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Erstes Buch
Moorluke
IV

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An einem der nächsten Tage – noch wußten die Kinder nicht, was im Kuhstall beschlossen war – wurde Hann ins bürgerliche Leben eingeführt.

Er lag gerade mit Line auf einer der schönen grünen Wiesen, auf denen Moorluke gebaut ist, und die sich bis zum Meer hinunterziehen. Die letzten Gräser biegen und wiegen sich über den sanften Wassern und flüstern mit den Stichlingen. Manchmal schießt auch ein rotkäppiger Barsch heran, beißt vor Lebenswonne in die schwanken Halme und saust wieder in die schillernde Weite zurück. Hann wußte das alles.

Er fühlte es, wenn er es auch nicht sah. Seine Umgebung war das einzige, was er gelernt hatte, und was ihm vertraut war.

Da, wo das Gras am höchsten und üppigsten grünt, da liegen die beiden Kinder.

Line ruht auf dem Rücken. Um sie herum wehen wunderbar feine, seidig-graue Gespinste. Es sind die zarten Heringsnetze, die aus meerblauer Seide geknüpft sind, damit sie mit der Seefarbe übereinstimmen und den scheuen Silberflößler nicht erschrecken. Jetzt sind sie zum Trocknen aufgehängt. Wenn der leichte Seewind zuweilen an sie rührt, dann zittern sie so seltsam um das Dirnchen, wie ungeheure, phantastische Spinnenwebe, in denen sich ein Nixenkind gefangen.

Es ist Vormittag.

Ringsherum Sonnenschein.

Das Meer funkelt wie ein weißgedeckter Tisch, auf dem eine Million in Goldstücken aufgezählt liegt.

»Line,« sagt Hann, der in seinem abgetragenen, blauen Drillichanzug in einiger Entfernung von ihr liegt und, den plumpen Kopf in beide Hände gestützt, aufmerksam einen wimmelnden Ameisenhaufen betrachtet: »Hast du wohl acht gegeben – «

»Still,« unterbricht Line unwillig.

»Ich mein', daß Dietrich Siebenbrod nun ümmer bei uns zu Tisch ißt?«

Wieder eine heftige Bewegung der kleinen Hand: »Sei ruhig.«

»Je, warum?«

»Weil ich da oben raufkuck.«

»Lining, siehst du was?«

»Nein – aber es is so häßlich, wenn du sprichst.«

»Oh, Lining, warum is das so?«

»Das weiß ich auch nich. Es is häßlich.«

»Je, dann kann ich ja auch ruhig sein.«

»Das tu. Dann kommt es wieder.«

»Was kommt?«

»Das Schöne.«

»Welches Schöne?«

»Dummer Jung. – Als wenn mich einer streichelt.«

»Oh, Lining – «

»Sei still.«

Und nun liegen sie beide wieder wie vorher. Die feinen blauen Maschen zittern und beben, und die fleißigen Ameisen rennen auf ihrem Hügel im Kreise.

Allmählich vergißt Hann, wie die kleine Pflegeschwester ihn schlechter als Pluto, den Hofhund, behandelt. Aber das ist ja schließlich auch so natürlich. Sie ist so viel vornehmer als er. Auf einer untergehenden schwedischen Bark ist sie gefunden worden. Vielleicht stellt sie wirklich was sehr Hohes vor. Am Ende gar eine Prinzessin. Ja, ja, und solch eine, die muß wohl so kurz angebunden sein. Das hat er ja immer gehört.

»Na, denn is es ja ganz in Richtigkeit,« meint Hann vor sich hin.

Damit wendet er sich wieder seinem Ameisenhaufen zu und beugt sich tiefer und tiefer darüber.

Wie die Tierchen alle beladen herumrennen. Ganze Züge in einer Richtung. Das ist sehr wunderbar. Der Junge denkt zum erstenmal darüber nach.

Da fällt unvermutet ein langer Schatten über den grünen Plan. Er gleitet langsam näher.

Line erhebt sich halb, blinzelt nach vorn und sagt wegwerfend: »Da kommt Dietrich Siebenbrod.«

»Ja, Lining,« antwortet Hann, »leiden kann ich ihn auch nicht recht.«

»Du auch nicht?«

»Ne, er spuckt ümmer in die Stuben.«

»Ja, ja – wollen ihn heute mal recht ärgern,« regt Line an.

Und Hann ist gänzlich damit einverstanden. Ganz selbstverständlich. Er ist immer nur der Gefolgsmann seiner Dame.

Der Bootsmann steht nun in seinen großen Wasserstiefeln vor ihnen.

Er hat ein gutmütiges, hageres, dunkelbraungebranntes Gesicht, glanzlose, schwarze Augen, eine große Menge schwarzer, schweißnasser Haare und eine glühende Adlernase.

Als er so vor ihnen steht, sieht er mit Vergnügen auf die schlanken, nackten Beinchen von Line herab, die in der Sonne seidig glänzen.

Die kleine Dirn findet er niedlich. Auch Hann mag er leiden. Nur hält er es an der Zeit, daß aus dem Jungen etwas wird. Überhaupt, seit aus dem Kuhstall die Zukunft ihn, wenn auch nur mit einem alten, unbeweglichen Weibsantlitz angelächelt, ist er von väterlichen Gefühlen beseelt.

Verwundert blickt er auf die beiden Kinder hinab, die so stumm daliegen, als wäre er gar nicht vorhanden. Nur Line schlenkert ein wenig mit dem rechten Bein hin und her, als schlüge sie damit den Takt zu einem Liedchen. Hann dagegen starrt unbeweglich in seinen Ameisenhaufen.

»Morgen,« beginnt Siebenbrod gemütlich, denn der Sonnenschein, die Kinder und das Gesumm der Käfer wecken Wohlgefallen in ihm.

»Aber ja nicht antworten,« »Man jo nich« – Auf keinen Fall; das ärgert den Säufer sicherlich.

Die kleinen Boshaften verhalten sich mäuschenstill.

Siebenbrod wundert sich, sperrt den Mund auf und faßt sich an die Nase.

Die Stille, das Schweigen, das seltsame Benehmen verwirren ihn sichtlich.

Wozu tun das die Jören?

»Was gibt's denn?« räuspert er sich endlich, indem er sich zusammennimmt. »Was is hier?«

Stille.

Nur Line summt mit den Käfern um die Wette und dirigiert das Konzert immer geschickter mit dem Fuß.

»Na, da soll doch,« bricht Siebenbrod, noch immer voller Erstaunen, los, denn an einen Kinderhaß, an eine Rebellion denkt er noch lange nicht. – Auch geht ihn die Dirn schließlich nichts an, ist zudem auch 'n netter Racker.

»Jung, bist du dumm? – Was kuckst du so in den Haufen? Steh gleich auf!«

Line wendet das Köpfchen und schielt zu ihrem Begleiter hinüber. Aber der bleibt fest. Er ist stolz, sich vor seiner Dame einmal zeigen zu können.

Er rührt sich nicht.

»Hann!« brüllt Dietrich plötzlich kirschrot, denn er begreift, und die Nase beginnt so merkwürdig zu zittern und zu funkeln, daß beide Kinder in ein befriedigtes, höhnisches Gelächter ausbrechen.

Siebenbrod reißt den Jungen in die Höhe: »Verfluchtiger Lümmel, willst du woll?«

»Laß los,« schreit Hann wütend dagegen. Aber die Habichtkrallen des andern geben ihn nicht frei. Sie wirbeln ihn vielmehr im Kreise umher, wie ein altes Kleidungsstück, das von dem Trödler von allen Seiten betrachtet werden soll.

Entsetzt springt jetzt auch Line in die Höhe.

Das bedeutet keinen Spaß mehr. Dietrich ist gewiß wieder betrunken.

»Laß ihn los,« will auch das kleine Kind rufen, aber der Laut bleibt ihr in der Kehle stecken.

Starr, gebannt, mit weiten, erschreckten Augen muß sie das Begebnis mit ansehen.

Das wickelt sich jedoch unheimlich schnell ab.

Siebenbrod wirbelt den Haufen Kleider noch zwei-, dreimal mit wütender Kraft herum, dann wirft er ihn ins Gras.

»Da lieg.«

»Was? – Was?« – heult Hann, halb vor Wut, halb vor Schmerz. »Was hast du mir zu sagen? – du oll Säufer? – Nichts – du büst ja man bloß unser Bootsmann, unser Knecht.«

»So,« lacht Siebenbrod höhnisch, »dann komm noch eins her, mein Hühning.«

Wieder streckt er die Klaue aus. Hann, rasend mit weißem Schaum vor dem Mund, entgeistert von der Scham, vor seiner Dame mißhandelt zu werden, hebt einen großen Feldstein in die Höhe – und dann – der arme Junge. – Er ist kein David, der den Goliath zerschmettert.

Mit wilden, funkelnden Blicken verfolgt Line nun das sich aufrollende Bild.

Hinten auf den blauen Hosen hat Hann einen grauen Flicken eingenäht. Der glänzt jetzt in der Sonne, als er über dem Knie von Siebenbrod liegt, und gerade auf diesen Fleck prasseln die flachen Hiebe des Bootsmannes hageldicht nieder.

Immer mehr – immer mehr – bis der Schall selbst das Schlucken und Schluchzen übertönt.

»Wart, mein Hühning, wirst du das wieder tun?«

»Nein – nein,« wimmert es.

»Na, dann verbitt' dich.«

»Oh – oh – ich verbitt' – mich.«

»Na, denn 's gut – Und nu gib mich die Hand, mein Söhning.«

Hann schleicht heran und gibt tiefgesenkten Hauptes die Finger.

»Na, dann 's gut – Nu is alles in Ordnung.«

»Oh – und oh – und oh – Line – Line – hat es gesehen.«

Da steht er im Sonnenschein, mitten auf dem zertretenen Ameisenhaufen, und schluckt und zittert am ganzen Leibe. Und ihm gegenüber verharrt noch immer das kleine Mädchen und sieht auf ihn hin.

Aber merkwürdig.

Ein seltsames, irrendes Lächeln schwebt dabei um die roten Lippen.

Der graue Fleck und die hohe Rundung, wie das aussah!

Wieder möchte sie lachen. Aber dort drüben weint der Gespiele so jammervoll, daß sie unbeweglich steht und zu ihm herübernickt.

Was sie jedoch beide nicht wissen, das ist das Merkwürdige, daß dieser Eindruck unverwischlich in dem Gedächtnis des Mädchens fortleben wird, daß er andere Gefühle auszulösen berufen ist, die Hann eines Tages mehr schmerzen müssen, als die schwielige Hand des neuen Stiefvaters Siebenbrod, und daß diese Zeit nicht mehr gar so fern liegt.

* * *

Er stand und weinte.

Line lächelte.

Und Siebenbrod meinte endlich befriedigt: »Nu komm.«

Dann nahm er ihn mit.

Hann Klüth: Roman

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