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DER MORDANSCHLAG Letzte Ölung für Paul Hörbiger
ОглавлениеMan schreibt den 4. August 1921, Paul und Josepha, von ihren Kollegen »Pippa« genannt, verbringen ein paar spielfreie Tage in einem kleinen Gasthaus im mährischen Städtchen Wisowitz. Die beiden schauen einander verliebt in die Augen, als die Türe aufgerissen wird und Pippas früherer Verlobter Rudolf Dietz ins Zimmer stürzt. Er will Rache üben, weil Pippa ihn verlassen hat. Der Mann – ebenfalls Schauspieler – hat einen Revolver in der Hand, den er jetzt auf das verliebte Paar richtet. Und er drückt, rasend vor Eifersucht, mehrmals ab. Während die Schüsse, die auf seine frühere Geliebte gerichtet sind, ihr Ziel verfehlen, wird Paul Hörbiger von zwei Kugeln getroffen und lebensgefährlich verletzt. Die Lunge ist durchschossen, eine Rippe durchbohrt. Hörbiger verliert viel Blut und das Bewusstsein, und er wird – da es weit und breit kein Spital gibt – auf einer Bahre in ein nahe gelegenes Irrenhaus getragen, in dem er notdürftig versorgt wird. Man bringt ihn, sobald er transportfähig ist, ins Sanatorium Hera nach Wien, wo er vom berühmten Chirurgen Professor Albrecht auf Leben und Tod operiert wird. Als Paul Hörbiger aufwacht, steht noch nicht fest, ob er überleben wird. Da sagt er zu Pippa, die treu an seiner Seite wacht: »Bevor ich sterbe, will ich dich heiraten.«
Das Krankenzimmer wird kurzfristig in einen Trauungssaal umgewandelt. Paul Hörbiger wird sich Jahrzehnte später in seinen Memoiren an diese dramatische Szene erinnern: »Attila kam als Trauzeuge, meine schwarzen Lackschuhe in der rechten Hand, hinter ihm der Rest der Familie. Die Lackschuhe hätte ich zur Feier des Tages anziehen sollen, aber ich konnte ja leider nicht aufstehen, und so blieb das Schuhwerk am Ende des Bettes stehen. Dann trat der Priester ein, verabreichte mir zuerst die Letzte Ölung, und Josepha Gettke, stehend, und Paul Hörbiger, liegend, werden getraut.«
Während der Täter in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde, wo er einige Jahre später starb, erholte sich das Attentatsopfer Paul Hörbiger in den folgenden Wochen überraschend gut. Er kehrte im Triumph nach Prag zurück und durfte jetzt wieder seinen geliebten Liliom spielen, »wobei ich in der Sterbeszene glaubwürdiger denn je war. Ich hatte ja Übung darin«.
Bei einem Gastspiel in Aussig erlebte er eine der typischen Theaterschnurren, die Paul Hörbiger so wunderbar erzählen konnte: »Ich blieb in der Sterbeszene ›hängen‹. Obwohl ich den Liliom so oft gespielt hatte, wollte mir ein bestimmter Satz nicht einfallen. Ich legte mich Hilfe suchend neben den Souffleurkasten. Und was raunte mir die Souffleuse unter Tränen zu, anstatt mir im Text weiter zu helfen: ›Schön spielen Sie den Liliom, Herr Hörbiger, wirklich wunderschön!‹ «
Es war das Schicksal des »kleinen Bruders« Attila, dass er von Paul sehr viele Rollen übernehmen sollte. Eine der Hauptrollen in dem Schwank Charleys Tante ebenso wie den Vorstadt-Don Juan Franzl in František Langers Peripherie, den Knieriem in Lumpazivagabundus und – viel später dann – das Hohe Alter in Der Bauer als Millionär. Nur in einem Fall hat es mit der »Nachfolge« nicht geklappt – und das, obwohl gerade diese Rolle dem Attila so wichtig gewesen wäre: »Es gibt eine Rolle, die ich ums Leben gern gespielt hätte«, sagte er in einem Interview, »der Liliom war eine Traumrolle von mir. Jeder, der mich kennt, bedauert: ›Ja, du hast den Liliom nicht gespielt.‹ Meine Frau sagt: ›Also, das ist ein Verlust, den wir nie mehr gutmachen können.‹ Vor vielen Jahren sind wir beisammen gesessen in einem sehr bekannten Theatercafé hier in Wien, im Café Peyer. Da waren Molnár, Max Reinhardt, Emil Geyer, der stellvertretende Direktor der ›Josefstadt‹, meine Frau und ich, und wir haben über die Besetzung, über die Möglichkeiten des Liliom gesprochen. Und zum Schluss, vielleicht um vier Uhr in der Früh, sagte Molnár: ›Ja, das kann nur sein, wenn Hans Albers nicht in Wien am Volkstheater den Liliom spielt.‹ Was tut Gott: Hans Albers hat ihn wirklich hier gespielt, und damit war der Traum erledigt. Dann kam die Hitlerzeit, die Unmöglichkeit die Rolle überhaupt zu spielen*, und dann war ich leider, leider schon zu alt.«
Jetzt wurde schon am künftigen »Clan« gearbeitet. Auch die am Sterbebett geehelichte Pippa entstammte einer alten Theaterdynastie, ihr Vater Ernst Gettke war der erste Direktor des Wiener Raimundtheaters, ihre Mutter – die unter dem Namen Josephine Grund auftrat – ebenfalls Schauspielerin.
Im März 1922 zeigten »Pippa« und Paul Hörbiger die Geburt ihrer ersten Tochter Christl an. Wie die meisten Mitglieder der Familie wurde auch sie Schauspielerin, sie trat sogar am Burgtheater auf, zog sich aber nach dem Krieg von der Bühne zurück.
1926 drang die Kunde, dass es in Prag einen überaus talentierten Schauspieler namens Paul Hörbiger gab, bis nach Berlin. Wieder war es eine berühmte Kollegin, die ihn weiter empfahl: Else Lehmann hatte ihn als Liliom gesehen und Max Reinhardt davon informiert. Reinhardt, besessen darauf, außergewöhnliche Begabungen an seine Bühnen zu binden, lud Hörbiger ein, ihn in Berlin zu besuchen. Dort angekommen, wurde der 32-jährige Schauspieler aufgefordert, Reinhardt vorzusprechen, doch dieser weigerte sich, »wie ein Anfänger Texte aufzusagen«. Der große Theatermann vertraute daraufhin Else Lehmanns Urteil und gab Paul, ohne ihn je auf einer Bühne gesehen zu haben, einen Dreijahresvertrag.
Somit war der erste aus der Familie Mitglied des angesehensten Theaterensembles der Welt geworden. Berlin galt in den »wilden« zwanziger Jahren als Europas Kultur- und Unterhaltungsmetropole. Weltkrieg, Inflation und Rezession schienen überwunden, die Menschen wollten leben und genießen. Dies führte zu einer Periode ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwungs, das Automobil begann das Straßenbild zu beherrschen, man ging ins Kino, hörte Radio und ließ sich durch Schellacks mit Jazz, Shimmy, Foxtrott und Charleston in Stimmung bringen. Die zwanziger Jahre brachten aber auch eine Blüte für Wissenschaft und Kunst, in den Berliner Literatencafés traf man Kurt Tucholsky, Egon Erwin Kisch, Joachim Ringelnatz, Egon Friedell und Anton Kuh. Die Bühnenhäuser wurden umgebaut und durch moderne Stücke belebt, die eine neue Schauspielergeneration erforderten.
Es war die große Zeit des Max Reinhardt. Er herrschte über ein Theaterimperium und war dessen Eigentümer: In Berlin gehörten ihm das Große Schauspielhaus, das Deutsche Theater, die Kammerspiele, die Komödie, das Theater am Kurfürstendamm und das Berliner Theater. In Wien hatte er das Theater in der Josefstadt, und in Salzburg leitete er die weltweit angesehenen Musik- und Theaterfestspiele.
In Reinhardts Ensemble befanden sich damals Elisabeth Bergner, Helene und Hermann Thimig, Werner Krauß, Ernst Deutsch, Marlene Dietrich, Gustaf Gründgens, Heinrich George, Curt Goetz. Und unter all den Großen stand jetzt der in Berlin noch unbekannte Paul Hörbiger. Reinhardt konnte nicht ahnen, dass er mit diesem Engagement das erste Mitglied einer neuen Theaterdynastie an sich gebunden hatte. Denn ein paar Jahre später wird er auch Pauls Bruder Attila und dessen künftige Frau Paula Wessely in sein Ensemble bringen.
In Prag war man bestürzt, den beliebten Schauspieler verloren zu haben, gleichzeitig aber auch stolz, dass Max Reinhardt einen »Prager« nach Berlin holte. Paul Hörbiger wurde einen ganzen Monat lang in seinen Glanzrollen verabschiedet und von der Presse mit seitenlangen »Nachrufen« gewürdigt.
Am 27. Juli 1926 feierte er mit Charleys Tante seinen endgültigen Abschied von den Pragern, die ihn während seines fünfjährigen Engagements ins Herz geschlossen hatten. »Ich stand in grauen Seidenstrümpfen, gelber Stola, grünem Spitzenkleid und schwarzem Damenhut auf offener Bühne, als mich Direktor Kramer umarmte und mir unter heftigem Applaus des Publikums einen silbernen Lorbeerkranz überreichte, auf dem alle meine Prager Rollen eingraviert waren«, erinnerte sich Paul Hörbiger. In einer Loge saß Attila, der nun auch in Prag sein Nachfolger wurde.
Und der dachte sich, angesichts des Jubels, der seinem älteren Bruder entgegenschlug: »O weh, das wird einige Mühe machen, dagegen anzuspielen.«
Attila war – nach einer Saison in Reichenberg sowie kurzen Engagements an Josef Jarnos Wiener Lustspieltheater, am Kurtheater Bad Ischl und am Deutschen Theater Brünn – Paul nach Prag gefolgt. Und er übernahm nun auch dort wieder von diesem nebst dem Untermietzimmer so manche Rolle, darunter die des Leopold im Weißen Rössl. »Am nächsten Tag durfte ich lesen, dass ich ›ein vollwertiger Ersatz‹ für meinen Bruder gewesen sei, der den Leopold jahrelang ›zum Ergötzen selbst der anspruchsvollsten Theaterbesucher‹ gegeben habe. Ein andermal wurde mir gönnerhaft bescheinigt, ich sei ›genauso ein Tausendsassa wie der in Berlin gelandete Bruder Paul‹. Oder noch ärger: ›Solange die Bühne abgedunkelt war, glaubte man Paul zu hören, erkannte sogar einige seiner charakteristischen Gesten wieder.‹ «
Gekränkt, erklärte Attila Hörbiger, hätten ihn derlei Vergleiche nie. »Trotzdem freute ich mich natürlich, als mir eines Tages meine Vermieterin, Frau Pospischil, das Prager Tagblatt auf den Frühstückstisch legte und triumphierend sagte: ›So, jetzt haben wir es aber geschafft, Herr Attila.‹ Frau Pospischils Zeigefinger wies auf eine mit Rotstift angekreuzte Stelle im Kulturteil. Dort wurde eine meiner Rollen gewürdigt und zum Schluss hieß es: ›Wir können überglücklich sein, nach Paul Hörbigers Abgang diesen schönen, starken, mit herzerfreuender Frische losstürmenden Attila als Thronfolger gewonnen zu haben. König Paul ist tot, es lebe König Attila!‹ «
Und doch sollte er noch viele Jahre im Schatten stehen. War er anfangs »der Sohn eines berühmten Erfinders«, so galt er jetzt als »der Bruder eines berühmten Schauspielers«. Ja, und dann wird er auch noch »der Mann der Wessely« sein. Erst viel später ist er »kein Sohn und kein Bruder mehr«, wie es Hans Weigel formulierte, »sondern: der Hörbiger«.
Aber so weit war er noch lange nicht. Paula Wessely ist bislang nicht in sein Leben getreten. Sie ist aber drauf und dran, dies zu tun. Am 1. September 1926 entnimmt Attila Hörbiger einer Wiener Tageszeitung, dass »Paula Wessely, Mitglied des Deutschen Volkstheaters, Wien verlässt, um ein Engagement am Deutschen Theater in Prag anzutreten«.
Eine Neue also.
* Tatsächlich gab es zu Beginn des Jahres 1938 den Plan, Liliom mit Attila Hörbiger und Paula Wessely als Julie im Theater in der Josefstadt aufzuführen. Er konnte jedoch, da Molnárs Stücke nach dem »Anschluss« verboten waren, nicht realisiert werden.