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1.4 Die philosophische Bedeutung der Tragödie

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Welche Bedeutung für Nietzsche die Tragödie (und zuvor die Musik) in diesem Zusammenhang hat, ergibt sich vor allem daraus, dass die Prinzipien des Apollo und des Dionysos alleine nicht bestehen können; sie sind fundamental defizitär, wie Nietzsche in der folgenden zusammenfassenden Formulierung verdeutlicht: das Apollinische und das Dionysische sind „künstlerische Mächte“,

„die aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf direktem Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, … andererseits als rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht.“ (GT III-1, 26)

Nichtsdestoweniger gibt es doch charakteristische Kunstformen für diese künstlerischen Mächte, obwohl sie ohne die Präsenz des jeweils entgegengesetzten Prinzips nicht existieren könnten. Es sind dies die Plastik und das Epische auf der Seite ­Apollos, während der „dionysische Musiker“ und der „lyrische Genius“ Gestalten auf der dionysischen Seite der Kunst darstellen:

„Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der dionysische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichniswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Färbung, Kausalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers und Epikers.“ (GT III-1, 40)

Die Unterscheidung zwischen dem Epischen und dem Lyrischen bezieht sich in diesem Zusammenhang vor allem auf die Bedeutung des Erzählten – der Geschichte – in der ersteren Form und auf das Entstehen aus der Musik, die für die Kunstform des Lyrischen charakteristisch ist: „Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich, und zwar immer wieder von Neuem.“ (GT III-1, 44 –45) Man könnte jedoch auch sagen, dass das Epische in erster Linie die Sprache zur Beschreibung von gestalteten und gebildeten Ereignissen außerhalb der Sprache einsetzt, während in der Lyrik der Ursprung die (Sprach-)Musik selbst ist und der Klang im Vordergrund steht, weshalb sie der Musik weit näher steht – üblicherweise werden Gedichte vertont, nicht aber Romane. Nietzsche beschreibt diesen Vorgang so:

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„Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältnis zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, je nachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte.“ (GT III-1, 45)

Wir könnten uns dieses Verhältnis von Poesie und Musik so denken: wenn Beethoven ein Musikstück als ‚Pastorale‘ bezeichnet, so wird natürlich nicht beansprucht, mit dieser Musik werde eine ländliche Szene beschrieben, sondern die Beschreibung einer ländlichen Szene wird als eine mögliche verbale Haltung gegenüber dieser Musik vorgeschlagen, die selbst natürlich keineswegs von beschreibendem Charakter ist.

Die hier gemeinte Musik beschreibt also nicht, sondern führt aus sich selbst heraus zu einer – poetischen – Sprache, weshalb „die lyrische Dichtung als die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen“ betrachtet werden muss (GT III-1, 46). Der lyrische Künstler deutet also die Musik in Bildern (GT III-1, 47). Aufgrund ihrer Ursprünglichkeit ist es notwendig, der Musik „einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten“ zuzuerkennen (GT III-1, 99 –100). Nietzsche schrieb sogar, gerade dies sei die „wichtigste Erkenntnis aller Ästhetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Ästhetik erst beginnt.“ (GT III-1, 100) Deren Frage ließe sich aufgrund dieser Bedeutung der Musik deshalb auch so charakterisieren: „wie verhält sich die Musik zu Bild und Begriff?“ (GT III-1, 100) Offenbar handelt es sich hier um eine Übersetzung dessen in eine kunsttheoretische Frage, was Nietzsche auch als das Verhältnis von Dionysischem und Apollinischem beschreibt. Die Musik ist also nicht einfach irgendeine Kunst, sondern von besonderer Bedeutung, weil sie, obwohl selbst nicht sprachlich, doch eine Sprache aus sich entstehen lässt, die sich ursprünglich nicht aus einer Beziehung auf Zusammenhänge in der Welt rechtfertigt. Nietzsche spricht hier von der „Befähigung der Musik, den Mythus d. h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der dionysischen Erkenntnis in Gleichnissen redet“ (GT III-1, 103)

Aber auch innerhalb der Musik gab es nach Nietzsche in Griechenland eine entsprechende Unterscheidung zwischen einer apollinischen und einer dionysischen Form. Die apollinische Musik wird hörbar nur „in angedeuteten Tönen“ und als „Wellenschlag des Rhythmus“ – dies war nach Nietzsche vor allem die Musik der Kithara. Dagegen macht den Charakter der dionysischen Musik „die erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und die durchaus unvergleich­liche Welt der Harmonie“ aus (GT III-1, 29). Darüber hinaus ist diese Musik in erster Linie Tanz – „die

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volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde.“ (GT III-1, 29 –30) Auch innerhalb der Musik erscheint also wieder die Unterscheidung zwischen dem Rauschhaften, Undifferenzierten, Unartikulierten auf der einen Seite und dem Besonnenen, Individuierten und Artikulierten auf der anderen Seite.

Nietzsches Verständnis der Lyrik geht also davon aus, „dass die Lyrik ebenso abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt.“ (GT III-1, 47) Die Musik ist demnach von allen Künsten am fernsten der Individuierung und dem Gestaltbilden. Ist sie deshalb die ‚wirklichere Wirklichkeit‘ oder die ‚eigentliche Wahrheit‘, wie Nietzsches Formulierungen an manchen Stellen anzudeuten scheinen, wenn er etwa darauf hinweist, dass gerade die Musik sich symbolisch auf das „Ur-Eine“ und damit auf eine Sphäre „über aller Erscheinung und vor aller Erscheinung“ bezieht (GT III-1, 47)? Dies würde nur gelten, wenn wir diese Sphäre als die Wahrheit und die Erscheinung (den Bereich der ‚Bilder‘ als individuierter Gestalten) demgegenüber als ‚bloßen Schein‘ und Unwahrheit auffassen müssten.

Wir werden noch näher darauf eingehen, dass dies in Nietzsches Denken keineswegs der Fall ist; aber schon die Bedeutung der Tragödie zeigt, dass der apollinische Schein nicht das Negative ist, das einfach beseitigt werden müsste, damit das Wahre übrig bleibt, denn die Tragödie enthält bekanntlich nicht nur Musik und Lyrik, sondern auch eine zusammenhängende Geschichte, die Bedeutung für das Leben des Publikums beansprucht. Auf dieser Grundlage wird bei Nietzsche die Erscheinung und damit die empirische Welt als Ergebnis einer ordnenden, bildenden, gestaltenden und damit individuierenden – also apollinischen – Leistung auf der Basis des dionysischen Ursprungs in Musik und Lyrik aufgefasst. Die Musik wird dann verstanden als eine symbolische Darstellung des Zustandes, der dieser ordnenden Leistung vorausliegend angenommen werden muss, um überhaupt von einer solchen Leistung sprechen zu können, also als eine Darstellung im Sinne einer Repräsentation oder einer Referenz auf das, was im Reich der Ordnung, der Gestalten und damit der Individuierung anders nicht erscheinen kann.

Wichtiger als die isolierende Auffassung dieser beiden Prinzipien ist jedoch die Möglichkeit einer Vereinigung von Apollinischem und Dionysischem: „Diesen unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler ‚Nachahmer‘, und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder endlich – wie beispielsweise in der griechischen Tragödie – zugleich Rausch- und Traumkünstler.“ (GT III-1, 26) Damit sind wir offensichtlich bei dem Thema angelangt, das im Titel des Werkes ‚Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ steht. Für Nietzsche war die Tragödie – und zwar speziell die griechische Tragödie und

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hier wiederum die Werke von Äschylus und Sophokles – deshalb so wichtig, weil er darin eine Vereinigung der beiden Prinzipien des Apollinischen und des Dionysischen sah, d. h. eine Vereinigung des Bildens, des Gestaltens und der Ordnung des Individuierten mit seiner Herkunft.

Wir müssen dazu nicht eine andere Welt des Ungeordneten, Ungestalteten oder ‚Ur-Einen‘ annehmen, welche in der Tragödie zur Sprache kommen könnte. Zur Sprache könnte diese Welt schon deshalb nicht kommen, weil die Sprache die Artikulation in Sätze und Wörter erfordert, also eben jenes individuierende Bilden und Gestalten, das gerade dem Apollinischen zugehört. Wir dürfen uns also das Dionysische nicht als eine Welt vorstellen, die es irgendwo ‚gibt‘ und die dann in die apollinische Welt eingeht, wie das flüssige Glas in der Fabrik in die Form von Champagnerflaschen gebracht wird. Solche Bilder sind für ein philosophisches Verständnis von Nietzsches Schriften in der Regel nur schädlich, obwohl sie auch von ihm selbst bisweilen nahegelegt zu werden scheinen.

Es ist weit angemessener, die Bedeutung der Tragödie für Nietzsche darin zu sehen, dass er in dieser Kunstform das Geschehen der Individuierung, des Gestaltens und Bildens selbst dargestellt und deshalb erscheinend sah. Das entscheidende Element dabei ist eine Besonderheit der griechischen Tragödie, nämlich die Bedeutung des Chores und damit des Lyrischen in der Einheit mit der Musik. Die Bedeutung der Tragödie liegt also vor allem darin, dass in ihr die Musik zu Sprache und Ausdruck wurde, so dass sie etwas zu sagen begann, allerdings nicht so, dass ein sprachlicher Inhalt eine musikalische Untermalung oder Illustration suchte, sondern in dem Sinne, dass die Musik darin aus sich selbst zur Sprache und zum Ausdruck wurde. Zentral für ­Nietzsches Auffassung ist also, „dass die Tragödie aus dem tragischen Chore entstanden ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Verpflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdrama ins Herz zu sehen.“ (GT III-1, 48) Die griechische Tragödie ist also der dionysische Chor, aber nicht in einer isolierten dionysischen Welt, sondern in einer artikulierten Form, indem er „sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet.“ (GT III-1, 58)

Auch der Chor ist demnach keineswegs eine Darstellung oder Erscheinung des Dionysischen – das Dionysische kann nicht erscheinen, weil es nicht artikuliert und gestaltet sein kann ohne die apollinische Individuierung. Aber dieses Verhältnis ist im Chor der griechischen Tragödie dargestellt, während es – so Nietzsches daran anschließende Kritik – in späteren Kunstformen und vor allem in der Form des Wissens, das wir als Wissenschaft kennen, nicht mehr dargestellt werden kann. Damit, so wird die Kritik weiter lauten, handelt es sich um eine abstrakte Form des Wissens und zuvor schon der Kunst, in der das apollinische Ergebnis (die individuierte Gestalt) allein

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dargestellt werden kann, aber nicht mehr der Prozess, in dem und aus dem diese Gestalt entsteht. Nietzsches Theorie der Tragödie zeigt sich schon hier als Ansatz zu einer ‚grenzbestimmenden‘ Kritik einer bestimmten Form des Wissens, das seinen Ursprung zwar aus der Kunst nahm, aber schon innerhalb der Kunst eine Tendenz zu einem Verdecken dieses Ursprungs selbst enthält. Das Wissen der Wissenschaft und das Vorherrschen der apollinischen Seite in der Kunst hängen demnach eng zusammen.

Die Tragödie ist also keineswegs eine Darstellung des Dionysischen, Rauschhaften, ‚Ungebildeten‘ und Formlosen. Sie erscheint Nietzsche vielmehr als eine „apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen.“ (GT III-1, 58) Apollinisch ist in der Tragödie eigentlich nur der Dialog und davon abgeleitet die Handlung. Der Chor dagegen erzeugt die „Vision“ (GT III-1, 59) und stellt sie dar – während das Bild, das in dieser Vision entsteht, als individuierte Gestalt im Dialog erscheint. Erst damit wird die Vision deutlich, verständlich und schön. Entscheidend für die Bedeutung der Tragödie in Nietzsches Denken ist also nicht, dass in ihr Mythen bzw. mythologische Begebenheiten dargestellt werden, sondern dass durch die Musik und damit durch den Chor der Mythos mit einer neuen Bedeutung interpretiert wird (GT III-1, 69 –70). Die Interpretation geschieht jedoch nicht durch einen sprachlichen Vorgang, sondern nur durch die Musik, und gerade deshalb kann die Tragödie jenen Bezug zu der Darstellung des Gestaltens und Bildens selbst herstellen, welchen Nietzsche mit der „in einander gewobenen“ (GT III-1, 78) Dualität des Apollinischen und des Dionysischen beschreibt. Die Tragödie interpretiert also nicht, indem sie in die Sprache übersetzt, sondern indem sie das Sprachliche aus dem Geiste der Musik entstehen lässt.

Dass es gerade die Tragödie ist, in der eine solche Darstellung des dionysisch-­apollinischen Grundes der Artikulation in der Kunst entstehen musste, hat jedoch auch einen Grund, der sich auf den Inhalt bezieht. Allerdings weist Nietzsche darauf hin, dass dieser Inhalt in der griechischen Tragödie gerade nicht isoliert von der musikalischen Form verstanden werden kann. Das Tragische ist die Vernichtung des Individuums durch ein Geschehen, das jenseits des Individuums waltet, und das es selbst nur in Gang bringt, nicht aber verursacht. Das Tragische ist deshalb eine Manifestation des Prinzips der Musik im Inhalt der Tragödie:

„erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseits aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine

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Übersetzung der instinktiv unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird.“ (GT III-1, 104)

Der musikalische Grund der Tragödie setzt sich also durch die Vernichtung des Individuums in der Tragödie durch. Aber er könnte natürlich nicht erscheinen, würde die Tragödie nicht ebenso das Prinzip des Individuellen enthalten, das Nietzsche ‚apollinisch‘ nennt. Dass an dieser Stelle mit dem Thema des ‚Willens‘ wieder die Schopenhauersche Philosophie durchscheint, sollte angemerkt werden. Für das Verständnis der Nietzscheschen Theorie der Tragödie als Fundament, in dem wesentliche Züge seiner ganzen Philosophie zum Ausdruck kommen, ist dieser Anklang an eine ‚Willens­metaphysik‘ im Schopenhauerschen Sinn jedoch nicht wesentlich.

Nietzsche stellt der Tragödie in diesem Zusammenhang die Plastik als die eigentlich apollinische Kunst entgegen. Hier „überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung.“ (GT III-1, 104) Merkwürdigerweise spricht Nietzsche jedoch auch davon, dass auch die dionysische Kunst „uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen“ will – allerdings soll es sich dabei um eine Lust „hinter den Erscheinungen“ handeln. Wiederum sollte man beachten, dass etwas nicht schon deshalb ‚wahrer‘ oder ‚eigentlicher‘ ist, weil es sich ‚hinter den Erscheinungen‘ befindet. Es wird sich noch deutlicher zeigen, dass die Fluchtlinie von Nietzsches Denken auch dazu führt, eine solche allzu oft grundlos nahegelegte Wertunterscheidung zu kritisieren. Es ist auch nicht gemeint, dass damit eine Lust an der ‚wirklichen Wirklichkeit‘ oder an der ‚wahren Wahrheit‘ gefunden werden könnte. ‚Erscheinung‘ ist auch hier nicht als ‚Schein‘ zu verstehen, den man so schnell wie möglich abbauen müsste, um der wirklichen Sache näherzukommen. Gemeint ist vielmehr eine Perspektive auf das Individuierte, das Gebildete bzw. Gestaltete in der Abstraktion vom Individuieren, Bilden und Gestalten, so dass jenes in seinem nicht selbstverständlichen und nicht natürlichen Ursprung deutlich werden kann.

Dies wird allerdings etwas verdeckt, wenn Nietzsche etwa schreibt: „Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken – und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reißt uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus.“ (GT III-1, 105) Auch hier zeigt sich wiederum, wie wichtig es ist, sich von Nietzsches bisweilen etwas ‚romantischen‘ Formulierungen nicht dazu hinreißen zu lassen, seine Theorie über die Tragödie und die darin angelegte Philosophie der Wissensform der Wissenschaft und deren künstlerische

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Reflexion allzu sehr in einem existenziellen Sinne misszuverstehen. Dieser Aspekt ist zwar nicht vollständig verkehrt, weil er in Nietzsches Denken über die gestaltende und bildende Individuierung am Grunde des begrifflichen und dann wissenschaft­lichen Verstehen enthalten ist.

Ein solches Verstehen wird jedoch dann vollständig falsch, wenn es isoliert und verabsolutiert wird. Gemeint ist hier in erster Linie, dass alles, was entsteht, in einem Prozess des Individuierens und Gestaltens entsteht. Diesen Prozess hat es in sich, so dass es keine an sich geltende und im Sein selbst begründete Existenz besitzt. Deshalb hat es auch seinen ‚Untergang‘ in sich, d. h. es steht ihm ein Wandlungsprozess in eine andere individuierte Gestalt bevor – oder aber seine Auflösung in seinem individuellen Dasein. Das könnten wir vom einzelnen Menschen ebenso wie von sozialen Gebilden sagen; aber nach Nietzsche gilt dies natürlich auch für Begriffe, Erkenntnisse und Wissensformen, die in diesem Sinne ‚Individuen‘ und damit Ergebnisse von Gestaltungs- und Bildungsprozessen sind, weshalb auch sie ihren ‚Untergang‘ in sich tragen.

Der entscheidende Begriff in der oben zitierten Stelle ist deshalb eigentlich der von ‚Wandelgestalten‘, unter dem wir Menschen, soziale Gebilde, Begriffe, Wissenschaften und Wissensformen selbst subsumieren können. Wenn Nietzsche an derselben Stelle dann von einem ‚metaphysischen Trost‘ spricht, so ist nicht gemeint, wir hätten in der Auflösung aller festen Bestimmtheiten und Existenzen die tiefere – oder ‚höhere‘ – Wahrheit gefunden. Ihre Wahrheit hat auch die Auflösung von Individuen – auch von Begriffen und Erkenntnissen – nur zusammen mit ihrer Gestaltung und Bildung bzw. Neugestaltung und Neubildung. Der ‚metaphysische‘ Trost liegt dann eigentlich darin, dass eine Erkenntnis in der Regel durch eine neue Erkenntnis abgelöst wird und wir meistens einen neuen Begriff finden, wenn ein alter im ‚Fortschritt‘ des Denkens oder des Wissens seine Bedeutung verloren hat.

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