Читать книгу Kunsthistorische Aufsätze - Georg Dehio - Страница 6

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Betrachten wir die Ausbreitung über das übrige Europa. Nicht zu vergessen ist hierbei, dass dem Sieg der Gotik ein merkwürdiges Oszillieren der Entwicklungstendenz vorausgegangen war. In Toskana und Unteritalien, wie in der Provence und in Burgund, doch auch in einigen Gegenden Deutschlands, hatten sich die Blicke der Antike zugewendet, war eine Protorenaissancebewegung in Gang gekommen. Dass sie zurückgedrängt wurde, hat sehr komplizierte Ursachen. Jedenfalls beruhte der Sieg der Gotik nicht auf ihren künstlerischen Eigenschaften allein, er hängt zusammen mit dem Übergewicht, das damals auch auf vielen anderen Gebieten die französische Kultur sich errang.

Es ist sicher, dass der Übergang vom romanischen zum gotischen Stil nirgends spontan eingetreten ist, überall nur durch Berührung mit einer aus Frankreich kommenden Strömung. Gerade für die erste Ausbreitung aber zeigt es sich als wichtig, dass in Frankreich die Wendung zur Gotik in mehreren Schulen gleichzeitig und in verschiedenen Formen ausgelöst worden war. Zu Anfang war keineswegs die (im engeren Sinn) französische, d. i. nordfranzösische Schule, deren überragende Bedeutung für die innere Entwicklung unbestritten ist, auch die einflussreichste in der Richtung auf das Ausland. Die erste große Welle der gotischen Flut setzt sich von Burgund aus in Bewegung, eine zweite kleinere vom Anjou.

Die primitive burgundische Gotik ist ein Produkt des Zisterzienserordens, die jüngere, aber wesentlich anders geartete Schwester der Kluniazenserkunst. Der Zisterzienserorden ist in der zweiten Hälfte des 12. und in der ersten des 13. Jahrhunderts nach der Quantität der Leistung der größte Bauherr im Abendland. Um das Jahr 1200 besaß er, über alle Länder verbreitet, 1800 Klöster, und alle wichtigeren unter ihnen hatten Anlass, in kurzem Abstand dreimal zu bauen: zuerst eine Notkirche, dann eine monumentale und bei der selten ausbleibenden Vergrößerung des Konvents noch eine. Das Meiste ließ er durch seine eigenen Werkleute ausführen, die von Bau zu Bau wanderten, wo sie im Augenblick gerade nötig waren. So erklärt sich, dass die Zisterzienserkirchen aller Länder ein sehr bestimmtes und gleichartiges Gepräge erhielten, auch ohne dass der Orden für ein einzelnes Formensystem Partei ergriffen hätte. Die Benediktinermönche des früheren Mittelalters waren die stolzen Vertreter einer höheren Kultur gewesen, die Zisterzienser wollten die Auswüchse der Kultur wieder beschneiden. Ihre Theorie, in der überweltliche Mystik und scharfer praktischer Verstand einen seltsamen Bund geschlossen hatten, war ausgesprochen kunstfeindlich. Nur der Baukunst ließen sie einen gewissen Raum, insofern sie sich durch Nützlichkeit rechtfertigte. Weshalb sie aus ihr alles entfernten, was nicht unmittelbar zweckmäßig war. Die Kirchen turmlos, bildlos, farblos, andererseits doch wieder von größter technischer Gediegenheit. Sie sind Freunde des Gewölbebaus und für viele Länder die ersten Lehrer darin; denn als nützlich erkennen sie ihn an. Das System, das sie um 1150 in ihrer burgundischen Heimat ausgebildet hatten, unterlag dort dem französischen schon gegen 1200, aber im Ausland lebte es noch lange fort. Der deutsche Übergangsstil ist aufs Stärkste über den engeren Kreis des Ordens hinaus von ihm beeinflusst; Italien hat am frühesten und längere Zeit allein in dieser Gestalt die Gotik gekannt; eben aus dieser Quelle schöpft Spanien und schöpfen die Kreuzfahrerkirchen des heiligen Landes. Der engen Verbindung mit den Zisterziensern schuldet die burgundische Frühgotik beides: die Weite ihres äußeren und die Enge ihres inneren Horizontes, ihre zeitweilig großen Erfolge und ihr entwicklungsloses Verharren im Primitivismus.

Die Frühgotik des Anjou, die nach der Zeit, in die ihre kurze Blüte fiel, auch Plantagenetstil genannt wird, hat in den Kathedralen von Angers und Poitiers Werke von hohem und eigenartigem Wert hervorgebracht. Zu ihrer Klientel gehörte der Südwesten mit Ausläufern auf die Pyrenäenhalbinsel. Einige Anregungen von ihr – wie nicht zu verkennen ist, wenn schon die näheren Umstände im Dunkel bleiben – kamen auch nach Holland und Westfalen. Die Eroberung des Landes durch Philipp August von Frankreich durchschnitt ihr aber den Lebensnerv. – Langsamer, aber unwiderstehlich brachte sich die französische Schule zur Geltung. Am frühesten fielen ihr die südlichen Niederlande zu und so vollständig, dass sie von der Zentralschule kaum zu trennen sind.

Ebenfalls früh, seit 1175, geriet England in die französische Wirkungssphäre. Die normännisch-romanische Baukunst wurde auf einen Schlag beiseite geworfen, ein radikaler Geschmackswechsel trat ein. Aber wenn er auch durch die Berührung mit der französischen Schule hervorgerufen war, so drang der französische Geist doch keineswegs tief ein. Eben weil die Engländer den französischen Stil so früh, in einem noch unfertigen Zustand, sich aneigneten, hatten sie die Freiheit, in die weitere Entwicklung ihren eigenen, erheblich anders gerichteten Willensinhalt zu legen. Die strenge konstruktive Gedankenzucht des Vorbildes blieb ihnen unverständlich oder gleichgültig. Sie fassten die Gotik als eine neue Dekorationsmethode, deren Einzelformen, von ihren logischen Wurzeln losgerissen, zu Wirkungen zusammengestellt wurden, die ihren eigenen Reiz haben; aber von der spezifischen Größe der französischen Auffassung ist darin nichts (Beispiele: Kathedralen von Salisbury, Lincoln, Wallis). – Die mittlere Epoche, die das 14. Jahrhundert einnimmt, nähert sich mehr der festländischen Weise; ein innerlich geschlossener Stil entsteht auch jetzt nicht, wenn auch einzelne ernste Raumschöpfungen für England nach dieser Richtung einen Höhepunkt bedeuten (Kathedrale von York, Westminsterabtei). – Kurz vor 1400 tritt noch einmal eine scharfe Wendung ein; so beginnt die letzte Epoche, die am längsten dauert, von der Zeit Chaucers bis auf die Shakespeares, und die dem kontinentalen Beobachter besonders englisch erscheint, in ihrer kühlen und sauberen Eleganz von der uns geläufigen Spätgotik recht abweichend. Kenntliche Merkmale sind die Häufung gerader, rechtwinklig sich durchkreuzender Glieder (danach: Perpendikular- oder Rektilinearstil), die Abflachung des Spitzbogens zum Tudorbogen, die häufige Lossagung vom Steingewölbe zugunsten zierlich spielender Holzkonstruktionen. (Beispiele: Langhaus der Kathedrale von Winchester, Kapelle Heinrichs VII. in London, St. Georgskapelle in Schloss Windsor.) Ein exklusiver Kirchenstil ist es überhaupt nicht mehr. Die zahlreichen Profanbauten, Königs- und Baronialschlösser, Kapitel- und Universitätsbauten sind fast noch in höherem Grad für seinen Charakter bestimmend gewesen. Bemerkenswert ist, dass die Engländer selbst unter vollster Herrschaft der Renaissance für ihre Gotik immer noch Sympathien behalten haben. Christopher Wren, der Erbauer der Paulskirche in London, hat an gotischen Kirchen durchaus stilgerechte Restaurationsarbeiten ausgeführt; im 18. Jahrhundert ließen sich englische und schottische Lords Schlösser in einem Stil bauen, der gotisch wenigstens sein sollte. 1740 gab Langley ein gotisches Musterbuch heraus, und dass das 19. Jahrhundert selbst auf dem Festland bei seinen neugotischen Repristinationen, wenigstens im Schlossbau, am liebsten durch die englische Brille sah, dafür sind uns die Belege nur zu bekannt.

Am längsten leistete Deutschland dem gotischen Stil Widerstand; Widerstand ist das richtige Wort; denn die deutschen Bauleute waren besser als die irgendeines anderen Landes mit den Neuerungen der Franzosen bekannt; es sind sichere Anzeichen dafür vorhanden, dass sie als Wanderarbeiter damals in ziemlicher Menge auf den französischen Bauplätzen sich einfanden. Der Grund ist der, dass in Deutschland der romanische Stil sich noch keineswegs ausgelebt hatte, ja eben im Begriff war, durch Wiederaufnahme antiker Baugedanken sich neu zu stärken. Seine glänzendste Zeit geht der französischen Frühgotik, zum Teil noch dem klassischen Stil, parallel. Hypothetisch darf wohl an die Möglichkeit gedacht werden, dass mit dem deutsch-romanischen Stil bei ungestörter Weiterentwicklung ein selbständiger Parallelstil zur französischen Gotik hervorgetreten wäre. Aber der Zug der Zeit zu weltbürgerlicher Kulturgemeinschaft und der zeitliche Vorsprung der Franzosen wurden entscheidend für die Rezeption. Der historische Vorgang ist sehr verwickelt. Wir werden den besten Überblick gewinnen, wenn wir drei Rezeptionsstufen unterscheiden, mit denen aber nicht ohne weiteres ein zeitliches Nacheinander, vielmehr ein prinzipieller Unterschied in der Art der Annäherung gemeint ist.

Die erste Stufe befasst den sog. Übergangsstil, von dem bereits oben die Rede war. Bestimmte Vorzüge des französischen Systems werden freudig anerkannt, man will sie als Hilfsmittel zur Erreichung der eigenen, wesentlich anders gearteten Ziele benutzen. Ein schönes Beispiel, wie viel entlehnt werden konnte ohne Verlust der Selbständigkeit, bietet die Stiftskirche zu Limburg an der Lahn. Das französische Vorbild (die Kathedrale von Laon) ist in ihr ebenso wahr und innerlich verdeutscht, wie auf ihrem Gebiet es die Gedichte Wolframs und Gottfrieds tun.

Auf der zweiten Stufe wird der Gedanke an die Verschmelzung romanischer und gotischer Formen aufgegeben. Der französische Formenapparat wird vollständig rezipiert, aber die mit ihm geschaffenen Raumkompositionen bewegen sich auf der Linie der deutschen Überlieferung; so die Liebfrauenkirche in Trier, ein Zentralbau, desgleichen in der französischen Gotik weder früher noch später versucht worden ist, und die Elisabethkirche in Marburg, eine Hallenkirche, d. i. ein Typus, den die französische Schule förmlich perhorreszierte; denn im Anjou und Poitou, wo sie ihn vorfand, hat sie ihn ausgerottet.

Erst die dritte Stufe lässt jede nationale Klausel fallen und bekennt sich rückhaltlos zum französischen Ideal, und zwar zu der glänzendsten Fassung desselben. Die Meister dieser Stufe arbeiten in voller Beherrschung des Stils, mit seinem Wesen innerlich so verwachsen wie nur irgendein Franzose selbst, nicht als Kopisten, sondern als freie Künstlerindividuen. Und deshalb vermögen sie gewisse Probleme, welche die französische Entwicklung nicht erledigt hatte, völlig kongenial und aufs Herrlichste weiterzuführen. Zeugnis: die Fassade von Straßburg, der Turm von Freiburg.

Der Punkt größter Annäherung an die französische Kunst, der im Dom von Köln erreicht war, bedeutet zugleich den Beginn einer Rückbiegung der Bahn. Sobald die Rezeption vollendet, der gotische Stil in allgemeinen Gebrauch genommen war – im Westen Deutschlands bald nach der Mitte des 13. Jahrhunderts, im Norden und Osten etwa 25 Jahre später – musste notwendig eine Umbildung im Sinn der Vereinfachung eintreten (besonders augenfällig die Ausschaltung des Triforiums). Die Baumaterialien, die das deutsche Gebiet zur Verfügung hatte, eigneten sich bei weitem nicht überall für die reiche französische Formenbehandlung; der Wohlstand der Nation war nicht auf der Höhe, sich einen so ausgesprochenen Luxusstil zu erlauben; durch die Umwälzungen in Staat und Gesellschaft nach der Katastrophe des Kaisertums waren die alten aristokratischen Mächte gelähmt, war einer großen repräsentativen Kunst der Boden entzogen. Die jetzt der Baukunst die meiste Beschäftigung und die geistige Richtung gaben, waren das Bürgertum und die mit diesem in die Höhe gekommenen Bettelorden. Es wurde sehr viel gebaut – so viel, dass Deutschland bis zur großen Volksvermehrung im 19. Jahrhundert seinen Bedarf an Kirchenbauten zu einem großen Teil mit dem vom Mittelalter hinterlassenen Bestand decken konnte – aber nicht von innen heraus groß. Die Basilika, den früheren Jahrhunderten in ihrem vornehmen räumlichen Rhythmus eine unersetzlich wertvolle Kunstform, wurde mehr und mehr aufgegeben, und an ihre Stelle trat die Hallenkirche, d. i. die Anlage mit Schiffen von gleicher Höhe, ein zweckmäßiger, aber, wenigstens so wie er behandelt wurde, meist herzlich schwungloser Typus. Als eine Ehrensache des großen Gemeinwesens wurde es empfunden, die städtische Hauptkirche mit einem hohen, reichverzierten Turm zu begeben, bei dem aber nicht mehr an Harmonie mit dem Gebäude, sondern an die Silhouette des Stadtbildes gedacht wurde. Das Beste dieser Art reifte jedoch erst im 15. Jahrhundert. Das 14. Jahrhundert zeigt ein zunehmend unerfreulicher werdendes Bild: die Volksphantasie ernüchtert, die reichlich vorhandene Arbeitstüchtigkeit in schulmäßigen Formeln erstarrt.

Nur in einem Teil Deutschlands war noch eine höhere monumentale Gesinnung lebendig, wenn auch in rauer und harter Form: im äußersten Norden und Osten, im Herrschaftsgebiet der Hansa und des deutschen Ordens. Es ist merkwürdig, wie die einst in der romanischen Epoche so milde und harmonische Stimmung der niedersächsischen Architektur sich in der gotischen verwandelte. Der lange Kampf mit den Slawen und die Besitzergreifung der See hatte andere Geister wachgerufen. Die Baukunst der norddeutschen Tiefebene beruht auf der Backsteintechnik. Viel eigenster Reiz der ursprünglichen, durchaus auf die Eigenschaften des Hausteins gegründeten Gotik war dem Backsteinbau ein für allemal unerreichbar. Er machte eine sehr selbständige Umarbeitung der gotischen Formen nötig. Der norddeutsche Backsteinbau bietet weitaus nicht die glänzendste, aber sicher die originellste unter den Spielarten der deutschen Gotik. Er ist Massenbau. Kolossal in den Abmessungen, im Sinn der Massengliederung auch kraftvoll belebt, in der plastischen Ausbildung des Zierwerks sehr beschränkt. Die Denkmäler der Mark Brandenburg zeigen, dass unter Ausnutzung farbiger Kontraste aus dem Material, das die Ziegelöfen fertig liefern, sehr zierliche und reiche Flachdekorationen zusammengesetzt werden können. Echter und großartiger jedoch spricht der besondere Geist dieses Stiles aus den schmucklosen, aber gewaltigen Stadtkirchen der Ostsee, ein Geist des Stolzes und der Kühnheit auch in der Entsagung. Diese Kirchen drängen das Hallensystem, das der Übergangsstil aus Westfalen eingeführt hatte, wieder zurück, sie sind hochräumige Basiliken, und vor ihre Fassaden stellten sie mächtige Doppeltürme mit schlanken, kupfergedeckten Holzhelmen, weithin sichtbare Landmarken für die Schiffer. Rathäuser werden errichtet, denen das übrige Deutschland nichts Ähnliches entgegenzustellen hat. Der Burgenbau, anderorts gegen die Hohenstaufenzeit künstlerisch tief gesunken, stellt eine lange Reihe von Denkmälern hin, die Marienburg an der Spitze, durch deren Schlichtheit ein Atemzug echter Größe geht. In dieser kolonialen Kunst ist die Gotik, so schroff einseitig immer, wirklich verdeutscht.

Skandinavien besaß eine Holzarchitektur, die im Kirchenbau zu quasimonumentalem Charakter sich erhob. Ob die norwegischen »Stabkirchen« völlig autochthon oder von den irisch-schottischen Holzkirchen ausgegangen sind, ist nicht ausgemacht. Durch Eintragung von Motiven des Schiffbaus erhielten sie einen sehr eigentümlichen Charakter. Der Steinbau ist importiert und duldete Einfluss vonseiten des Holzbaues ebenso wenig, wie er ihn ehemals in Deutschland geduldet hatte. Zu nennenswerter Eigenart brachte er es nicht, es blickt immer der Stil des Ursprungslandes durch. Norwegen liegt in der englischen, Dänemark und Schweden, wie schon in der romanischen, so erst recht in der gotischen Zeit, in der deutschen Einflusssphäre; am Dom von Upsala waren vorübergehend sogar Franzosen tätig, und einige Zisterzienserkirchen bewahren merkwürdig treu den burgundischen Stempel.

So hatte sich die ganze germanische Welt dem zuerst im Norden Frankreichs formulierten »gotischen« Stil unumwunden angeschlossen; hie und da mit einiger Laxheit, öfters mit logisch gedachten Vereinfachungen, nirgends mit der Absicht, an seinen Grundgesetzen zu rütteln. Dieses zu tun, war Sache der Südfranzosen und Italiener. Beide haben den gotischen Stil nicht herbeigerufen, sondern ihn an sich kommen lassen als ein »Schicksal«, und beide stehen innerlich in tiefster Opposition zu ihm.

Ganz schroff zeigt sich diese Lage der Dinge in Südfrankreich. Hier, wo man nahe an die Renaissance der Antike herangekommen war, hatten die Albigenserkriege und die ihnen folgende Gewaltherrschaft der Nordfranzosen einen fast hundertjährigen Stillstand herbeigeführt. Von 1270 ab ließen Bischöfe, welche die Gunst der Krone suchten, eine Reihe von Kathedralen in rein nordfranzösischem Stil durch nordfranzösische Meister errichten. Keine derselben gelangte weiter als bis zur Vollendung des Chores (Kathedralen von Toulouse, Narbonne u. a. m.). Erst ganz zum Schluss des 13. Jahrhunderts war das Selbstbewusstsein der Südländer soweit wieder belebt, dass sie das Bauwesen in die eigene Hand nahmen. Ihre erste Tat ist die Wiederherstellung des nationalen Kirchentypus, des einschiffigen Saales (Alby, Toulouse, Carcassonne, Perpignan; nahe verwandt einige besonders großartige Bauten in Katalonien). Er wird jetzt gotisch konstruiert, aber ästhetisch hat er mit der Gotik wenig gemein. Der mit schmalen Kreuzgewölben überdeckte, fast immer gewaltig große Raum wird eingeschlossen von breiten, nur durch magere Dienste schwach gegliederten Wandflächen, darin stehen in weiten Abständen hohe schmale Fenster; der gotische Formenapparat ist auf ein Weniges zusammengeschmolzen; das Äußere sieht festungsartig aus, ist turmlos. Der Kunstgehalt dieser pseudogotischen Architektur liegt durchaus im Raumfaktor, nicht im Gliederorganismus. Ein spezifisch südliches, der Antike nahe gebliebenes Gefühl spricht daraus, in seiner trotzigen Proteststimmung freilich zum Herben und Harten gewendet.

Dasselbe Gefühl, doch freudig und schwungvoll, lebt in der italienischen Gotik. Viel älter als das, was man allein so nennen darf, ist eine gotische Importkunst, die gleichsam nur zufällig auf italienischem Boden steht, aber innerlich dem italienischen Genius fremd bleibt. Sie wurde sehr früh, seit 1187, durch die Zisterzienser eingeführt. Die umfänglichste Gruppe befindet sich im Süden Roms, in den Volskerbergen und in den Abruzzen, einzelne Denkmäler sind über die ganze Halbinsel zerstreut. Eine zweite Gruppe steht in Zusammenhang mit den Kreuzfahrerbauten im heiligen Land; zu ihr gehören die prachtvollen Schlösser, die Kaiser Friedrich II. in Apulien und Sizilien errichten ließ. Eine dritte, ohne Zusammenhang mit der vorigen, rührt von der Eroberung Neapels durch die Anjou her. Sie alle vermochten keinen lebensfähigen Nachwuchs zu erzeugen. Wirkliche Einbürgerung des nordischen Stils vollzog sich erst dadurch, dass die Bettelorden, die neue Großmacht im Geistesleben Italiens, für ihn Partei ergriffen. Sie empfingen ihn aus den Händen der Zisterzienser, haben ihn aber sofort in italienischem Geist umgestaltet. Das System wechselt – bald sind es Basiliken, bald einschiffige Kirchen, bald sind sie flach gedeckt, bald gewölbt – der Charakter ist gleichartig. Er kann mit denselben Worten definiert werden, die wir oben von den südfranzösischen Bauten brauchten: der Schwerpunkt liegt in der Raumerscheinung, der sich dem (viel einfacher als im französischen System behandelten) Gliederbau ganz unterordnen muss. (Beispiele: Santa Maria novella und Santa Croce in Florenz, Frari und Santi Giovanni e Paolo in Venedig, Carmine in Pavia.) Die letzten und entscheidenden Schritte zur Italisierung taten dann die großen, seit Ende des 13. Jahrhunderts in Angriff genommenen, wesentlich im 14. Jahrhundert ausgeführten Kathedralbauten, an der Spitze der Dom von Florenz. Hier handelt es sich nicht etwa um eine neue Abwandlung und besondere Interpretation des gotischen Bauideals, sondern um eine Abkehr von ihm: Raumbegrenzung durch ruhige, von wenigen und kleinen Fenstern nur unterbrochenen Wandflächen, Raumgliederung in wenige, aber große und scharf gegeneinander isolierte Abteilungen, Beschränkung des konstruktiven Apparats und überhaupt Stillung des Bewegungsdranges, große Vereinfachung der Außenansicht durch Wegfall des Strebewerkes und der Türme, ganz neu die Steigerung durch einen gewaltigen Kuppelbau. Genug: in allem, was wesentlich ist, keine Gotik – auch keine missverstandene – sondern eine sehr bewusst antigotische Gotik – in Wahrheit latente Renaissance.

Genau in der Zeit, dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts, in der die italienische Architektur den Umschwung von der latenten zur offenen, von der halben zur vollen Renaissance vollzog, trat auch die nordische in eine neue Epoche ein. Man nennt sie herkömmlich die Spätgotik, womit aber nur die eine, und zwar nicht die ausschlaggebende Seite ihres Wesens gekennzeichnet ist. In der gotischen Formensprache, die sie beibehält, immerhin mit starken Veränderungen im Einzelnen, drückt sie ein Grundgefühl aus, das ebenso neu ist, wie von Claus Sluter und den van Eycks ab dasjenige der Bildkünstler. Auch die Baukunst des 15. Jahrhunderts bedeutet schon nicht mehr Mittelalter.

Der Baukunst des Mittelalters kam das populäre Empfinden des letzten Jahrhunderts mit aufgeschlossenem Sinn entgegen, die Verehrung steigerte sich bis zur Unterwerfung und Nachahmung; die Bildkunst des Mittelalters dagegen gilt für schwerer genießbar, für etwas, das man den Gelehrten überlassen müsse. Sicher ist, dass sie in der Mitte zwischen antiker und moderner Kunst ganz fremdartig sich ausnimmt. Man irrt sich aber, wenn man den Unterschied vornehmlich als einen graduellen, als Folge eines geringeren Könnens ansieht; er liegt viel tiefer, in einem prinzipiell anders gerichteten Wollen. Das Mittelalter hat dem Bild, in erster Linie dem Menschenbild, von Anfang an einen ausgedehnten Platz zugewiesen, aber es tat es in einer anderen Absicht als in der uns selbstverständlich erscheinenden. Das Mittelalter ist erst sehr spät dabei angelangt, in der Kunst einen Spiegel der Wirklichkeit anzusehen; sie war lange Zeit naturlos, anschauungslos, unzugänglich für diejenigen geistigen Anregungen aus der sinnlichen Erscheinungswelt, die wir, in künstlerischer Umsetzung, der Form zuschreiben. Es ist merkwürdig, wie die späte Antike und die ursprüngliche Stimmung der germanisch-keltischen Völker, auf die die Tradition jener überging, in diesem negativen Moment völlig zusammentrafen. Die positiven Aufgaben der mittelalterlichen Bildkunst sind zwei, wie man aber sogleich sieht, unter sich disparate: zu illustrieren und zu dekorieren, einen religiös-poetischen Gedankenstoff zu vermitteln und ein tektonisches Objekt, sei es die Wand einer Kirche oder ein Buch oder einen Reliquienkasten oder was sonst, zu schmücken. Etwas anderes verlangte die Kirche nicht und etwas anderes hätten auch die Völker nicht begriffen. Nach beiden Richtungen ist nun die Malerei unvergleichlich leistungsfähiger als die Plastik. Diese war schon aus der Spätantike fast verschwunden. In dem langen Zeitraum vom Sieg der christlichen Kirche am Anfang des 4. bis zum Kulminationspunkt der mittelalterlichen Kultur am Anfang des 13. Jahrhunderts hat die Malerei die unbedingte Vorherrschaft besessen. Dass dieses aber nicht eine Vorherrschaft dessen bedeutet, was wir malerisches Empfinden nennen, braucht nicht mehr nachgewiesen zu werden; es ist der Ausdruck des vollkommenen Übergewichts der stofflich-illustrativen und tektonisch-dekorativen Interessen über das Forminteresse.

Mit der Malerei des Mittelalters sich damit abfinden zu wollen, dass man sie für primitiv, für noch in den Kinderschuhen steckend erklärt, wäre somit das Verfehlteste. In Wahrheit steckt in ihr uralte Tradition, nur zu viel! Es war kein fruchtbringendes Zusammentreffen zwischen der Unreife der ästhetisch noch nicht erwachten Nordländer und den welken Formen des antiken Greisenalters. Es konnte nur in der Vorstellung bestärken, dass Kunst und Natur ganz getrennte Welten seien. Außerdem waren es heilige Formen. Ihr religiöser Wert war durch möglichst genaue Nachahmung, bei der mehr die Hand als das Auge in Frage kam, sicherzustellen.

Innerhalb der ihr gezogenen Grenzen besitzt die Malerei dasselbe hohe Stilgefühl, das wir am Kunstgewerbe rühmten; sie hat die Achtung, in der sie stand, vollauf verdient. Für den modernen Standpunkt ist sie nicht freie, nur angewandte Kunst. Die Gestalten und Szenen standen fest; denn es war ja ihr Zweck, tunlichst leicht nach ihrer Sachbedeutung verstanden zu werden; nur leise, unvermerkt durften sie in den Jahrhunderten sich wandeln, diese oder jene neue Darstellung in ihren Kreis aufnehmen. Der beste Maler war der, der seine Vorbilder ohne Verzerrung so zu verschieben verstand, dass sie den jeweiligen Forderungen der architektonischen Flächengliederung Genüge leisteten. Illusion körperlicher Rundung oder räumlicher Vertiefung wäre für diesen Stil Vernichtung gewesen. Die Fläche soll belebt, aber nicht durchbrochen werden. Die Stellungen der Figuren sind so gewählt, dass die im Gedächtnis als vorzüglich bezeichnend für Haltung, Bewegung, Gebärde haftenbleibenden Züge schon in der Umrisslinie Platz finden. Durch lange Erfahrung waren sie festgestellt, und es wäre Vermessenheit gewesen, daran zu rütteln. Mit großen Mängeln der Form verbindet sich Stärke des Ausdrucks. Wenn auch im höchsten Grade gebunden, ist diese Kunst nicht unwahr und vermag auch heute noch zu wirken. In welchem Umfang – es überrascht uns – schon in der Karolingischen Zeit die Wandmalerei geübt wurde, lassen die in einigen Klöstern angelegten Sammlungen versifizierter Unterschriften (tituli) erraten. Nichts davon hat sich erhalten. Das wichtigste Denkmal der Jahrtausendwende, die Wandmalerei in S. Georg auf Reichenau, zeigt das Prinzip unverändert. Reichlicher sind die Überreste aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Auch in ihnen ist die Einzelform völlig konventionell, aber geschmeidiger und ausdrucksvoller; besonders die Gewandung, die ja in ihrem Wesen etwas Tektonisches hat, nimmt einen großartigen, frisch belebten Schwung; die Gebärdensprache erreicht seelische Wahrheit. Den Höhepunkt der Gattung bezeichnen die sächsischen und rheinischen Wandgemälde dieser Zeit. Aus Frankreich hat sich zu wenig erhalten, um einen Vergleich zu gestatten.

Zahlreich haben sich die Denkmäler der Buchmalerei und unter ihnen gewiss viele der besten Stücke erhalten. Wir dürfen uns durch diese beiden ihnen günstigen Umstände nicht zur Überschätzung ihrer relativen Bedeutung verleiten lassen. Ihrem Zweck nach steht sie dem Kunstgewerbe nahe. Schönschreiber nehmen es sich unbefangen heraus, gelegentlich auch Bilder abzuschreiben, so dass sich hier wohl mehr Dilettantismus breitmacht, als es in der Wandmalerei möglich gewesen sein kann. Das Stilgesetz ist in dem weiteren Sinne, als es im Kunstgewerbe überhaupt regiert, ebenfalls ein architektonisches. Man nehme als Beispiel, dass Pferde beliebig durcheinander rot, blau und grün gegeben werden, bloß weil an ihrer Stelle diese Farbenflecke erwünscht waren. Im Vergleich zur Wandmalerei gewährt die Buchmalerei dank ihrer leichteren Technik der Erfindung mehr Spielraum, und wenn da die erlernten Formen im Stich lassen, wird wohl ein kecker Griff in die Wirklichkeit gewagt; das erschrockene Straucheln vor dem Angesicht der Natur, das dann regelmäßig eintritt, zeigt am besten, wie viel die feste Schulung bedeutete. Ein Fortschritt von fleißiger Nachahmung alter Vorbilder zu stilistischer Selbständigkeit fand in der Miniaturmalerei nur statt, insofern sie eigentlichst Buchschmuck ist; auf der Höhe der romanischen Epoche ist darin Herrliches geleistet; die Probleme aber, welche die Malerei als freie Kunst stellt, rücken, auch wenn sie immer wieder gestreift werden, im Ganzen nicht vorwärts.

Auf der Höhe des Mittelalters trat wie in der Baukunst so auch in der Bildkunst ein Stilwechsel ein. Er steht im Zusammenhang mit Veränderungen tief auf dem Grund des allgemeinen Bewusstseins. Die Vorherrschaft des asketischen Ideals wurde gebrochen, neben der Kirche erhob die Welt das Haupt, und so fiel jetzt auch die Scheidewand zwischen Kunst und Natur. Nicht als ob auf einen einzigen Schlag die Wandlung vom abstrakten Stilismus zur Einfühlung in die Wirklichkeit sich durchgesetzt hätte. Aber das neue Ziel war erkannt und wurde nicht mehr aus dem Auge verloren. Sehr bezeichnend ist, wie jetzt sofort das Verhältnis zwischen Malerei und Plastik umschlägt. Die Führerin auf dem neuen Weg zur künstlerischen Welterkenntnis wurde die Plastik. Mit gutem Recht, da in ihr das Problem der Form einfacher und klarer gestellt ist. Das Zurückbleiben der Malerei hat aber auch einen äußeren Grund. Er liegt in dem veränderten Verhältnis zur Architektur. Schon das letzte Stadium des romanischen Stils, von der Entwicklung des Gewölbebaus ab, hatte durch die stärkere Zerlegung der Flächen die Malerei ins Gedränge gebracht. Vollends nun die gotische Flächennegation zog ihr, soweit sie monumental sein sollte, den Boden unter den Füßen weg. Sie musste sich in die kleineren Nebenräume und in die architektonisch einfacher behandelten Landkirchen flüchten. So starb die gotische Wandmalerei zwar nicht völlig aus, wurde aber auf eine niedere Stufe herabgedrückt. An ihre Stelle trat in der vornehmen Architektur die Glasmalerei, eine Gattung, die ihren eigenen hohen Wert hat, aber die malerische Aufgabe ganz auf das Dekorative zurückweist, noch viel einseitiger als einst in der romanischen Wandmalerei. Die Glasmalerei ist nach ihrem ganzen Wesen eine Kunst in der Fläche, die Probleme der Körper- und Raumdarstellung konnten durch sie nicht gefördert werden. In ihr nimmt unbestritten Frankreich den ersten Platz ein. Der Luxus darin, wenn wir zu dem immer noch vielen, was sich erhalten hat, das Untergegangene hinzunehmen, scheint überschwänglich groß, und doch ist er unentbehrlich, weil ohne ihn eine gotische Kirche des aufgelösten Systems unfertig ist. Man begreift es, dass lieber auf die Vollendung der Fassade und der Türme verzichtet wurde, als auf den Besitz von Glasgemälden. Nächstdem hat sich Deutschland ehrenvoll hervorgetan; das Beste vor 1300. England und Italien sind an Glasmalereien arm.

Die Buchmalerei wird in den Verfall der klösterlichen Kunst hineingezogen. Dass Handschriften weltlichen Inhalts jetzt häufiger mit Bildern geschmückt werden, ist kulturgeschichtlich bemerkenswert; die Kunstentwicklung hat bedeutende Impulse daraus nicht empfangen. Nur in den Niederlanden kommt in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine Buchmalerei von und für Laien in die Höhe, in der wir den Anfang einer neuen Auffassung erkennen; sie führt alsbald aus dem Mittelalter heraus. Endgültige Befreiung sowohl von der Einschnürung ins Kunstgewerbe als von der Verflüchtigung in Baudekoration brachte dann das Altarbild. Seine Geschichte, wenn sie auch im 14. Jahrhundert beginnt, gehört in die Anfänge der Neuzeit.

Ungleich der Malerei hatte die Plastik der Frühzeit jegliche Verbindung mit der monumentalen Kunst verloren. Die altchristliche Kirche konnte auf diesem Gebiet der Anschauung der nordischen Völker nichts darbieten. Geraume Zeit, bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts und länger, blieb die Bildhauerkunst ausschließlich Kleinkunst im Gefolge des Kunsthandwerks: sie schmückte Altarvorsätze, Kruzifixe, Leuchter, Diptychen, Buchdeckel, Messgeräte u. dgl. Kunstpsychologisch bemerkenswert ist die Tatsache, dass Auge und Hand der Neulinge sich weit leichter in die plastische Form einlebten als in die Abstraktionen der Malerei, und so tritt denn hier, neben dem, was den Vorbildern verdankt wird, verhältnismäßig früh auch Eigenes hervor. Die technischen Gattungen sind scharf voneinander getrennt, jede hat ihre eigene Formenüberlieferung. Den vornehmsten Eindruck macht die Elfenbeinplastik an Diptychen, Hostienbüchsen und Reliquienkästchen. Zu ihrer Schulung stand ein reicher Vorrat spätantiker und byzantinischer Musterstücke zur Verfügung. Doch es wurde nicht bloß kopiert, wir begegnen auch selbsterfundenen Kompositionen (z. B. in einer Reihe von Diptychen, die im 9. Jahrhundert in Metz oder Reims entstanden sind), ja sogar einer Formenauffassung, die das überlieferte Schema durch Naturbeobachtung zu ergänzen und zu beleben wagte (sächsische und rheinische Werkstätten). Im Lauf des 11. Jahrhunderts stirbt dieser Kunstzweig ab, um auf veränderten Grundlagen im 13., jetzt vornehmlich in Frankreich, eine zweite Blüte zu erleben.

Wollte man eine Stufe höher hinauf gehen und auch der Architektur plastischen Schmuck geben, so wandte man sich an den den Germanen sehr früh vertraut gewordenen Erzguss. Solcher Art sind aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts die großen Domtüren zu Augsburg und Hildesheim und die sog. Bernwardsäule daselbst. Monumental sind sie nur durch ihre Funktion; nach Stil und Technik gehören sie völlig der Kleinkunst. Die Erinnerungen an italienische Vorbilder erstrecken sich nur auf die Anordnung im Großen; der Einzelausdruck musste selbständig gefunden werden. Die Hildesheimer Tür zumal ist ein denkwürdiges Beispiel dafür, was entstehen konnte, wenn ein begabter Künstler von energischem Unabhängigkeitssinn sich voraussetzungslos dem Naturalismus in die Arme warf: in der Stärke des Ausdrucks ist er unerreicht, aber die Herrschaft über Form und Komposition hat er gänzlich verloren. Mit so keckem Sturmlauf ließ sich das Ziel nicht gewinnen. Das Interesse an plastischen Aufgaben blieb im sächsischen Stammgebiet lebendig, mehr als in anderen Teilen Deutschlands, aber das 11. Jahrhundert verging und ein großer Teil des 12., ohne dass ein nennenswerter Fortschritt gemacht wurde. Nur das Programm erweiterte sich: Grabplatten mit lebensgroßen Gestalten kamen in Aufnahme, nicht in Stein, sondern in dem noch immer geläufigeren Bronzeguss oder in fügsamer Stuckmasse; in gleichem Material dekorative Figuren an den Zwickeln zwischen den Arkaden der Kirchenschiffe oder an Chorschranken; kolossale Kreuzigungsgruppen aus Holz. Man sieht, an monumentalen Aufgaben fehlte es nicht mehr, wohl aber noch immer an einem monumentalen Stil.

Bis zu diesem Punkt war der Stand der Plastik in Deutschland, Frankreich, Italien ungefähr gleich hoch oder niedrig gewesen, in Deutschland vielleicht etwas höher sogar als in den anderen Ländern trotz deren älterer Kultur. Der monumentale Stil ist die alleinige Schöpfung Frankreichs. Er entstand um dieselbe Zeit und in denselben Schulen, deren Energie sich auf die Vervollkommnung des Gewölbebaus warf. Der innere Zusammenhang ist verständlich. Beide Erscheinungen sind Teile desselben Strebens nach erhöhter Monumentalität überhaupt; beide entfalten sich auch in der historischen Abfolge parallel. Die monumentale Plastik tut ihre ersten Schritte in Südfrankreich, es folgt Burgund, aber von der Mitte des 12. Jahrhunderts ab übernimmt der Norden die Führung. Die neue Stilbildung ist, dass die Plastik nicht mehr als ein frei im architektonischen Raum befindlicher oder einem architektonischen Untergrund angehefteter Schmuck, sondern, in viel tieferer Verbindung, als ein Teil der Architektur selbst gedacht wird. Ihre früheste und immer ihre Lieblingsschöpfung ist das Statuenportal. In Bezug auf Prachtentfaltung als solche war schon in den romanischen Portalen von Toulouse, Arles und St. Gilles, Autun und Vezelay ein Höchstes getan; mit den Westportalen der Kathedrale von Chartres beginnt doch ein ganz neues Geschlecht, neu nicht nur durch die Massenvermehrung der plastischen Arbeit, sondern noch viel mehr durch die veränderte Regelung ihres Dienstverhältnisses zur Architektur. Diese ist nicht mehr Rahmen der Plastik, die dann innerhalb desselben ihr eigenes, nur in den allgemeinen Gesetzen der Symmetrie und des Gleichgewichts mit jener in Einklang gebrachtes Leben führt (wie an den Giebelgruppen der griechischen Tempel), nein, es sind die unmittelbar tektonischen Glieder, Säulen und Archivolten, welche die plastischen Figuren an sich ziehen, ja schließlich geradezu durch sie sich ersetzen lassen. Ein Verhältnis, wie es noch niemals in der Kunst bestanden hatte. Rasch, wie in allen ihren Gedankenentwicklungen, schreitet auch hierin die Gotik vorwärts. Sie erkennt, dass in den gesteigerten Maßen und verschärften Kontrasten ihres Systems alle bisher gebräuchlichen Arten der Ornamentierung wirkungslos sind, und so ersieht sie sich die Figurenplastik zu einem Dekorationsmittel aus, von dem sie in kolossalstem Maßstab Gebrauch macht. Sie war das auch den Interessen des Kultus schuldig; denn nachdem sie die Malerei aus dem Inneren der Kirchen verdrängt hatte, konnte sie nur noch in dieser Form der heiligen Bilderfülle zu ihrem Recht verhelfen. So blieb es nicht bei den Portalen, obschon ein einziges an 200 Figuren aufnehmen konnte (z. B. am mittleren der drei Westportale in Amiens, außer denen noch ähnlich reich behandelte Querschiffportale vorhanden waren: 14 Freistatuen am Gewände, 88 Statuetten in der Bogenleibung, 4 stark gefüllte Reliefstreifen im Tympanon, 20 Sockelreliefs), auch die Galerien der oberen Fassadengeschosse bevölkerten sich mit langen Reihen von Standbildern, desgleichen die Tabernakel der Strebepfeiler, die Spitzen der Fialen und zu alledem noch ein gar nicht mehr zu zählendes Heer rein dekorativer Figuren an Kragsteinen, Wasserspeiern u. dgl. m. Die Berechnung, dass die ganz großen Kathedralen zu ihrer vollständigen Ausrüstung 2000 Bildwerke und mehr gebraucht haben, ist kaum übertrieben. Niemals hat ein Baustil der plastischen Kunst ein so unermessliches Feld der Tätigkeit geöffnet, niemals ihr zugleich so drückende Bedingungen auferlegt. Eine der wichtigsten derselben ist der »Blockzwang«, d. h. jede Gestalt muss in den von der Architektur ihr bestimmten Block eingeschlossen bleiben, es müssen die Verbindungslinien, die das Auge zwischen den äußersten Ausladungen der Figur herstellt, die ursprünglichen Grenzflächen der Rohform wiedererkennen lassen. Anders ausgedrückt: auch die Freistatue hört niemals ganz auf, Säule zu sein. Gegenüber den Gefahren bei Zusammenpressung des Unendlichvielen in engem Raum, wie das kirchlich-ikonographische Programm es forderte, gewährleistete dieses Prinzip auch für die verwickeltste Komposition Klarheit und Ruhe des Aufbaus. Die Architektur war vor Störung sicher. Aber in welcher Lage befand sich der Bildhauer? Welche Schmiegsamkeit der Erfindung war nötig, um in dieser Einschnürung ungezwungene und abwechslungsreiche Bewegungsmotive zu erreichen! Und welche Entsagung, um für Standorte zu arbeiten – das gilt für alles Bildwerk an den oberen Teilen des Gebäudes – wo nie eine andere als summarische Betrachtung möglich ist.

Weiter war die gotische Bildhauerkunst durch die kirchliche Gebundenheit ihres Programms von der schönsten aller plastischen Aufgaben, der Darstellung des nackten Menschenleibes, ein für allemal geschieden. (Die seltenen Ausnahmen, so u. a. einmal das erste Menschenpaar oder die kleinen Figürchen in der Auferstehung des Fleisches zum jüngsten Gericht, kommen dagegen nicht in Betracht.) Den Köpfen fehlt nicht die Einsicht in das Organische; der Knochenbau der Stirn, die fleischigen Weichteile werden in großen breiten Zügen charakterisiert, die Augen sind selbst nach Verlust der Bemalung voll Leben, selbst die Hände gelingen zuweilen vortrefflich. Das Hauptobjekt der Darstellung ist aber immer die Gewandung, und hierin ist der Fortschritt der Zeiten besonders augenfällig. Noch am Anfang des 12. Jahrhunderts war nur die Gewandmasse im Ganzen roh angelegt und das Detail der Falten in schematischen Furchen eingegraben worden. Hundert Jahre später ist die Ausdrucksweise hochplastisch; durch kühne Unterschneidungen werden starke Schatten hervorgerufen; mit sicherer Berechnung wird auf Fernwirkung gearbeitet. Die Gewandung vorzüglich hilft dazu, den engen Kreis der möglichen Körpermotive zu erweitern. Durch sie werden Charaktere geschildert, wird Stimmung gemacht. Es gehörte strenge Wahrheitsliebe dazu, um dies Mittel nicht zu missbrauchen. Wie nahe die Gefahr lag, den Körper zu einem bloßen Kleidergestell zu machen, hat die nachklassische Zeit auf Schritt und Tritt erwiesen. Zweifellos hat es hochbegabter Künstler bedurft, um die Gesetze des monumentalen Stils in vorbildlichen Typen festzustellen. Aber es lag ihnen fern, als Individuen aus der Masse hervorzutreten. Sie sollten und wollten nur einer Durchschnittsempfindung dienen.

Ein vergleichsweise schmaler, an sich immer noch sehr imponierender Nebenstrom monumentaler Plastik wurde nach Deutschland geleitet, welches Land das einzige ist, das neben Frankreich mit Ehren genannt werden darf. Die Blütezeit fällt in dieselben Jahre, die wir oben für Frankreich genannt haben, d. i. dasselbe Jahrhundert von 1220–1270. Der Unterschied ist der, dass sie scheinbar ohne Vorbereitung ist. Für mehrere der besten deutschen Meister des 13. Jahrhunderts hat die Forschung es bereits klargestellt, dass sie ihre Schulung in Frankreich empfangen haben. Ihre Kunst ist im Schulsinne eine Abzweigung der französischen, doch eben nur in dem, was schulmäßig erlernt werden kann. Im Übrigen sind sie unabhängige Künstlerpersönlichkeiten, mehrere von ihnen – wie der Straßburger, der Bamberger, der Naumburger – den besten Franzosen in der Begabung nichts nachgebend, im Charakter individueller als diese. Schulung kann nur durch die auf das gleiche Ziel gerichtete Anstrengung vieler erzeugt werden, das Individuum braucht freien Raum. In Deutschland war, bei unendlich lockerer stehendem Anbau, dieser noch zu finden.

Indessen ist durch die französische Einströmung noch nicht alles erklärt. Schon bevor sie kam, war in Obersachsen durch glückliche ahnende Erfassung entfernter Nachklänge der Antike, wie byzantinische Elfenbeine sie darboten, der Sinn für Reinheit und Größe der Form erwacht. Dazu brachte die französische Anregung das Element des Monumentalen. So entstanden in hoher idealer Stimmung die herrlichen Skulpturen in Freiberg und Wechselburg. Daneben lebte, eigentlichst sächsisch, jener tüchtige Wirklichkeitssinn wieder auf, der sich einst in kindlichem Ungestüm an der Hildesheimer Domtür geäußert hatte. Ihm verdanken wir die Fürstenbilder des Naumburger Domes, eine großartig naive Synthese des monumentalen und des realistischen Stils, der einen jener Höhepunkte bezeichnet, auf denen zu verweilen der Kunst selten gegeben ist. Die Naumburger Bildwerke zeigen, was die Plastik leisten konnte, wenn die Architektur, nachdem sie ihr den Geist des Monumentalen eingeflößt, zur Freiheit sie entließ. In Wirklichkeit zog sie die Zügel nur noch fester an.

Das 14. Jahrhundert wurde auch in Deutschland eine Zeit der Massenproduktion. Überschwängliche Programme zum Schmuck der Portale und Strebepfeiler wurden entworfen und kamen sie auch nur unvollständig zur Ausführung, so überstiegen sie auch so die vorhandenen Kräfte. Die Kunst verflachte zur handwerklichen Routine. Ein Element des Fortschritts lag nur in der Grabplastik, die den Sinn für individualisierende Charakteristik langsam schärfte. Daneben bestand als zweite Hauptgattung die den Holzschnitzern zufallende Altarplastik. Ihre Blütezeit kam jedoch erst später.

Nach Ablauf des 14. Jahrhunderts ist überall in Europa der künstlerische Geist des Mittelalters am Ende seiner Zeugungskraft angelangt. Die Kraft zur Verjüngung ist aber nicht überall die gleiche. Auf den Verlauf und die Charakterbildung der mittelalterlichen Kunst hatten Deutschland und Frankreich den am meisten bestimmenden Einfluss gehabt; der werdenden Kunst der Neuzeit trugen die Niederlande und Italien die Fackel voraus.

Die Bildkunst hatte mit der Darstellung einer idealen Welt begonnen, die mit der wirklichen weder in der Form noch im Inhalt zusammenhing, deren Sinn und Bedeutung dem Volk nur langsam sich erschloss. Der Zusammenhang der Kunst mit dem praktischen Leben wird durch das Kunstgewerbe dargestellt. Es hat sich in allen Epochen des Mittelalters größter Wertschätzung und ununterbrochen hoher Blüte erfreut. Es hat am meisten volkstümliche Elemente in sich aufgenommen. In der Stammeszeit war es schlechthin die Kunst gewesen. Das christliche Zeitalter wusste auch die altgermanische Freude an kunstvoll bearbeiteten Edelmaterialien auf den kirchlichen Zweck hinzulenken. Als liturgisches Prachtgerät und Priesterornat fanden die Kleinkünste ihre würdigste Verwendung. War doch das ganze Kirchengebäude nur Rahmen für das glänzende Bild des Altardienstes.

Das Kunstgewerbe, technisch in eine Menge von Gattungen gespalten, steht ästhetisch unter demselben Grundgesetz wie die Architektur und ist auch historisch mit deren Stilentwicklung eng verbunden, nur dass das Verhältnis von Geben und Nehmen ein anderes auf den primitiven als auf den hochentwickelten Kunststufen ist. In der frühromanischen Epoche arbeitete das Kunstgewerbe der Architektur vor in der Schaffung ornamentaler Motive, in der gotischen wurden selbst in dieser Welt des Kleinen die Strukturformen der Architektur repetiert, natürlich auf winzigen Maßstab herabgedrückt. Noch größer ist die Abhängigkeit der Bildhauerkunst; lange Zeit existierte sie überhaupt nur in der kunstgewerblichen Hülle. Ja, auch die am meisten gepflegten Gattungen der Malerei, die gewebten und gestickten Darstellungen, die man bezeichnend unter dem Namen Fadenmalerei zusammenfasst, die Emailmalerei, die Glasmalerei, im Grunde auch die Buchmalerei, sie sind nicht nur im äußeren Betrieb, sondern auch nach ihrem inneren Stilgesetz Kunstgewerbe, d. h. nicht »freie«, sondern »angewandte« Kunst, und der sichere Takt in der Findung und Anwendung dieses Gesetzes ist eine der schönsten Seiten der mittelalterlichen Kunst. Ferner ist den Kleinkünstlern, besonders wieder in der Frühzeit, die wichtigste Vermittlerrolle zwischen räumlich entfernten Kunstgebieten zugefallen. Was der romanische Stil des Abendlandes von Byzanz und dem Orient aufgenommen hat, kam großenteils auf diesem Weg. Endlich liegen auf diesem Gebiet auch die Keime der an der Grenze zur Neuzeit sich selbständig machenden reproduktiven Künste: der Zeugdruck und die Schablonen der Sticker sind Vorläufer des Holzschnittes, die Gravierungen der Goldschmiede Vorläufer des Kupferstichs. So ist das Kunstgewerbe gleichsam die mikrokosmische Zusammenfassung aller übrigen Künste. Man kennt das Mittelalter nicht, wenn man nicht sein Kunstgewerbe kennt.

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Kunsthistorische Aufsätze

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