist er im Rückgang.

Sechstens: Im inneren Aufbau vollziehen sich unter Beibehaltung der in der Idee der Basilika liegenden allgemeinen Grundsätze folgende Veränderungen: an Stelle der leichten Backsteinkonstruktion tritt massiges Bruchsteinmauerwerk; die Arkadenöffnungen werden weiter, die Stützen niedriger und stärker; die Säule wird häufig durch vierseitige Pfeiler ersetzt oder Säulen und Pfeiler werden in einem bestimmten rhythmischen Wechsel kombiniert; Zahl und Größe der Fenster, die einen Glasverschluss nur selten empfangen, muss mit Rücksicht auf das nordische Klima erheblich beschränkt werden; die Seitenschiffe erhalten häufig ein zweites Geschoss, die Emporen, eine Einrichtung, die nach dem Jahr 1000 etwa in vielen Schulen, z. B. fast in allen deutschen, jedoch wieder aufgegeben wird.

Siebtens: Die Türme, die dem frühchristlichen Kirchenbau überhaupt gefehlt hatten und, als sie nach und nach in Aufnahme kamen, als gesonderte Gebäude neben den Kirchen standen, werden angegliedert, bald als Zentraltürme über dem Durchkreuzungspunkt des Querschiffs, bald als Fassadentürme, bald in Kombination beider Motive.

Die in diesen sieben Punkten enthaltenen Gedanken hat die karolingische Epoche als reichen Rohstoff gleichsam aus den Steinbrüchen gehoben; sie auszuarbeiten, zu verfeinern, zu beleben, blieb die noch immer große Aufgabe der folgenden Jahrhunderte. Ungeachtet der äußeren Anknüpfung an die altchristlichen Formen wird der ästhetische Grundcharakter des romanischen Stils mit einer schon früh sich zeigenden Entschiedenheit ein wesentlich anderer: er ist gruppierender Massenbau von starker rhythmischer Bewegung. Damit ist der Außenbau, der im Altchristlichen fast rein nichts gewesen war, wieder in seine Rechte eingesetzt, ja in der Blütezeit des Romanismus gehört ihm fast die größere Liebe. Die Mannigfaltigkeit der Gestaltung ist zuerst in der Differenzierung der Schulen, dann aber auch innerhalb der Schulen bei den einzelnen Bauindividuen, eine so große, wie sie seither kein anderer Stil mehr gekannt. Ein zweiter durchgehender Charakterzug ist die monumentale Würde und sichere Kraft, selbstbewusst ohne Ruhmredigkeit, ernst und gemessen auch in der Pracht, mit einem unzerstörbaren Etwas von Vornehmheit selbst an technisch roh geratenen oder zu kleinsten Abmessungen hinabsteigenden Bauten. Keine moderne Nachahmung hat diese Stimmungswerte je erreichen können.

Am langsamsten gewannen die Zierformen ihre eigene Sprache in der Zeit der Reife mit jener immer wieder anzustaunenden Fülle des ornamentalen Wortschatzes. Das 9., 10. und 11. Jahrhundert waren noch sparsam im plastischen Detail. Man würde sich jedoch irren, wollte man meinen, ihre Innenräume wären nicht anders als so kahl und roh, wie sie heute erscheinen, beabsichtigt gewesen. Die durchaus als notwendig empfundene Ergänzung brachte die Malerei. Was der Baumeister nur halb getan hatte, sollte der Maler weiterführen: die Flächen teilen, Zwischenglieder herstellen, durch ornamentale Symbole die Leistung der Bauglieder interpretieren, kurz, die ruhenden Massen mit rhythmischem Leben erfüllen. Der Weg der weiteren Entwicklung ist nun der, dass nach und nach der Steinmetz den Maler ablöst. Was in der Frühzeit durch wage- und senkrecht gemalte Bänder ausgedrückt worden war, für das treten Gesimse, Pilaster, Halbsäulen, kurz plastische Glieder; was den Kapitellen, Friesen, Türbogenfeldern der Pinsel als Zierrat gegeben hatte, wird in Meißelarbeit umgesetzt; Historienmalerei, figürliche Plastik und ornamentale Kunst grenzen ihre Gebiete bestimmter ab, jedes auf dem seinigen freier werdend, aber in der Wirkung sich unterstützend. Die Existenz urgermanischer Formen ist unerwiesen und unglaubhaft; die wahre Leistung des Mittelalters liegt in der Umdeutung und Neubelebung dessen, was ihr die Antike, und zwar aus der doppelten Quelle des Hellenismus und des Orients überliefert hatte. Selbstverständlich konnte das ohne starke eigene Phantasietätigkeit nicht zustande kommen. Nur zum kleinsten Teil gingen die Motive direkt von der Baukunst auf die Baukunst über; weitaus zum größeren hatten sie gleichsam eine Seelenwanderung durch den Körper anderer Kunstgattungen durchzumachen. In der Frühzeit nahmen die Kleinkünste sie in Pflege, in Metallarbeiten, in Elfenbeinschnitzereien, in Fadenmalerei und Miniaturmalerei waren die meisten Formen, deren sich die entfaltete Baukunst bediente, schon von langer Hand vorbereitet. Weiterhin hat sie die Dekorationsmalerei für den monumentalen Stil appretiert. Und erst zum Schluss kehrten sie, nun aber völlig verwandelt, zu dem der Baukunst eigensten Stoff, dem Stein, zurück. Um das Ergebnis zu verstehen, muss man diese lange Folge technischer Transformationen im Auge behalten. Es kam einer Neuschöpfung gleich. Nur jugendliche Völker haben das Glück, das zu können. Schon die Gotik war auf ornamentalem Gebiet weit unproduktiver. Bildhauer von heute können romanisches Ornament nicht einmal kopieren, es gerät ihnen unbegreiflich fade.

Neubildungen in Fülle! Aber immer noch im Rahmen des Raumbildes und der Konstruktion der Basilika mit flacher Holzdecke. An die Wurzel des überlieferten Systems griff erst die Forderung der vollständigen Durchführung des Steinbaus, d. h. des Übergangs von der flachen Holzdecke zum Gewölbe. Dass sie nicht ausbleiben konnte, begreift sich leicht. Romanische Kirchen, deren Holzdecken sich bis heute erhalten haben, gehören zu den größten Seltenheiten, Brandnachrichten bilden in den Klosterchroniken eine stehende Rubrik. Nicht bloß von außen kam die Gefahr, durch Blitzschlag, Brandlegung in Kriegszeiten u. dgl., sie lag in der Einrichtung des Kirchengebäudes selbst, dessen kleine, lichtarme, im Winter verschlossene Fenster zu ausgedehnter Anwendung von Kerzen- und Lampenlicht hinführten. Von der gewölbten Decke erwartete man praktisch größere Sicherheit, ästhetisch den Eindruck größerer Monumentalität. Eine gewisse Kenntnis der Wölbetechnik hatte sich erhalten, an den Halbkuppeln der Apsiden, in Krypten, Emporen, Kapellen wurde sie überall geübt; zuweilen überrascht das Zustandekommen auch größerer Gewölbebauten, die dann aber immer zentral disponiert sind (wie z. B. S. Bénigne in Dijon, Ottmarsheim, beabsichtigt in der Kapitolskirche in Köln, alles Bauten aus der ersten Hälfte und Mitte des 11. Jahrhunderts). Die Schwierigkeit lag nicht im Wölben an sich, sondern darin, dass die den Römern geläufig gewesenen Gewölbeformen, an die man hätte anknüpfen können, unvereinbar waren mit der Raumform der Basilika, die nun einmal die historisch tief eingewurzelte, liturgisch wie künstlerisch durch große Vorzüge gestützte Kirchenform war; denn die über Pfeilern und Bögen schwebenden, oberwärts freiliegenden Hochwände, wie sollten sie Gewölbe tragen, ohne durch deren Schub seitlich auseinander geworfen zu werden?

So stand man vor dem Dilemma: das Gewölbe annehmen und die Basilikenform fallen lassen – oder der Basilika treubleiben und auf die Gewölbe verzichten. Verschiedene Schulen haben sich hierin verschieden verhalten, lange Zeit ist mit wechselnden Versuchen hingegangen, die befriedigende Lösung brachte erst das gotische System.

Das Auftauchen des Gewölbeproblems hatte aber noch eine andere Folge, die eines Wandels im ganzen Baubetrieb. Wo sich nicht, wie in Italien und vielleicht auch im südlichen Gallien, alte Gewerkschaften erhalten hatten, da hatte die Geistlichkeit die Leitung übernommen. Diese dilettantische Betriebsart ist in den Folgen kenntlich genug; indessen unter den einfachen Bedingungen der Frühzeit genügte sie. Aber es kam die Zeit, wo mehr verlangt werden musste. Umsichtig regierte Klöster, wie Cluny und Hirsau nebst ihren Anverwandten sahen sich schon genötigt, aus ihren Laienbrüdern Gesellschaften von Bauhandwerkern berufsmäßig zu organisieren, womit alsbald bedeutende technische Fortschritte sichtbar wurden. Das war aber nur eine Zwischenstufe. Der allgemeine Zug ging auf vollständige Laisierung. Und das hieß zugleich Nationalisierung. Die Gleichförmigkeit der früheren Jahrhunderte schwindet; je näher zur Höhe des Mittelalters, umso reicher werden die Differenzierungen, umso bestimmter die Stilphysiognomien der einzelnen Landschaften. Versuchen wir, so gut es mit wenigen skizzenhaften Strichen gelingen kann, die Hauptcharaktere zu schildern.

Am weitesten in der Spaltung in regionale Sondertypen, merkwürdigerweise ohne Schwächung der Triebkraft des einzelnen Zweiges, ging das heutige Frankreich. Der damalige Zustand unfertiger Rassenmengung und mangelnder Staatseinheit erklärt diese Erscheinung wohl im Allgemeinen, aber nur selten in ihren konkreten Einzelheiten. Wo beim Bau eines einflussreichen Klosters, einer vielbesuchten Wallfahrtskirche eine neue technische oder künstlerische Entdeckung gemacht wurde, da bildete sich für einige Zeit ein Schulmittelpunkt. Den Anlass zu einer durchgreifenden Scheidung der Schulen in zwei große Lager gab die Wölbungsfrage, wobei die geographische Grenzlinie ungefähr dieselbe ist, wie zwischen der Sprache des oc und der Sprache des oil. Das Gebiet der Langue d'oc ging mit raschem Entschluss zur Wölbung über, etwa um das Jahr 1000, erheblich früher als irgendein anderer Teil des Abendlandes; das Gebiet der Langue d'oil verharrte bei der Flachdecke. Das 11. Jahrhundert hindurch bleiben die Gewölbebauten in der künstlerischen Fassung roh und ungefüge; dann aber, in der Glut und Erregung der Kreuzzugszeit gelingt ein neuer und großer Aufschwung. Zwischen dem ersten und dem zweiten Kreuzzug sind alle Meisterwerke des französisch-romanischen Stils entstanden. Freilich, das Ziel der Wölbung war erreicht durch ein Opfer, auf dessen Unvermeidlichkeit wir schon hingewiesen haben, durch das Opfer der Basilika. Die unter den römischen Vorbildern gewählte Wölbungsform war der nach der Längsachse des Gebäudes durchgehende Halbzylinder, das Tonnengewölbe; das System teils das des einschiffigen Saales, teils das der dreischiffigen Halle mit parallelen Tonnen. Das Holz wurde in dieser Bauart so vollständig ausgeschlossen, dass man selbst die Dächer aufgab, mit steinernen Platten über dem Gewölberücken sich begnügte. Die Mauern ungeheuer mächtig, die Fenster über Bedarf klein. Da die letztere Erscheinung sich auch an den Basiliken Italiens und Spaniens wiederholt, muss man annehmen, dass in jenem Zeitalter dunkle Stimmung der Innenräume von den Menschen des Südens geflissentlich aufgesucht wurde als etwas die Andacht Beförderndes. Das 12. Jahrhundert behielt in Südfrankreich die obengenannten Systeme bei, aber es veredelte sie durch ein Raumgefühl, von dem man jahrhundertelang nichts gewusst hatte. Diese einfachen, ruhevollen, wohlgestimmten Verhältnisse sind Ergebnis eines neuerwachten Verständnisses für den in jenen Gegenden noch aus zahlreichen Denkmälern sprechenden antiken Kunstgeist; gleichzeitig wird das antike Detail wieder aufgenommen und mit überraschender Feinfühligkeit, zuerst genau, dann freier nachgebildet. Der Schauplatz dieser Protorenaissance ist die Mittelmeerküste und das Rhonetal mit Ausläufern nach Burgund; darf man etwa sagen, das griechische Blut sei hier noch nicht verbraucht gewesen? – Wesentlich ein anderes Naturell, ein keltisch gefärbtes, gibt sich in Aquitanien und im Poitou zu erkennen. Hier wird die dreischiffige Hallenanlage, mit gleicher Höhe aller Schiffe, bevorzugt. Im Innenraum bleibt sie bedrückt und dumpf, in einer unbeschreiblich fremdartigen, barbarischen Stimmung; das Äußere prunkt in einem Überschwall von Zierformen; ihre Bildung ist weichlich und üppig, dabei ein Hang zur Anhäufung spukhaft monströser Tiergestalten, deren Vorbilder, durch Vermittlung sassanidischer Gewebe, aus der altorientalischen Vorratskammer der Phantastik herstammten. Eine überaus merkwürdige Umbildung des einschiffigen Saales vollzog sich in der Landschaft Périgord: das Tonnengewölbe wurde durch eine Folge von sphärischen Kuppeln ersetzt. Auch diese sind ein Erwerb aus dem Osten, von den Kreuzfahrern mitgebracht; aber nur als Element; Komposition und Geist der perigordinischen Kunst ist nicht byzantinisch; es entsteht ein Bautypus von hoher Eigentümlichkeit, der in manchen Denkmälern eine rigorose Erhabenheit erreicht, mit der sich in der Baukunst aller Zeiten und Völker Weniges vergleichen lässt. – Wieder ein anderes, sehr prägnantes Gebilde entstand im zentralen Bergland der Auvergne. Das innere System ist das der Hallenkirche mit Hinzufügung von Emporen über den Abseiten; es zeichnet sich konstruktiv durch große Festigkeit aus und nähert sich auch im Raumbild einigermaßen wieder der Basilika. Künstlerisch reifer ist die Außenansicht; durch Verbindung des Kapellenchors mit einem hohen, staffelförmig gegliederten, von einem achteckigen Turm gekrönten Querschiff gewinnt sie eine plastische Massengliederung von ungewöhnlichem Reiz. Der Typus blieb auch nicht auf seine auvergnetische Heimat beschränkt. Einige hochberühmte Wallfahrtskirchen – S. Fides in Conques, S. Saturnin in Toulouse, S. Jago in Compostela – gaben ihm weitere Ausbreitung. Alle diese Schulen waren denen Nordfrankreichs und überhaupt dem ganzen übrigen Europa voraus im konstruktiven Denken wie in der glanzvoll gestaltenreichen Formphantasie. Aber sie hatten sich von der gemein europäischen Entwicklung abgesondert. Bald nach Erreichung ihrer höchsten Blüte gegen die Mitte des 12. Jahrhunderts sterben sie ab, ohne einen triebkräftigen Samen zu hinterlassen.

Unter den Schulen Nordfrankreichs sind Isle de France, Champagne und Picardie, der Heimatboden des künftigen gotischen Stils, in der romanischen Epoche verhältnismäßig die schwächsten. Ihr Stil ist eklektisch, am meisten verwandt dem der westlichen Rheinlande. Von 1100 ab werden Versuche im Gewölbebau angestellt, doch nur in kleinerem Maßstab; im Ganzen herrscht die Flachdecke bis 1150. Nur die beiden an den Flügeln stehenden Schulen, die burgundische und die normannische, waren dem Süden ebenbürtig in der Kunstkraft, überlegen im Einfluss nach außen. – Von Burgund gingen die beiden großen abendländischen Klosterreformen aus, die kluniazensische und die zisterziensische. Beide propagierten wo nicht einen eigenen Stil, so doch ein bestimmt formuliertes Bauprogramm; auch lehrten sie, darin zumal für Deutschland wichtig, eine bessere Mauertechnik. Das Urbild der Kluniazenserkirchen wurde gegeben durch den Bau des Abtes Majolus vom Jahr 981. Hundert Jahre später wurde er abgebrochen unter Abt Hugo dem Großen und ein ganz kolossaler, überaus prächtiger Neubau errichtet, das größte Kirchengebäude, das in der romanischen Epoche überhaupt entstanden ist. Er erlangte nicht mehr den gleichen internationalen Einfluss wie die ältere Kirche. Gleichwohl ist er ein baugeschichtlicher Merkstein dadurch, dass in ihm das Problem der Einwölbung der Basilika zum ersten Mal seine Lösung fand. Cluny war der Mittelpunkt der jüngeren burgundischen Schule, die durch Größe der monumentalen Gesinnung und vornehme künstlerische Kultur zu ihrer Zeit, d. i. in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, den höchsten Platz in der abendländischen Baukunst einnahm. In eigentümlicher Weise klingen in ihr Vorahnungen so der Gotik wie der Renaissance zusammen: an jene erinnert die Raumgestaltung und der Gliederbau im Großen, an diese der Formenapparat. Nur die konstruktive Lösung konnte nicht ganz befriedigen, da das Wagnis der Überspannung des Mittelschiffes mit einem durchlaufenden Tonnengewölbe als zu kühn sich erwies. – Der Aufschwung der normannischen Schule datiert von der Klosterreform durch Abt Wilhelm von Fécamp. Er brachte von Cluny die Grundrissdisposition und die Doppeltürme der Fassade. Im Übrigen entwickelte sich die normannische Bauart selbständig. Ihr eignet feste Willenskraft und klarer Verstand. Der Gedanke der Wölbung, und zwar der Wölbung der Basilika, begann sie schon bald nach der Mitte des 11. Jahrhunderts zu beschäftigen; hohe Emporen sollten die Mittelschiffswände gegen den Gewölbedruck sichern. Indessen kamen die Hauptgewölbe nicht zur Ausführung; aber die Emporen, die starken Bündelpfeiler verblieben dem System und gaben ihm sein straffes und wehrhaftes Aussehen; dazu ein Detail, dem antike Erinnerungen, überhaupt das Pflanzenornament, gänzlich fremd waren, das nur mit starren geometrischen Formen, mit Ecken und Spitzen, Schuppen und Kerben, Zacken und Sternen operierte, das aus Eichenholz geschnitzt und aus Eisen geschmiedet zu sein schien; der stärkste Gegensatz zu dem weichlichen, qualligen Formcharakter des Südwestens; ob aber im Zusammenhang mit altgermanischen Erinnerungen, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Mit den Normannen ist dieser Stil übers Meer gegangen und hat sich die britische Insel so vollständig unterworfen, dass dort von einem Nachleben sächsischer Art nichts zu entdecken ist.

Über Italien ist im Rahmen dieser Übersicht nur kurz zu sprechen. Es zeigt ein nicht weniger vielgestaltiges Bild als Frankreich, aber nicht aus Überfluss an spontanen Trieben, sondern aus Mangel an Widerstandskraft gegen fremde Einflüsse. Wo diese nicht hinkamen, da war lange Zeit nur Stagnation und Verwilderung. Der Dom von Pisa, 1063 begonnen, aber zu nicht geringem Teil erst im 12. Jahrhundert ausgeführt, gibt das erste Beispiel eines höheren Lebensgefühls, das in einem Hauptpunkt mit der Tendenz der nordalpinen Länder, ohne von ihr abzuhängen, übereinstimmt: in der mit dem Inneren gleichartigen Behandlung des Außenbaus. Bis tief ins 13. Jahrhundert zehrt die toskanische Architektur von den hier gegebenen Gedanken, zu denen nur die Florentiner, durch selbständige Beobachtung und Deutung der Antike – wie in Südfrankreich ein verfrühter Anlauf zur Renaissance – einige neue Züge hinzubrachten. In Rom wusste man nichts anderes, als die gebrechlichen Basiliken der alten Zeit immer wieder aufs neue auszuflicken mit Bausteinen aus dem antiken Trümmerfeld. Den ersten Platz, wenn nach Menge und Glanz der Bauwerke zu urteilen wäre, dürften Apulien und Sizilien beanspruchen, aber es fehlte zugleich Einheit und Konsequenz; byzantinische, arabische, normannische, pisanische und lombardische Motive geben mit älteren lokalen Erinnerungen das bunteste Durcheinander. Fühlung mit den Bestrebungen jenseits der Alpen hatte nur die Lombardei. Hier kam um dieselbe Zeit wie in Burgund und am Rhein die Wölbung der Basilika zustande. Es scheint, dass Versuche mit dem Hallensystem vorausgegangen waren; ob als selbständige Erfindung oder als Import aus Südfrankreich, ist nicht festzustellen. Der Vorzug des lombardischen Systems ist seine große Festigkeit, sein Mangel die befangene Raumbildung. Diagonalrippen und Strebemauern sind bekannt, also der Idee nach ein Analogon zu den Anfängen des gotischen Stils: aber es wurden keine weiteren Folgerungen daraus gezogen. Das Äußere ist Backsteinrohbau, sehr massig, in den Gliederungsmotiven unorganisch. Aus der lombardischen Architektur spricht trotzige, schwere Größe, sehr selten Anmut. Man hat ihre Hauptwerke – aus dem 12. Jahrhundert – lange für weit älter gehalten als sie sind.

Im Vergleich mit Frankreich und Italien zeigt Deutschland im romanischen Stil ein einheitliches Bild; ein einheitlicheres als nachmals im gotischen; die Entwicklung der beiden Länder bewegte sich in dieser Hinsicht entgegengesetzt. Und die deutsche Baukunst hatte, um nicht in primitiver Rohheit stecken zu bleiben, die Einheit auch viel nötiger. Ein doch nicht ganz geringes Verdienst um sie möchten wir den Königen zuschreiben, teils durch die zahlreichen bedeutenden Kirchenbauten, die sie unmittelbar beförderten, vielleicht noch mehr durch ihre engen Beziehungen zur hohen Geistlichkeit. Großenteils aus dem Hofklerus gingen die Bischöfe, das will sagen, die großen Bauherren, hervor; im Dienst des Königs waren sie weit gereist, hatten sie viel gesehen; auf der damaligen Entwicklungsstufe konnte der wandernde Hof mehr für die Zirkulation der künstlerischen Gedanken und Kräfte tun, als es einer festen Hauptstadt möglich gewesen wäre. Die größten Bauunternehmungen liegen in der Zeit vor dem Investiturstreit; was in Mainz, Worms, Speyer, Straßburg, Limburg, Hersfeld, Würzburg, Bamberg, Regensburg, Magdeburg, Hildesheim, Bremen damals geschah, durchweg durch Männer, die zum Hofe in naher Verbindung standen, ist in der Größe der Intention im 12. Jahrhundert nicht wieder erreicht worden. Einen gewissen Erfolg in anderer Form brachte die mit Cluny zusammenhängende Hirsauer Schule, die vor allem für Süddeutschland wichtig wurde, aber auch bis nach Thüringen und Sachsen ihren Einfluss erstreckte. Im Ganzen liegt doch die beste Kraft des deutschen Bauwesens im sächsischen und fränkischen Stamm. Gegen das Ausland ist Deutschland in dieser Zeit abgeschlossen, die Verbindung mit dem Westfrankenreich war abgebrochen; mehr, doch auch nicht tiefgreifende Beziehungen bestanden zu Italien. Die lombardischen Wanderarbeiter waren als Kenner der Steinbearbeitung geschätzt und brachten auch manche neue Schmuckformen mit.

Die sächsischen Bauten gehen selten über mittlere Größe hinaus; ihr Wert liegt in der klaren Grundrissdisposition – durchweg im Sinn des lateinischen Kreuzes –, den harmonischen Raumverhältnissen, der sorgfältigen, maßvollen, in der Zeit der Reife glänzenden, aber aller Phantastik abholden Einzelbehandlung. Die Schwaben und Bayern, soweit sie nicht durch die Hirsauer Schule auf neue Bahnen geführt werden, bleiben in altertümlichen, schwach gegliederten Anlagen befangen und ihr Formensinn neigt zum Derben oder Grotesken; kleine Architekturbilder von malerischer Tendenz gelingen ihnen am besten.

Die rheinische Kunst erreicht die Meisterschaft in der großartigen Gruppierung vieltürmiger Anlagen, wofür die Dome von Mainz, Worms, Speyer (Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts umgestaltet) und zahlreiche Kirchen des Niederrheins allbekannte Beispiele geben. Hier auch wurde mit dem Gewölbebau begonnen. Gleich mit Aufgaben ersten Ranges. An der Spitze stehen die von Kaiser Heinrich IV. umgebauten Dome von Speyer und Mainz. Ihr System ist das der Basilika mit Kreuzgewölben. Das große Problem wurde also fast gleichzeitig mit Cluny in Angriff genommen, für den Durchschnittsstand der deutschen Baukunst vorerst noch zu kühn. Größere Verbreitung gewann der Gewölbebau selbst in den Rheinlanden erst 50 Jahre später. Bis er in Schwaben und Sachsen Wurzel fasste, vergingen weitere 50 Jahre, und noch immer verdrängte er die Holzdecke nicht ganz. Zunächst war der Fortschritt ein unzweideutiger auch nur im Praktischen; künstlerisch war das deutsche System, das sog. gebundene, wenig ausgiebig.

So wurde am Schluss des 12. Jahrhunderts – das erste Mal, dass es in einer Hauptfrage geschah – die Erfahrung des Auslandes zu Hilfe gerufen. Bis dahin hatte sich die deutsche Baukunst, nach der großen Rezeption in der Karolingerzeit, wesentlich aus eigener Kraft fortgebildet. Aus fremden Kunstkreisen nahm sie gelegentlich ornamentale Anregungen an, wie die Handelsartikel der Kleinkunst sie vermittelten, oder allgemein gehaltene Vorschriften des Bauprogramms, wie sie die Kluniazenser und Zisterzienser mitbrachten, oder es wurden italienische Maurer in Dienst gestellt. Das alles griff nicht tief. Etwas anderes ist es mit der jetzt angeknüpften Beziehung zur nordfranzösischen Schule. In dieser waren wichtige konstruktive Entdeckungen im Gang. Dass sie die Entstehung eines ganzen neuen Stils in sich schlossen, wurde schwerlich erkannt. Jedenfalls ging die Absicht der Deutschen, indem sie Schüler der Franzosen wurden, nicht nach dieser Richtung. Sie eigneten sich nicht das französische System im Ganzen an, sondern nur so viel herausgegriffene Glieder desselben, als nötig schien, ihren eigenen Kompositionen mehr Bewegungsfreiheit zu schaffen. Hiermit tritt der romanische Stil in seine letzte, blühendste Phase. Man bezeichnet sie nach alter Gewohnheit noch immer als die Phase des Übergangsstils, obgleich die diesem Namen zugrundeliegende historische Konstruktion als irrig erkannt ist. Zum Schönsten dieses sog. Übergangsstils gehört eine von Köln ausgehende, um und nach der Wende des 12. zum 13. Jahrhunderts entstandene Gruppe von Kirchen (Apostelkirche, Groß-S. Martin, S. Quirin in Neuß u. a. m.), die sehr verschieden vom gotischen Gedanken, in freier Weise an antike Nischensysteme anknüpfen. So hat auch Deutschland eine Art Protorenaissance gehabt. – Ein Hauptinteresse des Spätromanismus betrifft die Detailformen. Diese verlieren nun den letzten Rest von dem strengen und wortkargen Wesen der älteren Zeit. Geschmeidige Kraft, Fülle ohne Unruhe, leichter Fluss der ornamentalen Erfindung, schöne Sicherheit des plastischen Ausdrucks und vor allem ein unbeschreibbarer, bis auf den heutigen Tag nicht verflüchtigter poetischer Duft, dies zusammen lässt die Hohenstaufenzeit als die glücklichste in der Geschichte der deutschen Baukunst erscheinen, jedenfalls als die Zeit, in welcher die Begriffe der Vornehmheit und der Volkstümlichkeit in erfreuliche Nähe gerückt waren; vornehm von Geburt und Sitte waren die Bauherren, aus dem Volk kamen und in beneidenswerter Naivität schufen die Künstler. Volkstümlich ist die deutsche Kunst noch einmal, im 15. und frühen 16. Jahrhundert, gewesen, aber nicht mehr vornehm. Und vornehm noch einmal im 18. Jahrhundert, aber nicht mehr volkstümlich.

Ein bedeutsamer Zug in der künstlerischen Kultur des Jahrhunderts der Staufer ist endlich das Eindringen künstlerischer Absichten in den Wohnbau. Voran gingen die Klöster mit ihren Refektorien, Kapitelsälen und Kreuzgängen. Doch konnte es sich hier nach der Natur der Sache nur um Innenarchitekturen handeln. Heitere und glänzende Repräsentation nach außen kennzeichnet den vornehmen Profanbau. In der Burg waren der Entfaltung dieser Tendenz bestimmte Grenzen gesetzt, doch wird man nicht übersehen dürfen, dass auch die unmittelbar dem Wehrzweck dienenden Teile in der schönen und mächtigen Behandlung der Quadertechnik und der ausdrucksvollen Führung der Silhouetten mit Bewusstsein auf den ästhetischen Eindruck abgestimmt wurden. In den Städten greift der Steinbau um sich. Das Patrizierhaus ist nicht mehr unter allen Umständen Stadtburg, ein neuer Typus mit offenen Fensterreihen und hohen Giebeln, der Anfang zum Bürgerhaus des späten Mittelalters, bahnt sich den Weg. Ja es nehmen sogar in Stadtbefestigungen hier und da die Tore einen Charakter mehr des festlichen Empfanges als der Abwehr an.

Das mittelalterliche Kultursystem war in die Phase sommerlicher Reife getreten, als ein neuer Stil, der gotische, geboren wurde. Neu ist er freilich nur bedingungsweise zu nennen. Er tritt nicht in Opposition zu den Zielen der bisherigen Entwicklung, es ist vielmehr das Hauptproblem derselben, die Gewölbebasilika, das er mit vollkommeneren Mitteln zu lösen unternimmt. Der Vielheit nationaler und landschaftlicher Varianten, in die der romanische Stil immer mehr sich auseinandergelegt hatte, macht er ein Ende; er siegt als künstlerischer Ausdruck des eben damals kräftig vordringenden Einheitsstrebens im Geistesleben der abendländischen Völker. Obgleich in seinem Ursprung landschaftlich scharf begrenzt, ist er nach seiner Tendenz kosmopolitisch.

Der gotische Stil nimmt seinen Ausgang vom konstruktiven Gebiet, und zwar von einer bestimmten Einzelfrage. Wie ist die Form des Kreuzgewölbes gemäß den Bedingungen des basilikalen Aufbaus zu verbessern? Zugleich materiell fester und formell biegsamer zu machen? Das vollentwickelte gotische Gebäude ist in seiner Erscheinung unsäglich kompliziert, und doch sind die Grundgedanken einfach und von so geschlossener Fügung, dass sie sich in eine kurze, dreigliedrige Formel zusammenfassen lassen: Konzentration des Gewölbedruckes auf die Eckpunkte mittels selbständig gemauerter Diagonal- und Randbögen; Einführung des Spitzbogens als desjenigen, der den geringsten Seitenschub ergibt und für das Verhältnis von Grundlinie zu Scheitelhöhe freie Wahl gestattet; Widerlagerung durch ein selbständiges Strebesystem. Einzeln waren diese Formen schon alle, auch der Spitzbogen, in der romanischen Baukunst verschiedener französischer Schulen vorgekommen, das Neue liegt in ihrer Verbindung. Daraus entwickeln sich alle übrigen Eigenschaften des Systems mit fast naturgesetzlicher Folgerichtigkeit. Wurden die tragenden Mauern für die Last des Gewölbes nur intermittierend von Punkt zu Punkt in Anspruch genommen und wurde an jedem Punkt der auf ihn wirkende Druck in eine seitliche und eine senkrechte Komponente gespalten, so dass nur noch die letztere in Frage kam, dann konnte auch die Mauer, ähnlich wie schon das Gewölbe, zerlegt werden in aktive und passive Bestandteile, in solche, welche struktive Arbeit leisten und solche, welche lediglich zum Raumabschluss dienen. Die Letzteren sind für die Stabilität des Gebäudes entbehrlich. Sie werden angewendet, nur wo andere Zwecke es erheischen, vor allem an der Decke; dagegen die Wände, welche jetzt nur noch Füllungen zwischen Pfeilern sind, können so vollständig von den Fensteröffnungen absorbiert werden, wie man jeweils für gut befindet. Es war gleichsam eine Ehrenfrage für das System, darin bis an die letzte Grenze zu gehen. Gewiss hätte man sich soweit nicht vorgewagt, hätte nicht eine andere inzwischen ebenfalls vervollkommnete Technik ihre Dienste angeboten: die Glasfabrikation. Das Korrelat zur Auflösung der Steinwände ist ihr Ersatz durch Glaswände. Sie sollen aber nicht bloß vor Wind und Wetter schützen, sie haben auch eine ästhetische Aufgabe. Ein Raum ohne Wände, ohne solche, die das Auge als Raumgrenze empfindet, wäre ästhetisch ein Widerspruch in sich selbst. Es darf also die verglaste Fensteröffnung nicht als ein Leeres erscheinen. So wird sie mit einem Gitterwerk feiner steinerner Stäbe und Bögen ausgestattet, und die Glastafeln werden gefärbt. Damit ist der zerstörte Flächenzusammenhang wiederhergestellt, sind gleichsam Teppiche zwischen den Pfeilern ausgespannt von unerhörter Farbenpracht, durchlässig für das von außen eindringende Licht, eine Schranke für das von innen vordringende Auge des Beschauers. Nichts mehr im Steinwerk ist ruhende Masse (außer den Gewölbekappen), alles Bewegung. Und diese teilt sich dem Raumbild selber mit, das sich nun gewaltig in die Höhe reckt. Neben allem, was unmittelbar im System liegt, sind die Veränderungen in den Proportionen, dann aber auch in der Beleuchtung wesentliche Momente in der Wandlung der Grundstimmung vom Romanischen zum Gotischen. Äußerste Vervielfältigung der Einzelglieder, Steigerung der Höhen, Verringerung der Durchmesser, Schweifung der horizontalen Linien, Verlegung des Gemäldeschmucks in die Fenster und Durchflutung des Raumes mit farbigem Licht; damit ist die Basilika, obschon in den allgemeinsten Bestimmungen unverändert, doch zu einem völlig neuen ästhetischen Charakter umgebildet. Die Gotik ist in den Mitteln, die sie anwendet, ganz Logik, im Gefühlsausdruck ganz Mystik. Kann ein vollkommeneres Symbol der mittelalterlich-kirchlichen Weltanschauung als in dieser Synthese gedacht werden?

Noch eine andere Seite in der geschichtlichen Stellung des gotischen Stils, die wir hier freilich nur ganz eilig streifen können, verlangt gewürdigt zu werden. Sie bedeutet ein sehr merkwürdiges Kapitel in der Geschichte der menschlichen Arbeit. Wir wissen, wie sehr den nordischen Völkern der Steinbau ursprünglich etwas Fremdes und Mühsames war. Bis zum Jahr 1100 bleibt der Mauerbau schlecht gefugt, die Meißelführung ungelenk. Von dann ab ist der Fortschritt rapid, mit unverkennbarer Überlegenheit der Romanen. Der gotische Stil ist recht eigentlich ein Triumph der Arbeit, und er stellt seinen Sieg über die Materie mit heller Freude ins Licht. Kann man in runder Summe sagen, dass ein gotischer Bau im Vergleich zu einem gleich großen romanischen dreimal weniger Material braucht, so erfordert er das Zehnfache an Arbeit. Der gotische Stil wurde nur möglich durch einen großen Umschwung aller gewerblichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Die Entstehung des gotischen Stils fällt zusammen mit den Anfängen der Geldwirtschaft. An die Energie, mit der die neuen, nach modernem Maßstab noch immer sehr unvollkommenen Hilfsmitteln ausgenutzt wurden, kann nicht ohne größte Bewunderung gedacht werden.

Der gotische Stil zeigt sich vom romanischen durch einen tieferen Einschnitt nur dort getrennt, wo er als ein fremder eindrang. Im Land seines Ursprungs, in Nordfrankreich, ging er in fließendem Übergang aus den älteren Zuständen hervor. Die Schule der Isle de France war länger als irgendeine andere im Frankenreich dem Wölbungsproblem ausgewichen; frühestens um 1100 hatte sie, in noch rein romanischen Formen, mit ihren ersten Versuchen begonnen, und schon 1140 erstand der Bau, der den Ruhm genießt, der Erstgeborene des gotischen Stils zu sein, die Abteikirche St. Denis. Nebenher hatte auch in mehreren Nachbarschulen der gotische Kerngedanke, d. i. das Kranzrippengewölbe, zu keimen begonnen, in der Normandie, im Anjou, in Nordburgund. Entscheidend war doch, dass die franko-picardische, dank einer eben jetzt einsetzenden, ungemein regsamen Bautätigkeit, sich an die Spitze stellen konnte. Überall sonst war eine gewisse Sättigung eingetreten durch die großartigen Leistungen der ersten Hälfte des Jahrhunderts: hier im Norden war noch alles nachzuholen. Die Erfahrungen der älteren Schulen hatte man zur Verfügung, man hatte frische Kräfte und freie Bahn. Die Schnelligkeit, mit der das neue System sich entfaltete, mit der der Gedankenprozess sofort in Taten sich umsetzte, stellt das Werden des gotischen Stils in stärksten Gegensatz zu dem trägen Zeitmaß der früheren Jahrhunderte. In wenig mehr als 100 Jahren sind alle Stadien bis zur Vollendung durchlaufen. In dieser Zeit wurden sämtliche Kathedralkirchen Nordfrankreichs (deren Zahl etwa dreimal so groß ist als die aller deutschen Dome zusammengenommen) neu gebaut. Nur diese ungeheure Betriebsamkeit in dichter räumlicher Nähe erklärt die rapide Abwicklung, die durch keine Nebengedanken sich ablenken ließ, die mit unaufhaltsamer Konsequenz die vorgezeichnete Linie bis zum Ziel verfolgte. Angenommen, es hätte gleich zu Anfang das ganze System in einem einzigen Kopf fertig dagelegen, während es doch die stufenweise sich aufbauende Leistung vieler ist, es hätte nicht prompter und nicht einheitlicher in die Erscheinung treten können.

Um den Weg von den ersten klargedachten Äußerungen bis zum Gipfel zurückzulegen, braucht der gotische Stil, wie gesagt, wenig mehr als 100 Jahre. Der jenseits des Gipfels liegende zweite Teil ist dreimal so lang. Jeder dieser Hauptabschnitte kann noch einmal durch zwei geteilt werden, wodurch wir folgende vier Phasen erhalten: Frühzeit 1140 bis 1200; klassische Vollendung 1200 bis 1270; doktrinäres Beharren 1270 bis 1400; Auflösung und letzte Verteidigung gegen neue Kräfte 1400 bis 1550. Die letzte Phase liegt, weltgeschichtlich betrachtet, schon nicht mehr im Rahmen des Mittelalters.

Beginnen wir die Schilderung der Frühgotik mit dem Grundriss, wie üblich, so zeigt sich, dass die neuen Bestrebungen mit diesem sich noch nicht beschäftigten; er bleibt schwankend; auffallend oft wird die auf dem Weg über die südlichen Niederlande aus Köln eingewanderte Kleeblattanlage gewählt; reiche, noch ganz romanisch gedachte Turmgruppierung bleibt beliebt. Das Spezifische ist das System des Aufbaus. Das Prinzip der Zerlegung ist vollständig durchgeführt, aber insofern doch mit Vorsicht, als die Intervalle sowohl in waagerechter als in senkrechter Richtung kurz genommen werden, d. h. die Pfeiler (sie sind rund gestaltet) stehen dicht, und der Aufbau ist in vier Glieder geteilt: Erdgeschossarkaden, Empore, Triforium, Lichtgaden. Den vertikalen Linienzug durchschneidet somit wiederholt ein horizontaler. Die Einzelbildung ist kräftig, der romanischen noch geistig verwandt. Beispiele: die Kathedralen von Paris, Sens, Noyon, Laon.

Der klassische Stil vereinfacht. Das Emporengeschoss wird ausgeschaltet, der Aufbau auf den Dreiklang gestimmt. Zugleich steigern sich die Höhenmaße sowohl relativ als absolut. Es kommen die ganz großen Fenster und in ihnen die Maßwerkgliederungen auf. Das Strebesystem erhält unumwunden die Herrschaft über die Außenansicht. Der Grundriss gewinnt eine Normalgestalt von großer Konzinnität: dreischiffiges Querhaus, fünfschiffiger Chor mit Umgang und Kapellenkranz, fast eine Kirche für sich, glänzender, perspektivischer Reize voll. Dagegen Reduzierung der Türme auf die zwei an der Fassade. Am großartigsten und reinsten ist das Ideal in den drei Musterkathedralen von Chartres (seit 1195), Reims (seit 1210), Amiens (seit 1218) ausgesprochen. Eine interessante, aber keine Nachfolge findende Variation in den Kathedralen von Bourges und le Mans. Am weitesten vorgeschritten, mit schärfster Zuspitzung des Gedankens, schon etwas spitzfindig und etwas virtuosenhaft in den Querschiffsfassaden der Notre-Dame in Paris und im Chor der Kathedrale von Paris.

Die dritte Epoche bringt die Resultate der zweiten in schulmäßig anwendbare Regeln, die, mit gelehrtem Hochmut zur Schau gestellt, über den wirklichen Zweck hinausgetrieben werden. Es ist mehr Verstandesarbeit als Phantasieschöpfung. Die Bautätigkeit ist auch quantitativ im Rückgang. Erst in dieser Epoche werden die Provinzen des Südens und des äußersten Westens für die Gotik gewonnen.

Kunsthistorische Aufsätze

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