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ÜBER DIE GRENZE DER RENAISSANCE GEGEN DIE GOTIK
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Das ablaufende Jahrhundert hat keinem Gebiet der Kunstgeschichte mehr Liebe und Arbeitseifer zugewandt als der Renaissance. Das Schlussergebnis aber muss ein seltsames genannt werden. Es ist Infragestellung des Grundbegriffes. Immer mehr Stimmen werden laut, die ihn dringend der Reform für bedürftig erklären; es sei ein unvollständiger Begriff gewesen, womit wir uns bisher behalfen; er müsse inhaltlich tiefer genommen und darum auch in seinen historischen Grenzen weiter gefasst werden. [Allein das verflossene Jahr hat drei hierauf bezügliche Reformschriften gebracht: August Schmarsow, Reformvorschläge zur Geschichte der deutschen Renaissance (Berichte der k. sächsischen Gesellsch. d. Wissensch. 1899); Erich Haenel, Spätgotik und Renaissance, Stuttgart 1899; Kurt Moritz Eichborn, Der Skulpturenzyklus in der Vorhalle des Freiburger Münsters, Straßburg 1899. Die folgende Erörterung beschäftigt sich nur mit dem allgemeinen, allen drei Arbeiten gemeinsamen Problem. Auf die Einzelheiten, auch wo sie zu kritischem Widerspruch auffordern, gehe ich nicht ein.]
Der hiermit für überlebt erklärte Begriff war ausgegangen von der Umwälzung der Architektur unter dem Einfluss der Antike; dann wurden die Schwesterkünste angeschlossen; endlich als gemeinsamer Untergrund eine spezifische Renaissancekultur entdeckt. Alles dies Erzeugnis und Eigentum des modernen italienischen Geistes, aber mannigfach gefärbt durch die »Wiedergeburt des Altertums«, was hier in Italien jedoch nichts anderes war als das Zurückgreifen auf die nationale Vergangenheit. Später trat noch eine deutsche, französische usw. Renaissance hinzu, als Umbildung der nordischen Kunst und Kultur unter italienischem Einfluss. Wie man sieht, lässt diese Begriffsbildung an innerer Präzision und straffer, konzentrischer Fügung nichts zu wünschen übrig. Etwas ganz anderes ist diejenige »nordische Renaissance«, von der man seit 10 bis 15 Jahren bei uns zu sprechen begonnen hat. Sie soll gerade das selbständige Erwachen des modernen Geistes in der Kunst der germanischen Völker – von den van Eycks an oder, wie neuestens behauptet wird, noch früher – bedeuten und die neugeschaffene Gesamtrenaissance soll bis zum Beginn der »archäologischen Renaissance«, d. h. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dauern.
Lassen wir die Benennungsfrage einstweilen [beiseite]. Sachlich enthält die These etwas unbestreitbar Wahres und [einen] wertvollen Fortschritt der historischen Ansicht. Die Kunst des 15. Jahrhunderts ist auch im Norden nicht mehr einfach Mittelalter, sie befindet sich zum italienischen Quattrocento nicht im Gegensatz, wie man es früher darzustellen liebte, sondern in Parallele. Indem wir dieses Sachverhältnis anerkennen – und wer wird es nicht anerkennen? – geben wir auch das Bedürfnis zu, ihm in der stilgeschichtlichen Terminologie einen passenden Ausdruck zu verschaffen. Über die Problemstellung also werden wir alle einig sein. Dass aber die vorgeschlagene Übertragung des Namens Renaissance eine gute Lösung sei, bestreite ich sehr entschieden.
Betrachten wir sie zuerst von der Zweckmäßigkeitsseite her. Da ist doch wohl eine der beherzigenswertesten Warnungen für jede wissenschaftliche Terminologie: quieta non movere. Wenn einem stilistischen Terminus, der lange Zeit unverändert im Gebrauch gewesen ist – in unserem Fall so lange, als es eine Kunstwissenschaft gibt – ein neuer Sachinhalt untergeschoben wird, so werden Missverständnisse an der Tagesordnung sein, bis der ältere Sprachgebrauch völlig verdrängt ist. Schwerlich aber werden die Reformfreunde uns das in Aussicht stellen können. Wir werden es immer mit zwei Renaissancebegriffen zu tun haben, einem engeren (dem alten) und einem weiteren (dem neuen), und es wird eine stete Verlegenheit sein, wie man den Hörer oder Leser vor Verwechslung behüten soll. Eine vorhandene Terminologie verbessern heißt: sie verschärfen, verdeutlichen. Wir sind deshalb immer weiter in der Differenzierung gegangen. Wir unterscheiden heute genau zwischen altchristlichem, byzantinischem, romanischem Stil, die vor 50 Jahren noch als Einheit erschienen; wir haben die süd- und nordniederländische Malerei trennen gelernt; wir haben uns bemüht, das Barock von der Renaissance zu sondern und vom Barock das Rokoko und den Zopf. Was jetzt gefordert wird, ist das Gegenteil von Differenzierung. Indem die Grenzen der Renaissance einerseits tief ins Mittelalter zurückgeschoben, andererseits bis ans Ende des 18. Jahrhunderts vorgerückt werden, wird der ganze Begriff in eine andere Kategorie gestellt. Er umfasst nicht mehr einen geschlossenen Stil, sondern ein langgedehntes Zeitalter; er steht nicht mehr parallel den Begriffen »romanisch«, »gotisch« usw., sondern parallel dem Begriff »Mittelalter«, ist also nur ein anderer Ausdruck für das, was wir sonst »Kunst der Neuzeit« nennen. Was kann man praktisch mit einer Stilbezeichnung anfangen, unter deren Dach die van Eycks, Raphael und Rembrandt, das Ulmer Münster, die Peterskirche in Rom und der Zwinger in Dresden gleichmäßig Platz finden? Gesetzt, die Reform dränge durch, was wird man sich künftig dabei noch denken können, wenn von einer Statue, einem Möbel, einem Ornament gesagt wird, ihr Stil sei der der Renaissance?
Aber sehen wir auch von diesen weiteren Konsequenzen ab – obschon sie unvermeidlich sind – und fassen allein das 15. Jahrhundert ins Auge, so muss auch hier die Mangelhaftigkeit einer Terminologie, welche die italienische und die nordische Kunst unter einen Namen stellen will, einleuchten. Denn selbstverständlich könnte der Begriff nur aus solchen Eigenschaften bestimmt werden, die beiden Teilen gemeinsam sind; was aber nicht gemeinsam ist, hätte mit ihm nichts zu tun. Nichts zu tun also hätte mit diesem Renaissancebegriff die Antike; nichts zu tun die bisher sog. Renaissancekultur, da sie für den Norden im 5. Jahrh. nicht besteht; ja nichts zu tun sogar ein großes Gebiet der Kunst selbst, nämlich die tektonischen Künste, welche im Süden handgreiflich von der Antike abgeleitet, im Norden unerschüttert gotisch sind. Genug, es blieben als einzige, weil allein beiderseits verwendbare Bestimmungen: der Realismus und Individualismus. Ihre Wichtigkeit für die Renaissancekunst ist längst erkannt. Aber unmöglich können sie allein die Renaissance zur Renaissance machen, wie es auch nicht die Renaissance allein ist, die auf sie Anspruch erheben kann.
Dies führt uns zu den materiellen Irrtümern der neuen Lehre hinüber. Die heute beliebte Meinung von der Unerheblichkeit der Antike [Noch schärfer Moriz-Eichborn a. a. O. S. 337: »Die Antike hat zur Entwicklung der Renaissancekunst des 15. Jahrhunderts nicht das mindeste beigetragen.«] für die genetische Erklärung der Renaissance ist ebenso einseitig, wie früher ihre Überschätzung.
Es ist wahr: unmittelbare Entlehnungen kommen nur in den tektonischen Künsten vor; Malerei und Plastik sind davon beinahe frei. Aber ist denn damit schon alles gesagt? Gibt es nicht auch freiere, indirekte und imponderable Einflüsse? Wo Maler und Bildhauer in innigem Einvernehmen, ja oft in Personalunion mit der Architektur ihre Werke schufen, wie könnten sie von dem antiken Geist unberührt geblieben sein? Und dann der ganze Untergrund erblicher Stammeseigenschaften, welche die Italiener der Renaissance zu einem noch halbantiken Volke, nach Jakob Burckhardts Ausdruck, machten. Darum war eine Renaissance im eigentlichen organischen Sinne, als eine aus den tiefsten Wurzeln der Nation kommende Bewegung, nur in Italien möglich. Was man sonst mit dem unbestimmten Ausdruck »reinere Schönheit« der italienischen Renaissance als Vorzug vor der nordischen zugesteht, ist eben diese noch unverbrauchte Erb- und Stammesanlage. Dagegen war im Norden der durch das ganze Mittelalter hindurchgegangene Strom antiker Rezeption eben beim Eintritt in das 15. Jahrhundert bis auf den letzten Tropfen aufgebraucht und vertrocknet. In keinem Jahrhundert, von Karl dem Großen bis auf Wilhelm I., ist die deutsche Kunst von der antiken durch einen so weiten Abstand getrennt gewesen wie in diesem. Das ist sicher mit ein Grund, weshalb der italienischen Kunst die Überwindung des Mittelalters so viel leichter und folgerichtiger gelang als der nordischen. In dieser machte, nach kräftigstem Einsatz mit den Sluter und van Eyck, das moderne Prinzip nur fragmentarische und stockende Fortschritte und am Ende des 15. Jahrhunderts waren Norden und Süden weiter auseinander, als sie es am Anfang desselben gewesen waren. Der Norden fühlte sich zurückgeblieben, der Realismus allein hatte nicht genügt, ihn künstlerisch frei zu machen, er setzte schließlich neue Hoffnungen auf die »antikischen Art«.
Ich fasse zusammen: Die Bezeichnung Renaissance in dem bisher üblichen Umfang ist unentbehrlich. Ein daneben aufkommender zweiter Renaissancebegriff mit erweitertem Geltungsbereich wäre nichts als ein Spiel mit Worten, und ein durch seine Zweideutigkeit verhängnisvolles. Wir sprechen ja von Renaissance nicht bloß in der Kunstgeschichte. Auch auf anderen Gebieten wird Neubelebung eines vergessen gewesenen Alten so genannt; und immer denkt man dabei besonders gern an die Antike, z. B. wenn man das deutsche Geistesleben in der Zeit Winckelmanns und Goethes eine zweite Renaissance heißt. Dass aber etwas ganz Neues, ganz Eigenes, wie die van Eycksche Kunst, auch Renaissance heißen soll, wird der gesunde Menschenverstand niemals akzeptieren. Zur Kennzeichnung des der nordischen und der italienischen Kunst gemeinsamen Gegensatzes gegen das Mittelalter genügt die Kategorie »neuzeitliche Kunst«. Insoweit also ist nach einer Reform der bestehenden Terminologie kein Bedürfnis vorhanden. Wohl aber enthält dieselbe eine Lücke, darin bestehend, dass die in sich geschlossene Epoche der nordischen Kunst vom Ende des 14. Jahrhunderts bis zum Eintritt des Italismus im 16. einen eigenen Stilnamen noch nicht besitzt. Will man diese Lücke ausgefüllt haben, so kann das nur durch einen neu zu erfindenden Namen geschehen. Wir haben dasselbe bei Prägung des Namens »romanisch« getan und mit bestem Erfolg. Ob ein ähnlicher Versuch auch hier gelingen würde, kann niemand voraussehen.
Auch die eifrigsten Reformfreunde im Sinn des erweiterten Renaissancebegriffes empfinden es peinlich, dass durch das Verhalten der nordischen Architektur im 15. und früheren 16. Jahrhundert ein Riss in ihr System gebracht wird. Diesen zu schließen, haben jetzt A. Schmarsow und sein Schüler E. Haenel unternommen. Ihnen dient dazu das ebenso wie der »Realismus und Individualismus« aus der Burckhardtschen Hinterlassenschaft genommene Zauberwort »Raumstil«. Renaissance ist Raumstil, Spätgotik ist Raumstil, folglich ist Spätgotik Renaissance.
Diese Schlusskette ist offenbar logisch nicht richtig konstruiert. Sie wäre es nur, wenn der erste Satz lautete: jeder Raumstil ergibt Renaissance. Das hat aber weder Burckhardt noch sonst jemand bis jetzt behauptet. Nach Burckhardt bildet der Raumstil ein allgemeines Prinzip, das sich durch eine ganze Reihe historischer Stile verfolgen lässt, den spätrömischen, den byzantinischen, den italienisch-gotischen, bis es in der Renaissance seine feinste und kräftigste Entfaltung fand. Also: nicht jeder Raumstil ist Renaissance und Renaissance ist nicht Raumstil allein – gerade so wie sie im Bereich der Bildkünste nicht Realismus allein ist. Wäre die nordische Spätgotik wirklich Raumstil, so würde sie immer nicht mehr sein als eine partielle Vorstufe zur Renaissance und würde damit in gleiche Linie mit der italienischen Gotik rücken, nicht weiter. Denn noch ist es nicht Brauch, Gebäude wie den Dom von Florenz oder S. Petronio in Bologna nach ihrer stilischen Totalität zur Renaissance zu rechnen, obschon viel latente Renaissance in ihnen ist.
Nun aber die Hauptsache: ist die nordische Spätgotik wirklich Raumstil im spezifischen Sinne? Um sie als solchen charakterisieren zu dürfen, müssten wir an ihr Folgendes nachweisen können: 1. dass das Interesse an der schönen Raumgestaltung über die anderen baukünstlerischen Interessen dominierte; 2. dass es ein bewussteres, helleres war als auf den früheren Stufen der Gotik; 3. dass es in folgerichtiger Klärung, Befreiung und Steigerung in die Renaissance als ihren Höhepunkt hinüberführte.
Keine einzige dieser Bedingungen trifft in Wirklichkeit zu. Selbst das Schlussglied der postulierten Entwicklung, die deutsche und niederländische Renaissancearchitektur des 16. Jahrhunderts, war alles eher als Raumstil; sie war in keinem Punkt von der primären, d. h. italienischen Renaissance so weit entfernt als in diesem. Schmarsow lässt somit in der Spätgotik sich etwas vorbereiten, was nie eingetreten ist. Aber auch nach rückwärts verglichen kann ich nicht zugeben, dass die Spätgotik raumkünstlerisch über die Hochgotik hinausgegangen wäre. Es liegt hier eine leicht aufzulösende Täuschung vor. Schmarsow hat als Hebung des Sinnes für Raumschönheit angesehen, was lediglich ein Sinken des Sinnes für organische Schönheit war. Das ist, wie mich dünkt, ohne weiteres klar, wenn man die von Schmarsow, als Hauptvertreter dessen, was ihm deutsche Frührenaissance ist, aufgeführten Denkmäler genannt hört. Eröffnet wird die Reihe durch die Kreuzkirche in Schwäbisch-Gmünd (erbaut seit ca. 1330); es folgen die Kirchen S. Georg in Nördlingen, S. Georg in Dinkelsbühl, die Frauenkirche in München, die Martinikirche in Landshut, die Pfarrkirchen zu Schwaz und Hall in Tirol; in Norddeutschland die Wiesenkirche in Soest, die Lambertikirche in Münster usw. Alle diese Bauten gehören, wie man sieht, in eine bestimmte morphologische Klasse, die der Hallenkirche. Die von Schmarsow und Haenel gegebene Analyse ihres »Raumstils der deutschen Frührenaissance« ist nichts anderes als eine Analyse der Hallenkirche überhaupt. Aber bekanntlich ist dieser Typus weder an Deutschland noch an den gotischen Stil gebunden; er reicht in Frankreich bis in die Anfänge der Gewölbearchitektur im frühen 11. Jahrhundert hinauf. Was der Hallenkirche in der Konkurrenz mit der Basilika am meisten das Wort redete, war die Vereinfachung der Konstruktion, die bequemere Widerlagerung der Gewölbe. Dies ist auch durchaus die einleuchtendste Erklärung für ihre große Beliebtheit in der deutschen Spätgotik. Sparsame und einfache Konstruktion ist ja ein Hauptziel dieser vom bürgerlichen Mittelstand regierten Kunst; auch die der Hallenkirche eigene Klarheit und Übersichtlichkeit der Raumbildung war gewiss nach ihrem Sinn. Ist damit aber auch schon ein Raumstil in der zu verlangenden Bedeutung begründet? Den Maßstab dafür können nur die vorangehenden Stilstufen geben. Hier muss ich nun rund heraus sagen: wieso sich die Kreuzkirche in Gmünd und was ihr folgt »der gotischen Raumbildung entfremdet« habe; wodurch sie »eine Urkunde neuen Wollens« geworden sei, wie man überhaupt den Unterschied zwischen spätgotischen und hochgotischen Hallenkirchen allem voran in die Raumbehandlung legen kann – das liegt außerhalb meines Verständnisses. Die Veränderungen, die mit der Hallenkirche vor sich gehen, liegen in der Form der Stützen, der umschließenden Mauern, der Gewölbe, nur sekundär im Raum. Gerade unter den frühesten gotischen Hallenkirchen sind einige, wie der Dom von Minden in Deutschland, die Kathedrale von Poitiers in Frankreich, die in freier Raumschönheit später nie wieder erreicht worden sind. Es fehlt der Spätgotik überhaupt an einem bestimmt charakterisierten Raumideal. Wir finden nebeneinander langgestreckte Anlagen mit schmaloblongen Jochen, wie die Kreuzkirche in Gmünd, und quadratische Anlagen mit ebenfalls quadratischer Teilung, wie die Frauenkirche in Nürnberg, übermäßig steile Querschnittprofile, wie in St. Martin zu Landshut, und breitgequetschte, wie in der Stiftskirche zu Stuttgart, und andere Zeugnisse eines schwankenden Raumgefühles mehr. Sodann die von Haenel gerühmte Einheitlichkeit des Grundrisses, d. i. Mangel eines Querschiffes und einfache Gestaltung des Chors, hätte doch nur etwas zu bedeuten, wenn sie etwas Neues wäre; allein sie war in Süddeutschland von jeher zu Haus und in Norddeutschland wenigstens an den Hallenkirchen die Regel. Den Gipfel der Einfachheit in der Grundrissdisposition hatte aber schon lange vorher die Kathedrale von Poitiers erreicht. Hätten Schmarsow und Haenel, wie sich ziemte, diese historischen Maßstäbe in die Hand genommen, dann wären sie vor dem Irrtum bewahrt geblieben, von der Gmündner Kreuzkirche den Eintritt einer neuen Ära, den Eintritt der Frührenaissance, zu datieren. Aber auch ohne Vergleichungen, allein aus den ihnen vorliegenden Denkmälern, hätten sie merken müssen, dass der Sinn für einheitliche Raumgestaltung in der Spätgotik geradezu im Rückgang war. Ich nenne zum Beweis zwei häufig vorkommende Eigentümlichkeiten. Nach der einen wird die Decke, die nach Maßgabe der Raumidee in gleicher Höhenlage bleiben müsste, beim Eintritt in den Chor geknickt, d. h. in willkürlicher Weise bald höher, bald tiefer gelegt als im Schiff (Beispiel die Kreuzkirche in Gmünd), nach der anderen erhält das Mittelschiff eine Überhöhung im Sinn des Querschnittes, woraus eine schlaffe Zwitterbildung zwischen Hallen- und Basilikenanlage entsteht (Beispiel: die Frauenkirche in Ingolstadt); ferner die Verbindung eines basilikalen Langhauses mit einem hallenmäßigen Chor (Beispiele: St. Sebald und S. Lorenz in Nürnberg); es können damit anziehende malerische Wirkungen erzielt werden, aber es ist ein Hohn auf die einfachsten Prinzipien der Raumkunst. Dasselbe gilt von Ulrichs von Ensingen Plan für das Ulmer Münster; ursprünglich als Hallenkirche gedacht, wurde es zur Basilika umgebaut, aber so, dass die Seitenschiffe sich bis zur gleichen Breite mit dem Mittelschiff erweiterten, in völliger Verkennung des der Basilika eigentümlichen räumlichen Rhythmus. Noch später wurden die Seitenschiffe geteilt, so dass die Gesamtzahl fünf erreicht wird. – Wohin man auch blicken mag, von einem einheitlichen Willen der spätgotischen Epoche, die Raumschönheit in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen Intention zu stellen, kann gar nicht die Rede sein.
Wenn die italienische Renaissance darauf ausging, den Innenraum in seinen stereometrischen Verhältnissen klar darzulegen, ihn fest zu umgrenzen, ihn nach leicht fassbaren und messbaren Proportionen zu gliedern: so ist der spätgotische Raum das Gegenteil davon, eine unbestimmt verschwimmende, geometrisch undefinierbare, formlose Masse. Nein, die Spätgotik ist nicht »Raumstil«. Ihr Lebensprinzip liegt in einer ganz anderen ästhetischen Kategorie. Es ist die Zusammenfassung der Architekturteile zu einer malerischen Einheit. Noch mehr: die Architektur an sich ist unfertig, sie bedarf der Ergänzung durch die in bekannter Massenhaftigkeit in sie hineingestellten künstlerischen Sonderexistenzen: die Altäre, Sakramentshäuser, Kanzeln, Lettner, Schranken und Chorstühle, Grabmäler usw. Erst durch die optischen Beziehungen dieser Stücke unter sich und mit dem architektonischen Hintergrund wird das gewollte Endergebnis gewonnen: das Bild. Es hat dem Charakter dieser Innenräume wenig, oft nichts geschadet, wenn die gotischen Mobilien durch barocke ersetzt wurden, aber die nach modernen puristischen Restaurationen zurückbleibende Leere traf ihren Lebensnerv. Die schon in der sog. deutschen Renaissance eintretende Vermischung der Stilformen ist gar keine Inkonsequenz, sie passt ganz zum Wesen dieses nicht in Formen, Konstruktionen oder Raumkategorien, sondern in malerischen Bildeindrücken denkenden Stils.
Wohin sollen wir nun diese »Spätgotik« geschichtlich einordnen? Mit der Gotik der Kathedrale von Amiens hat sie offenbar, außer in Äußerlichkeiten, nichts zu tun – aber auch nichts mit der Renaissance eines Brunellesco und Bramante. Der fundamentale Irrtum bei Schmarsow liegt darin, zu meinen, dass wir nur zwischen den zwei Möglichkeiten – entweder Ende der Gotik, oder Anfang der Renaissance – die Wahl hätten. Ich sehe in der nordischen Spätgotik ein neues Drittes wirksam. Ich finde, dass dieses das Absterben der gotischen Zierformen überlebt, ja erst danach zu voller Klarheit über sich selbst kommt. Der Weg der Entwicklung geht von der Spätgotik in gerader Linie zum Barock, an der Renaissance vorbei, öfters durch Flankenangriffe der Renaissance beunruhigt, aber nie von ihr ganz durchbrochen. Vielleicht wird weitere Überlegung – die aber im Rahmen dieser kritischen Erörterung nicht mehr angestellt werden kann – noch einmal zur Einsicht führen, dass das historische Verhältnis von Renaissance und Barock nicht ein Nacheinander, sondern ein Nebeneinander ist. Damit wäre auch der eben so eifrig als fruchtlos geführte Streit über die Spätgotik geschlichtet. Sie wäre dann nicht sowohl Übergang zur Renaissance als Übergang zum Barock. Und vielleicht findet sich einmal in guter Stunde auch noch ein Name für sie. Etwa »Vorbarock«? wie wir ja schon lange gewöhnt sind, bekannte andere Erscheinungen als »Vorrenaissance« zu bezeichnen. Oder noch präziser: »gotisierendes Barock«.