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2 – Orange, Rot und Gelb

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Im Gelben Meer legen Schiffe ab, die auf dem Weg nach Bremerhaven und Wilhelmshaven durchs Rote Meer und den Golf von Biskaya fahren und dabei die einstigen Routen der Südfrüchte-Dampfer kreuzen, die ehrwürdige Namen wie „Valencia“ und „Cádiz“ trugen. Auf den heutigen Ozeanriesen stapeln sich quer und längs, vom Kiel aufwärts bis zur Kommandobrücke Container auf Container: darin Markenwaren und ihre Fälschungen. Verführerisch preiswerte Produkte und technisch hochwertige Geräte vollziehen ein Stadium der Metamorphose vom Massengut zum begehrten Einzelstück im Store und Shop: stehen am Anfang der in der Obsoleszenz endenden Produktlebenszeit. Neben den geschlossenen Transportcontainern im Schiffs- und Güterverkehr sind auf dem Festland die offenen Müllcontainer im Stadtbild präsent. Einer von den unverwüstlichen Metallbehältern stand, nicht zu übersehen, unterhalb der Kantine des Paracelsus-Seniorenheims, randvoll mit Sperrmüll.

Das Gebäude, zehn Stockwerke hoch, ein unansehnlicher Betonklotz, war schon von Weitem nicht zu übersehen. Nur die an der Vorderseite gelegene Empfangshalle störte die geraden Linien, während auf der Rückseite der Speisesaal vorkragte; darunter stand das besagte Objekt. Bernhard, einem ehrenamtlicher Helfer, erschien das Eisengebilde wie eine moderne Skulptur, erschaffen zur Mahnung an die Unausweichlichkeit des Sterbenmüssens. Warum nur war einem Künstler wie Damien Hirst nicht eingefallen, den Container als Vorlage nehmend, einen vergleichbaren Sarkophag nachzubauen, mit farbigem Harz aufzufüllen und sein Werk bei der Tate Modern auszustellen und von den Kuratoren mit Bedeutung aufladen zu lassen? Beim Paracelsus war aber kein Künstler am Werk, sondern nur Gedankenlosigkeit, auch keine Platznot, denn der war reichlich vorhanden. Wie ein Denkmal der Vergänglichkeit kamen sich die alten Herrschaften bisweilen selbst vor. Zu ihrem Leidwesen ließen sich die vielfältigen Anzeichen der eigenen Hinfälligkeit weder übersehen noch tilgen, sondern waren nur abgeklärt zu ertragen. Ebenso wie das zum Gerümpel erklärte Material, das wie es kam und fiel im Container landete, das als unnütz und unbrauchbar deklariert wurde, war ihre Zeit abgelaufen. Vielleicht sahen die Bewohner den Ausblick auf die Müllsammlung ganz anders, fanden, das Heim halte auf Ordnung. Was sollten sie sich wegen einer derartigen Kleinigkeit aufregen, viel bitterer war es gewesen, das eigene Zuhause aufzugeben. Die Bewohner des Seniorenstifts konnten bei ihrem Einzug nur so viel von ihrem Hausstand mitnehmen, wie in ein Zimmer passte, das sie nicht selten mit einem anderen Heiminsassen teilen mussten. Das wurde Bernhard schlagartig klar, als er zum ersten Mal eines ihrer Gemächer betreten durfte. Dabei rechnete er die wenigen erhaltenen Erinnerungsstücke gegen das vermutete Aussehen ihrer früheren Wohnungseinrichtung hoch - das Ergebnis war erschreckend. Zwischen diesen vier Wänden würden die Greise den Rest ihres Lebens verbringen, nur noch zwölf Monate - im Durchschnitt. Denn vorher, den Erfolgen der verbesserten medizinischen und sozialen Betreuung sich verdankend, konnten sie Zuhause versorgt werden. Statistisch gesehen konnte jemand schon nach wenigen Tagen oder Wochen dahinscheiden, während andere sich an den Kursen und Darbietungen, die in großer Zahl angeboten wurden, noch weitere Jahre würden erfreuen können.

Erstaunt war Bernhard, dass es wesentlich handfester zuging als er angenommen hatte: Einige Senioren waren, wenn sich alle zum Mittagessen in der Kantine trafen, nicht mehr in der Lage, die Fassade der Höflichkeit aufrecht zu erhalten. "Verreck doch du Rindviech, warum schmeißt ihr den nicht aus dem Fenster raus, verrecken sollst du! Halts Maul!" Die Dame am Nebentisch, auch im Rollstuhl, platzt heraus: "Ich halte das nicht mehr aus, mir tut alles weh, ich bin tot." Die Opferung des eigenen Zuhauses bedeutete nicht das Ende der Zumutungen. Obwohl die medizinische Versorgung rund um die Uhr gewährleistet und hervorragend war, mussten sie sich Ablaufplänen und Dienstzeiten unterwerfen, sehnten sich nach den goldenen, vergangenen Zeiten. Das wenige Hab und Gut, das sie retten konnten, musste ständig gegen Eindringlinge verteidigt, alle Wertsachen eingeschlossen werden. Sie suchten ihr Gebiss, ihren Shampoo, ihre Pantoffel, den Rollator. Irgendwas fehlte immer, tauchte eventuell wieder auf oder auch nicht, weil es jemand verwechselt, an sich genommen hatte.

Sie hatten sich das so schön ausgerechnet, fühlte Bernhard ihnen nach, was sie nach der Pensionierung noch unternehmen wollten. Eines Tages war es vorbei, brachen die Gesundheit und das soziale Netzwerk weg, der Ehepartner verstorben, befreundete Nachbarn verzogen, der Kontakt zu den Kindern abgebrochen. Auf ihre alten Tage werden die Tattergreise mit ihnen bislang nicht bekannten Personen im Speisesaal einzig so um die Tische verteilt, dass es zu keinen lautstarken Streitereien kommt, das Gebrabbel und die Verbalattacken nicht die Pfleger und Mitbewohner an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachten. Auf der anderen Seite streckten sich Hände, bei denen die Adern mehr über als unter der welken Haut zu liegen schienen, der anderen tastend entgegen, die es im stillen Einverständnis dankte.

Bernhards Überlegungen wurden unsanft unterbrochen, denn Frau Sieverts polterte wieder los: "Wunderbar, wunderbar, leckts mich am Arsch!" Frau Arnold empört sich: "So was sagt man nicht!" "Leckts mich am Arsch", wiederholt sie unbeeindruckt und zur Bekräftigung setzte es ein "Leckts mich am Arsch" hintendrein, nur um im nächsten Satz zu fragen: "Was soll ich denn jetzt machen, was muss ich denn machen?" Ein Rätsel wie die, abgesehen von den Verbalinjurien, herzensgute Frau Sieverts mit der Leibesfülle eines Walrosses es schaffte, nicht aus ihrem Rollstuhl zu rutschen. "Essen!" Wieder die Frage: "Wie muss ich denn das machen?" Bernhard musste ein Lachen unterdrücken, dachte währenddessen: Fluchen wie ein Droschkenkutscher, aber zu doof zum Essen. Schmunzelnd und gleichzeitig verunsichert, ob sie sich mit ihm nicht doch einen Scherz erlauben wollte, klärt er auf: "Die Gabel in die eine Hand nehmen, das Messer in die andere". Er wiederholt, dass sie essen möge, das Besteck in die Hand nehmen, etwas Gemüse vom Teller mit der Gabel aufnehmen, die Gabel zum Mund führen, ihn aufmachen und wieder zumachen, kauen soll. Sie muss mal, Rappeln, wie sie mit ihren Worten sagt, aber ihretwegen wird sich niemand extra herbeibemühen, die Pfleger und Pflegerinnen liefen sich ohnehin die Hacken ab, und, es ginge gar nicht, denn Frau Sieverts trug, wie die anderen auch, eine Einlage, eine Windel für Erwachsene, die Voraussetzung für einen unbeschwerten Tag, und die wird nur morgens, mittags und abends gewechselt. Es war erstaunlich, wie die Pfleger es schafften, nicht den Respekt vor einem Erwachsenen zu verlieren, dem sie gerade die Windel gewechselt hatten, der nackt und bloß vor ihnen wie ein Säugling auf dem Rücken lag, dem sie den Po abputzen und eincremen mussten, den Schwamm in der Kinderbadewanne auswrangen. Die Menschen wurden wieder zu Kindern, gingen auf drei Beinen, wie die Sphinx von Ödipus hatte wissen wollen. Als er noch jünger war, hatte Bernhard die über Dreißigjährigen teils als Ehrfurcht gebietende Respektspersonen angesehen, teils als fremde, kaum noch zu dieser Welt gehörende Wesen insgeheim verspottet. Und jetzt kamen ihm die Betagten, obwohl bereits mit den Plagen des Alters in Berührung gekommen, sehr jugendlich vor. Die Stürme des Lebens hatten, in eben solcher Weise wie die Witterung Steinen eine einzigartige Form verleiht, auch den Ausdruck in ihren Gesichtern wach und frisch gehalten, einige Charakterzüge abgeschliffen und geglättet, wodurch andere, die im Lebenskampf mehr gebraucht worden waren, stärker hervortraten.

Frau Kuntz richtet ein Frage an Bernhard. Weil sie seine Antwort nicht versteht, hatte er seine Mitteilung in großen Buchstaben auf einen Zettel geschrieben, was aber nicht weiterhalf, weil sie den nicht lesen konnte, aber nur deshalb, weil sie ihre Brille vergessen hatte, und hören konnte sie nichts, weil das Hörgerät nicht funktionierte, weil es bei keinem Bewohner richtig funktionierte, weil niemand sich die Zeit nahm, die Lautstärke richtig einzustellen oder die Batterien auszutauschen. Gut, dass das Alter die Senioren gelernt hatte, duldsam zu sein. Einige der Verwandten und Freunde der Bewohner kamen regelmäßig, zum Teil täglich, brachten selbstgemachte Lieblingsspeisen mit. Herr Czernin, ein regelmäßig Umsorgter, wollte sich mitteilen: sich bedanken, beschweren, fragen, erzählen, einen Scherz machen, heraus kam nur unverständliches Gestammel, das nachts den Schlaf der Heimbewohner empfindlich störte, die in der Frühe erneut hochschreckten, wenn ein Schwerhöriger sein Radio auf volle Lautstärke drehte und aus unerfindlichen Gründen seine Zimmertüre öffnete. Fein gemacht für Unternehmungen, zu denen sie nicht eingeladen werden, sitzen die Pensionäre um den Mittagstisch in ihrem Sonntagsstaat, in ihren spitzenbesetzten Blusen und in ihren handgestrickten Pullovern aus früheren, besseren Tagen, alle Herrschaften gekämmt und frisch gewaschen, vor einem Speiseangebot, das keine Wünsche offen lässt, mit Suppe, Salat und Dessert, können nicht mehr gehen und sich nicht mehr erinnern. Aber ihre scheinbar erstarrten Seelen und Mienen verklären sich und sie erwachen wieder zu vollem Leben, sobald sich lieber Besuch ansagt, oder wenn jemand ein paar Sätze mit ihnen wechselt, als hätte man nur vergessen, ihnen das Stichwort für ihren Einsatz zu geben. Viele Angehörige kamen nicht, und es war zu verstehen, warum sie nicht kamen, sie sich nicht die Zeit nahmen, die Respektsperson zu besuchen, zu der sie einst hochgeschaut hatten, deren Verfall sie weder aufhalten können noch ihm zusehen wollen. Dabei brauchten sie nicht mehr zu tun, als den Alterungsprozess in seinen vielfältigen Formen zu begleiten. Es reichte aus, jemandem Gesellschaft zu leisten, wie am Bette eines kranken Kindes zu sitzen, Händchen zu halten, nach seinen Wünschen zu fragen, zu sprechen und zu besänftigen.

Wenn jemand von ihnen gegangen war, wurden die Hausmeister beauftragt, die Sterbezimmer vollständig leer zu räumen und neu zu streichen, die Putzfrauen, gründlich nachzuwischen. Dann konnte der nächste Bewohner einziehen. Das nicht verwertbare Mobiliar eines Verstorbenen, das die Erben ausgeschlagen hatten, an dem sich keiner vergreifen und bereichern wollte, wurde in den Container geschafft und lag dort nun kreuz und quer verstreut, der Witterung preisgegeben, lieferte nach dem letzten Aufflackern im Feuer der Müllverbrennungsanlage noch ein paar Minuten Strom. Neben den obligatorischen Krankenbetten mit Seitengittern, zudem Matratzen und Nachttischchen, oft noch äußerlich tadellos erhalten, tauchte einmal ein markantes Requisit auf. Bernhard traute seinen Augen nicht, als er eine knallorange Couch entdeckte, eingekeilt zwischen Brettern und Stuhlbeinen. Sein Besitzer hatte bis zuletzt abgelehnt, das seltene Stück gegen Modelle mit Stoffbezügen und einem Gestell aus Nussbaum, Eiche oder Buche einzutauschen. Das Plastic Fantastic Möbel, Symbol der Pop-Jahre, stellte ein Bekenntnis des Besitzers zu Orange dar und der mit der Farbe assoziierten Sehnsucht nach der Zeit, als im Erwerb und dem Wohlgeschmack einer Apfelsine noch die Hoffnung auf reuelosen und zunehmenden Wohlstand von einer unendlich reichen Welt steckte. Jetzt fiel das Sofa den dienstbaren Geistern der Müllabfuhr in die Hände. Vielleicht musste man es sogar als ein Zeichen der Ehrfurcht vor den Verstorbenen einstufen, dass die Hinterbliebenen Gegenstände, die sie dem Toten nicht hatten ins Grab mitgeben können, auf profane Weise opferten, also selbst Totenkult in unheiligen Zeiten betrieben.

Viele Glaubensrichtungen betonen, dass das Ende ebenso zum Leben gehöre, wie sein Anfang. Unsere Gesellschaft ließ es nicht zu, dass sich jemand mit seinem Schicksal versöhnt und lebenssatt zum Sterben in einem Heim hinlegte und versorgen ließ, wie in einem Hospiz einfach so wegdämmerte und eines natürlichen Todes starb. Jeder Versicherter war schließlich eine Goldgrube, aus dem noch eine Menge herauszuholen war, und Leistungen abgerechnet werden konnten. Es war nicht immer klar, ob die Menge der lebensverlängernden Maßnahmen dem Wohle des alten Menschen galten, oder, ob unter dem Deckmantel der christlichen Nächstenliebe zum eigenen Fromm und Nutzen eine florierende Geriatrieindustrie am Laufen erhalten wurde. Die Heimbewohner beneideten die sanft Entschlafenen um ihren leichten Tod, den sich alle auch für sich selbst, oft sehnlichst, wünschten.

Bernhard ahnte, eines Tages würde er zu erschöpft sein, um nach Hause zu gehen, sich dann in ein frei gewordenes Bett legen, seine Sachen nachholen lassen. Niemand würde etwas merken: er wusste, was zu tun war - und ihn erwartete.

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