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Erstes Buch
Moorluke
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Der Mond tanzte auf den Wassern.

Durch den schwarzen, glatten Spiegel streckte er überall sein feuchtes Gesicht hindurch, zwinkerte mit den Augen und spie goldene Funken nach Hann.

Es war gerade um die Zeit, als Line mit feurigen Wangen das erste Mal durch den Saal schlich.

Siebenbrod war eingeschlafen, er schnarchte. Kein Lüftchen regte sich; mitten auf der toten Fläche stand das Boot unverrückbar still.

Die großen Stellnetze waren bereits eingezogen, ein paar andere hatten sie ausgelegt; mitten in dem Boot schillerte fast fußhoch ein dicker Haufe zappelnder Heringe.

Die zuckten und sprangen und leuchteten einen fahlen, blauweißen Glanz.

Von fernher hallte ein einsamer Glockenschlag. Dann kroch wieder dieses ungeheure tote Schweigen über den Spiegel. Der Junge, des Nachtdienstes ungewohnt, hockte vorn am Bugspriet und kämpfte gegen den Schlaf. Zuweilen neigte sich sein plumpes Haupt schwer gegen den Bordrand, doch ein letzter verlöschender Blick auf den Stiefvater, der, das Steuer im Arm, zu einer unförmigen Masse zusammengesunken schien, ließ ihn immer wieder zur Höhe taumeln.

Der Bootsmann hatte ihm anbefohlen, wach zu bleiben. Und die Furcht wirkte stärker als die Müdigkeit.

Allmählich aber begann er zu zittern. Ein eisiger Frost stieg aus der schwarzen Tiefe auf und legte sich wie ein enger Mantel um seine Brust.

Voller Angst und in der Sucht, sich an etwas festzuhalten, an etwas Lebendigem, blickte er überall umher.

Dort der Mond. – Er kam und ging.

Es war, als wenn er sich wasche und immer um das Boot herumschwimme!

Was war eigentlich der Mond?

Der Junge rieb sich den Kopf, aber das Richtige sprang nicht heraus. Er fuhr mit der Hand in die glitzernde Scheibe, aber das Wasser war so eisig, daß er zusammenschrak.

Immer toller grinste das Gesicht aus den Fluten. Deutlich sah der Einsame, wie die großen Augen auf und zu klappten. Dazu verzog sich der Mund und wies blitzende Zähne.

Herrgott – Herrgott – was war eigentlich der Mond?

Das Gesicht wurde immer deutlicher und runder. Jetzt hob es sich aus dem Wasser, jetzt tauchte es unter, im nächsten Augenblick klappte das Maul auf und fing an zu reden.

»Jesus!«

Der kalte Schweiß lief Hann herunter. Er war der Nacht und dieses fürchterlichen Schweigens noch ungewohnt.

»Siebenbrod – Siebenbrod!« schrie er auf.

Vom Steuer tönte ein Ächzen, dann rührte sich nichts mehr.

Nein, er mußte wissen, was der Mond war. Die Unwissenheit bedrückte ihn, wie kurz vorher Line. In wildem Schrecken versuchte er fortzusehen, doch kaum gedacht, schwoll das Haupt riesengroß an, ein Zischen quirlte um es her, und dann grinste es wieder tückisch unter der zitternden Flut.

Da kam Hann ein Gedanke.

Er wollte sein Abendgebet hersagen, denn seine Furcht war groß. So faltete er die Hände:

»Ich bin klein,

Mein Herz ist rein,

Soll niemand drin wohnen

Als Gott allein.«


Er betete es noch immer, obwohl er ein großer Junge geworden. Er hatte kein Gefühl für die Lächerlichkeit.

Als er den Spruch gesagt, schielte er von neuem auf seinen Feind. Der hatte sein Antlitz in tausend goldne Runzeln gezogen und lag grämlich und zitternd da.

Und immer wieder ging es durch den dummen Jungenschädel: »Was ist eigentlich der Mond?«

In der Schule war er so weit nicht gekommen. Ob Line das wohl wußte? Ja, wenn er heute nacht nach Hause kam, dann wollte er doch an die Nebenwand klopfen, hinter der sie schlief, um einmal anzufragen. Ja, ja, Line hatte es gut. Die lag nun weich in ihrem Bett.

Gutmütig nickte er.

Das war auch ganz in Ordnung, daß sie nicht mit auf der schwarzen See weilte. Sie sollte nicht arbeiten. Dazu war sie zu fein.

Und als er von neuem in das glitzernde Gebilde starrte, kam es ihm vor, als ob sich dort drin etwas verändere, als ob ein ganz kleines Püppchen darin herumtanze.

Wahrhaftig, so warf Line die Beinchen.

Freudig reckte er sich vor, so daß das Boot schwankte. Alle Bangigkeit war vergangen. Statt des gespenstischen Hauptes nahm er mit einmal eine goldene Stube wahr, in der Line herumhuschte.

»Ja, ja,« wohlgefällig lachte er dazu, und ganz hinten am Steuer, wo die formlose Masse des Bootsmanns hockte, räusperte sich etwas, und Siebenbrods knastrige Stimme fragte gemütlich: »Wat is de Klock?«

* * *

Um Mitternacht fuhr das Boot in Moorluke ein. Eine Viertelstunde später stießen die beiden Fischer auf Frau Klüth, die in der Dunkelheit vor dem Lotsenhäuschen stand und die Hände rang. Als Siebenbrod sich erkundigte, erfuhr er, daß Line und Bruno diese Nacht nicht nach Hause gekommen wären. Paul, der Student, sei bereits trotz Nacht und Nebel in die Klosterruinen gelaufen, wo man die beiden zuletzt gesehen.

»Und dabei soll es da drüben spuken,« jammerte Frau Klüth.

»Na, sie werden sich wohl wieder zufinden,« tröstete Siebenbrod in ziemlicher Ruhe und gähnte mächtig. »Die Hauptsache is nu, daß wir schlafen gehen. Puh – ich schuddere man so durch den ganzen Leib. – 's is niederträchtig kalt. – « Und während er die Witwe und Braut an die Hand nahm, murmelte er noch: »Leg dich man auch nieder, Frau Klüth. Es sind ja große Gören.«

Die kleine Frau ließ sich nach einigem Sträuben ins Haus ziehen.

Hann aber stand vor der Tür und zitterte vor Frost. Mit blödem Blick und schweren Augenlidern sah er in die Nacht hinein.

Hatte er das geträumt? Spukte der Mond noch vor seinen Augen.

Line war weg?

Schwerfällig schüttelte er den Kopf, als wär' ihm das Merkwürdige noch immer nicht klar, dann schauerte er wieder zusammen, und alle seine Glieder zuckten vor Kälte.

Line war weg?

Plötzlich überkam ihn eine seltsame Wut; die Mattigkeit wich von dem jungen Körper, mit voller Wucht schlug er mit der Faust gegen die Hausmauer, immer fester, immer ärger, als hätten die Steine nicht genügend über die Kleine gewacht.

Warum kam sie denn nicht wieder? – Wo war sie? Wenn sie nun beide, Bruno und das Mädchen, im Rick lägen? Laut heulte er auf und hieb wieder auf die Steine ein.

Aus der Hand sprang Blut.

Da klappte etwas auf der Dorfstraße.

Dicht am Rick entlang kam eine Fischersfrau in Holzpantoffeln daher. Es war die Frau des taubstummen Klaus Muchow, die ihren Mann aus dem Krug nach Hause holen wollte. Als der Junge in der Dunkelheit auf sie zufuhr, erschrak sie.

»Huching.«

»Line – Line is weg,« stammelte er.

Die Frau dachte nach. »Ne,« berichtete sie dann, »die hab' ich bei Gastwirt Krügern gesehn, mitten unter die Studenten.«

»Bei Gastwirt Krügern?« echote Hann, der es nicht glauben konnte, und riß den Mund auf.

Warum schlug ihm das Herz dabei so gewaltig an die Rippen? Noch war sein Verstand zu dumpf, um ihm das zu beantworten.

»Na, ich sag man, die tanzt fein,« meinte die Frau und lachte. Dann machte sie den Vorschlag, daß Hann sie begleiten solle, sie würde ihn mit hineinnehmen.

»Darf ich denn da hin?« stotterte Hann.

Die Frau warf ihm einen zweifelnden Blick zu: »I ja, warum denn nicht?« entschied sie, »wenn ich mit dabei bin – komm man, mein Jünging.«

»Na, denn nehm' ich's an,« brachte der Junge halb betäubt hervor und schüttelte sich, um sich zu erwärmen. »Dann hol' ich Line.«

»Ja, das tu man.«

»Es is wegen der Trauer,« entschuldigte Hann voller Scham.

»Ja, ja, das ist auch so.«

Und dann verschwanden die beiden.

– —

»Line, jetzt komm nach Haus,« drängte der Sekundaner wiederum.

Er hatte sie einen kurzen Moment an der Hand, doch sie entzog sich ihm wieder.

»Gleich – gleich, Bruno.«

»Nein, du gehst jetzt.«

Sie lachte wild: »Ich tu ja nichts«

Dabei schimmerten ihre Wangen in heller Röte, aus dem leicht geöffneten Munde stieß kurz und rasch der Atem, und in den schwarzen Augen züngelten hundert glänzende, kleine Feuer.

Ihre Füßchen trippelten ungeduldig, und jetzt, jetzt wo die Musik wieder einsetzte, da wiegte und dehnte sich der Körper so leicht, so frank und frei, als wäre das weiße Kinderkleidchen längst von ihr abgeglitten, als stände sie nackt und aller Hüllen ledig und würde bald einen unerhörten Tanz beginnen.

»Line – Line.«

»Laß mich doch, Bruno, ich tu ja nichts.«

»Du hast mit dem großen Studenten da drüben getanzt.«

»Das ist nicht wahr – laß mich jetzt los – bitte, bitte.«

»Nein, du darfst nicht mehr.«

»Oder tanz du selbst mit mir.«

Er erschrak über ihr Verlangen und starrte sie an. In ihrer Stimme lebte soviel kindliche Leidenschaft. Hinter ihm paukten und schmetterten ein paar Musikanten, die aus der Stadt herausgekommen waren, scharrendes Geräusch schleifender Füße mischte sich drein.

»Hopsa – hopsa – hopsasa,« sang plötzlich oll Kusemann neben ihnen, der in seiner Extralotsenuniform bei jedem Ball die Stellung eines Tanzkommandeurs bekleidete, »hopsasa,« sang er und hob das rechte Bein unternehmend in die Höhe: »Komm, Dirning, tanz mit mir! – Ich hab' spanische Korken in die Stiefel – siehst du so.« Er sprang hoch in die Luft. »So ein paar Dinger schenk, ich dir auch, wenn du hübsch artig bist und mir einen Kuß gibst – fix, Marjelling.« Hoch nahm er sie in seine Arme und schwenkte sie weit in der Luft herum.

Ihre Röckchen wirbelten, die schwarzen Zöpfe rasten um sie herum, von der einen Wade war der Strumpf heruntergestreift und entblößte die braune, seidige Haut.

»Huch,« schrien die Fischerweiber schamhaft.

Solchen Tanz hatten sie noch nicht gesehen. Der taubstumme Riese Klaus Muchow lachte dazu, daß die Wände dröhnten, während die Studenten ihre Seidel schwangen, um Line ein donnerndes Hoch auszubringen.

»Line – hurra,« schmetterten die jungen Stimmen.

»Line hurra,« knatterte es aus allen Winkeln.

»Line hurra,« greinte oll Kusemann und spitzte seiner Tänzerin, die noch nicht den Erdboden berührt hatte, die Lippen entgegen.

»Ich will nicht mehr,« keuchte die Kleine, vor deren Blicken alles verschwamm, und begann mit dem Lotsen zu ringen. »Ich will runter.«

Ihre Fußspitzen suchten den Estrich.

Oh, und Bruno mußte oben von der Terrasse der Musiker, wo er krampfhaft einen Stuhl gepackt hielt, alles mit ansehen, mußte die entblößte Wade schauen und die tastenden Zehen, mußte auch knirschend beobachten, wie der taubstumme Riese sich erhob, um dem angetrunkenen Lehrer Toll pantomimisch vorzumachen, wie er das Ding auf seinen Arm setzen wolle und dann auf den Kopf.

Dazu erhob er taktmäßig die mächtigen Beine, grinste schlau und drehte sich komisch im Kreise umher.

»Solch ein Kerl,« murmelte Bruno in erstickter Wut. »Solch ein Kerl.«

Wie kam es, daß die Gestalt des alten verstorbenen Lotsen plötzlich vor ihm auftauchte, seines Vaters, der erst wenige Wochen in seinem Grabe ruhte, und der doch Line wie sein eigenes Kind gehalten?

»Wie ist das möglich?« – schnitt es ihm durch den Sinn, »wie ist das bloß möglich? – Hab' ich denn das Ding noch gar nicht gekannt?«

Ein merkwürdiges Gefühl, von Grauen und Verlangen gemischt, wühlte in ihm herum, keinen Blick konnte er von der Kleinen abwenden, und jetzt, jetzt trug sie oll Kusemann schleifend und zierliche Winkel drehend wieder in seine Nähe.

Wie er zitterte, wie er sich schämte, und er hatte sie doch erst vor wenigen Stunden weich auf seinem Schoß gehalten. —

»Dirning,« hörte er den Lotsen schmunzeln, »leg' mich deinen Arm um den Hals, sonst fällst du.«

Und was antwortete sie?

»Du alter, häßlicher Kerl.«

»I, Lining, das ist grade was Apartes. – Au, Kind, wozu kratzt du denn? Ich wollt ja bloß sagen: Hann liegt jetzt auf der See.«

Line schlug mit der Hand durch die Luft. »Wo Hann liegt, das ist mir ganz gleich.«

»Na, du gehst gut, du Racker,« wollte der Lotse eben belobigen, da fühlte er unvermittelt, wie etwas an ihm herunterglitt; dadurch verlor er das Gleichgewicht und purzelte, sich überschlagend und unter dem dröhnenden Gelächter der Studenten, gerade auf den Schoß seiner Gattin Alwining.

Die zog ein strenges Gesicht und kniff ihn heimlich in den Arm.

»Alwining,« flüsterte oll Kusemann und griff seiner Frau unter das Kinn: »Sei ruhig, ich weiß, was du denkst. – Aber die kleine Krabbe ließ mir gar nicht in Frieden. Du weißt ja, aus der wird nichts Gutes! – Sollst sehen, Alwining. – Ich kenn' meine Leute.«

* * *

Sie forderte zu trinken, als sie nun atmend und glühend neben ihrem Pflegebruder auf der Terrasse stand.

Aber er verweigerte ihr alles. Eine tiefe Verachtung gegen dies tolle Ding war in dem feinen gebildeten Jungen aufgestiegen. Fast mit Gewalt hatte er sie in eine Ecke hinter die Musiker gezogen, und nun schüttete er dort sein Herz vor ihr aus. Wie sie sich benommen, wie sie ihn blamiert hätte, und was die Mutter zu Hause dazu sagen würde. Den Abschluß bildete immer der eine Satz: »Du hast nichts gelernt, du gehörst eben unter die Fischer.«

Doch sie antwortete nichts.

Ihre schwarzen Augen, die so seltsam auf dem blauweißen Untergrund schwammen, lugten noch immer gierig nach allen Seiten. Die Musik und der Tanz hatten sie offenbar betäubt. Immer noch blinzelte sie nach den sich drehenden Paaren.

»Line, verstehst du mich denn nicht? – Ich trag dich mit Gewalt raus, wenn du nicht von selbst gehst,« flüsterte er mit neu aufbrausender Wut.

Verständnislos – kindlich und doch mit einem merkwürdigen, bewußten Zug um die Lippen lächelte sie ihn von unten herauf an. Dann streichelte sie ihm schmeichelnd über die Wange, um gleich darauf das Haupt zu neigen und mit ungeheucheltem Erstaunen auf ihre entblößte Wade herabzublicken.

Jetzt bemerkte sie es erst.

Auch der Sekundaner mußte diesem Blick folgen. Das Blut schoß ihm dabei ins Gesicht, er verachtete sich selbst, weil er sich nicht sofort abwenden konnte. Doch er verharrte und blinzelte hinunter. Und Line lachte über den Unfall, während sie tiefgebeugt über ihrem Strumpf nestelte. In diesem Augenblick nahte sich ein junger, schlanker Student, Jahn mit Namen, derselbe, der vorhin das Hurra auf diese jüngste Tänzerin kommandiert hatte, und streckte einfach die Arme nach ihr aus.

Schon berührten seine Finger die Schulter der Gebückten, als Bruno sich nicht mehr mäßigen konnte. Er riß sie empor, daß sie förmlich in die Höhe zuckte, beide flogen von der heftigen Bewegung die wenigen Stufen hinunter, und dann – hatte er begonnen oder Line?

Keiner wußte es später.

Aber die schlanken Arme, mit denen sie ihn unwillkürlich umschlungen, löste sie nicht, und dann war es Bruno, als ob alles um ihn herumwirbele. Die Wärme, die heiße Glut, dieser erste Lebenstaumel des jungen Wesens an seiner Brust hatten es ihm angetan – ! Er tanzte! – Nein, er riß sie rasend mit sich fort. Er sah nichts als die aufblitzenden Augen und die weißen Zähne, die hinter den schmalen Lippen glänzten. Immer herum – immer weiter, wenn es ihm auch war, als ob er über spitze Messer tanze, wenn ihm auch eine flüchtige Erscheinung kam, als stände sein Bruder Hann draußen an den Fensterscheiben und stiere blöden Sinnes herein. Schneller, wilder, dieses sich immer gleichbleibende, beglückte Lächeln der Tänzerin berauschte ihn und hetzte ihn weiter.

»Oh,« murmelte Line, »noch länger – noch länger.«

»Ja – ja.«

»So gut wie du tanzt doch keiner, Bruno.«

»Aber du auch – du auch, Line.«

»Ja, das hab' ich gelernt,« flüsterte sie stolz, während sie ihn leise in den Arm kniff.

Doch ehe er noch antworten konnte, kam das, was ihn zur Besinnung brachte, vor dem er floh, als hätte er ein Verbrechen begangen.

Wie eine Erscheinung, unvorhergesehen, stand es da.

Leise, aber entsetzt schrie Line auf.

Was war das für eine breite, nasse Hand, die sich auf ihren Arm legte? – Weshalb stürzte plötzlich ihr Tänzer fort, als ob er sich verfolgt wähne?

Wer war das eigentlich, der sie festhielt und mit ihr sprach?

Erst mußte sie sich die Haare aus der Stirn streichen, eh sie ihn erkannte. Dann blickte sie sich wirr im Saale um. Ihr Herz begann krampfhaft zu pochen, eine schneidende, überwältigende Angst durchfuhr sie.

Wie kam sie denn hierher? – All die fremden Leute? Die Fischerweiber, die mit Fingern auf sie zeigten, und die Studenten, die so vertraut mit ihr taten?

Zitternd und zerknirscht blieb sie vor dem Schifferjungen in dem nassen Rock stehen. Der sah sie mit seinen dumpfen blauen Augen bekümmert an und sagte mit kaum merklichem Vorwurf: »Ich such' dich, Lining.«

»Hann,« stotterte sie.

Da faßte er sie fester am Arm und meldete ernsthaft: »Ich soll dich nach Haus bringen.«

»Ja – ja,« stieß sie scheu hervor, während sie sich an ihn drängte: »O komm bloß, ich will mit dir.«

Er ließ ihr keine Zeit zur Besinnung, bevor sie es selbst recht bemerkte, hatte er sie aus dem tabakdurchqualmten Saal geleitet und führte sie nun durch die stockfinstere Nacht.

»O Lining,« murmelte er nur einmal mit tiefem Kummer, »was hast du gemacht?«

Hastig atmete sie auf. »Ich weiß auch nicht,« brachte sie dumpf hervor, aber dann setzte sie halb voll Angst hinzu: »Aber ich glaub', es kommt davon, weil ich so wenig gelernt hab'.«

»Ja, ja, das mit dem Lernen,« stimmte Hann beklommen bei.

Er dachte immerfort daran, wie sein feiner Bruder, der doch morgen in die Welt sollte, und dies kleine Mädchen zusammen getanzt hatten, getanzt, während der alte Lotse in seiner Grube kaum kalt geworden.

Das war greulich.

Aber er sprach darüber kein Wort. Etwas Unbestimmtes, Ängstliches hielt ihn von der Schwester fern.

Endlich waren sie an der Seite des murmelnden Flusses bis vor die Tür des Lotsenhäuschens geschlichen.

»Hann,« begann Line hier, der das Schweigen Pein verursachte, »wacht Mutter noch?«

Er schüttelte das Haupt.

»Bist du allein auf?«

Er nickte.

»O Hann« – sie drängte sich in ihrer schmeichelnden Art an ihn – »sprich doch mit mir – ich will's ja nie wieder tun, hörst du? – aber sprich mit mir.«

Wieder schüttelte er das plumpe Haupt. Ihm war so trostlos zumut, daß ihm keine Worte einfielen. Da wurde die bohrende Verzweiflung in Lines Brust übermächtig, heftig sprang sie an dem Jungen in die Höhe und drückte ihm einen heißen, bittenden Kuß auf den breiten Mund. »Ich will's ja nie wieder tun,« hauchte sie dazu, »ganz gewiß, nie wieder – aber sag hier zu Haus nichts davon, hörst du? – sag kein Wort.«

Noch stand sie einen Augenblick vor ihm. Durch die tiefe Nacht glaubte er das Weiße ihrer Augen zu erkennen. Dann hörte er etwas über die Treppe huschen, und über die Stelle, wo sie gestanden, säuselte der Nachtwind.

Es war stockfinster und Hann auf der Landstraße allein.

Da senkte der dumme Junge langsam den Kopf in seine groben Hände und begann unhörbar vor sich hinzuschluchzen.

Hann Klüth: Roman

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