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3 – Jede Wette gewinnt!
ОглавлениеVor noch nicht allzu langer Zeit bestand in der körperlichen Anstrengung die Hauptmühsal der Arbeit, der Bauer eingespannt hinterm Pflug schreitend, der Arbeiter 10-12 Stunden in der Fabrik sechs wenn nicht sieben Tage die Woche sich plagend, die schuftenden Frauen die Kinderschar gebärend und großziehend, die soziale Not verwaltend. Heute werden nicht mehr die Muskeln, sondern der Kopf und die Psyche zu Höchstleistungen angetrieben. Während dem geschundenen Leib nach vielen opferreichen Kämpfen das Recht auf Gesundheit und Erholung zugestanden wird, und physische Anstrengung in der Freizeit nachgeholt werden muss, weil der Körper unterfordert wird, wird nun mit unverhüllter Gewalt auf die Psyche eingedroschen: das hinterlässt keine Spuren, merken tut‘s keiner, beziehungsweise niemand traut sich zu protestieren. Zum Zweck der Produktivitäts- und Ideensteigerung war es notwendig geworden, in immer entferntere Gebiete vorzudringen, nicht Halt zu machen vor den noch den Ahnen als heilig geltenden innersten Bezirk des Menschen, von wo aus die Seele nach dem Tod ihre Reise ins Jenseits antreten sollte, das ewige Leben und das Paradies in Aussicht. Die psychischen Vorgänge, gerade eben von Sigmund Freud und seinen Kollegen dem Wissensdunkel entrissen, werden der ökonomischen Verwertungskette zugeführt und ihr unterworfen. Die neuen Bedingungen am Arbeitsplatz behagen beileibe nicht jedem, schlagen auf Magen und Nieren; Herz und Kopf kollabieren. Kein Wunder wenn die geheimsten menschlichen Regungen und unbewussten Empfindungen berechenbar geworden sind und systematisch ausspioniert werden.
Horst passte die ganze Richtung ohnehin nicht. Als Quereinsteiger bei einem Kreditinstitut, vom Arbeitsamt vermittelt, rechnete er sich keine großen Aufstiegschancen aus. Ihn interessierte an seiner Arbeitsstelle in der Verwaltung nur, wieviel Geld ihm am Monatsende blieb, damit er wusste mit welcher Summe, wie hoch oder gering sie auch sei, er auskommen musste. Er bezeichnete sich als „geheimer Revolutionär“, ein sich selbst verliehener Ehrentitel, demnach seine Leistungen für den Fortschritt nicht mit Geld aufzuwiegen waren: er empfand sein Gehalt also doch als zu niedrig. Die Zeiten waren vorbei, als die großen und kleinen Demonstrationszüge das Straßenbild und die öffentliche Meinung prägten. Mit den Protestlern schien zugleich ihr Unruhegeist verschwunden und ausgelöscht zu sein. Gleichwohl versuchte Horst seinen Prinzipien treu zu bleiben: sich nicht verbiegen zu lassen, für bestimmte Firmen nicht zu arbeiten, sich keiner Kleiderordnung zu unterwerfen, vor allem sich nicht eine Krawatte umhängen.
Wenn alle es taten, Bequemlichkeit und Konsum gegen Freiheit eintauschten, sich dem Druck der Arbeitswelt anpassten, machte es dann für Horst Sinn, aus der Reihe zu tanzen, lohnte sich sein Nonkonformismus überhaupt, nahm ihn jemand wahr und nahm ihn jemand ernst? Wenn ich schon den verpönten Schlips tragen muss, dann mit Stil, sagte er sich, seit ein zufälliger Buchfund über die Kunst des Krawattenbindens ihn in die Lage versetzte, für alle Gelegenheiten den passenden Knoten zu wählen: Christensen, Kent, Dixie oder Halbmast. Bestand überhaupt ein Unterschied zwischen ihm und den anderen? Vielleicht hatten auch seine Kollegen Prinzipien und Grenzen, die sie niemals überschreiten würden, nur eben andere. Gab es also in Wirklichkeit gar keinen Grund an der Menschheit zu verzweifeln, ihr nicht zu vertrauen? Er war nicht moralisch überlegen, nur schlechter bezahlt. Nun ja, er schaute schon auf die herab, die sich kompromisslos für die Rendite ihrer Firma ins Zeug legten, solange sie gut verdienten und Karriere machten. Das Hauen und Stechen, das einstmals und vornehmlich in der Führungsetage stattgefunden hatte, weil es dort um viel Geld und Einfluss ging, erstreckte sich mittlerweile auch auf die Bezieher kleiner Einkommen. Und, Horst zog letzten Endes seinen Vorteil aus dem Ehrgeiz der anderen, ohne es zu wollen und verhindern zu können, ebenso wie die Kollegen von seinem sozialen Gewissen: sie waren zwei Enden eines Stöckchens.
Horst hätte über die Chance froh sein sollen, die angenehme Stellung in der Finanzbranche erhalten zu haben, noch dazu in seinem Alter mit Ende 30. Er zeigte, in einem der vielen Stockwerke des Büroturms sitzend, keinerlei Zeichen von Dankbarkeit, sondern dachte verdrießlich und voller Wehmut an die alten Zeiten zurück, als er beim Arbeitsamt für einen Schülerjob in den Sommerferien anstand. Gespannt schaute er zu, welches Los die Dame vom Amt aus dem Kartei-Wunderkasten für ihn herausfischte. Er bekam, weil er groß gewachsen war, eine Arbeit beim Steinmetz. Das reichte zum Erwerb eines Mofas. Soweit zum Verbleib seines ersten Arbeitslohns, dessen Steueranteil er sich am Jahresende zurückerstatten lassen konnte; nicht zu vergessen dass ihm bei späteren Ferienjobs zusätzlich Urlaubstage und Essensmarken zugesprochen wurden: Goldene Zeiten! Seinen letzten Ferienjob verbrachte Horst bei einer französischen Firma, die Druckluftwerkzeuge herstellte; dort hatte er eine Zwischeninventur vorzunehmen. Eine obskure Konjunktur war kaum ein halbes Jahr später Schuld daran, dass die freien Stellen rar, die Schülerjobs ohnehin, geradezu gesucht wurden, was mit einem Mal die Machtverhältnisse zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zugunsten von letzteren umkehrte. Die Taktik einer Gewerkschaft, dem Tarifpartner einen zweistelligen Lohnabschluss, um den Preis eines zerrütteten Vertrauensverhältnisses, abzutrotzen, erwies sich bald als Bumerang und als Gipfel der Idiotie. Das Ende der Vollbeschäftigung verbunden mit dem Ende des automatisch wachsenden Wohlstands war gekommen. Horst begann ein Studium, bevor er sich den Herausforderungen des Arbeitsmarktes stellte; auch wäre er gerne selbstständig geworden, um sich von niemandem etwas vorschreiben lassen zu müssen. Nach vielen Semestern fand er sich in einem Büroturm, eine erste Adresse, in der ungeliebten Position eines Bankmitarbeiters wieder.
Der Alltag eines Angestellten erschien ihm als fortwährende Heimsuchung. Wo waren der Unruhegeist und der Freiheitswillen der Demonstrationszüge geblieben, die Idee der Solidarität? Als die Menschheit noch als Jäger und Sammler durch Steppen und Savannen streifte, besaß sie bei rechtzeitiger Entdeckung der Gefahr die Chance, zu fliehen und so der Begegnung mit einem Säbelzahntiger oder unliebsamen Stämmen auszuweichen. In den modernen Büros entkommt niemand mehr dem anderen. Die Steinzeitjäger hatten sich gegen die Schrecken des Eises, Höhlenbären und körperliche Entbehrungen zu behaupten gewusst. Generationen später lässt sich der stolze Menschenstamm, da keine Möglichkeiten mehr vorgesehen sind, seiner Seele Luft zu verschaffen, von übler Nachrede, Getuschel und Blicken hinterm Rücken ins Bockshorn jagen. Dem „Homo office“ blieb keine Zeit zum grübeln und zum überprüfen, ob er sich die Nachstellungen nur einbildete: „Was kann ich tun, wie mich ändern, damit ich wieder dazu gehöre?", fragte sich manch einer. Die richtige Antwort lautete: Die Anstrengungen verdoppeln und Selbstoptimierung mindestens bis zum Burnout betreiben! Selbst der kleinste Arsch im Betrieb ist verpflichtet, Horst rechnete sich dazu, unternehmerisch zu denken, ein Zustand gegen den sich frühere Geschäftsleitungen energisch verwahrt hätten. Im Zeichen der Globalisierung war nichts mehr heilig und anderes übriggeblieben als den Ideenpool aller Mitarbeiter anzuzapfen, das kam billiger als teure Managergehälter zu zahlen.
Länder, deren Bewohner man sich in Lumpen gekleidet vorgestellt hatte, in Hütten und von einer Schale Reis pro Tag lebend, für die der Ertrag der sonntäglichen Kollekte gespendet wurde, waren zu Global Playern aufgestiegen. Staaten mit denen man früher gute Geschäft gemacht hatte, was auch immer das heißen mochte, fuhren mit einem Schlitten, unterboten und diktierten mir nichts, dir nichts plötzlich die Preise, verdarben sie. Dazu kam die vermaledeite Computertechnik, im Gefolge die Digitalisierung. Die analoge Welt wurde ein zweites Mal aufgeteilt und fiel digitalen Exploiteuren in die Hände bzw. Datenbank. Es mussten zur Gewinnerzielung nicht länger in bergmännischer Manier Stollen in die Erde getrieben werden, die Datenübertragung ermöglichte mithilfe einiger Rechenkunststücke das Datamining.
Algorithmisch beschlagene Fachidioten bestimmten nunmehr die Spielregeln. Sie forderten im Namen der von ihnen entwickelten Software, zu deren Handlangern die Angestellten herabgesunken waren, höchste Effizienz, und ganz nebenbei die Unterwerfung unter das Verdikt ihres digitalen Fronherren, sich ständig über die Schulter schauen lassen zu müssen: jeder Tastendruck, jeder Datenverlauf konnte verfolgt werden, da kein Gesetz diese Praxis unterband. Programme durften eingesetzt werden, die Rückschlüsse auf Motivation, Kreativität und Leistung der Mitarbeiter lieferten. Zusätzlich wurden spezielle Firmen beauftragt, mit Hilfe von Programmieren und Linguisten die E-Mails und Datenspuren der Mitarbeiter nach auffälligen Mustern zu untersuchen, um die Wahrscheinlichkeit bestimmter Verhaltensweisen vorhersagen zu können, beispielsweise eine Kündigungs- oder Betrugsabsicht. Ein zuvor nicht gekanntes Klima der Angst war in die Arbeitswelt eingezogen, verbunden mit der Mahnung, alles zu geben und das Letzte aus sich herausholen, um der Kündigung zu entgehen. Wer nicht bereit war, noch dazu mit innerer Überzeugung, den Eid auf den Satz „genug ist noch zu wenig“ zu schwören, wer nicht hart genug gegen sich und andere war, ließ man spüren, dass er nicht dazu gehörte: für den mochten Reste-Tafeln, Psychotherapeuten und gegebenenfalls die Pietät sorgen.
Smart war Horst nicht. Die Kollegen ließen ihn bisweilen auflaufen, sodass er am Ende nicht wusste, ob er die verfahrene Situation seiner eigenen Dämlichkeit oder ihrer Missgunst zu verdanken hatte. Er erklärte sich die Verhältnisse so, dass sie ein unabänderlicher Teil der rauhen aber herzlichen Büroatmosphäre seien, die er hinnehmen müsse. Die Kollegen setzten die Kenntnis der Betriebsvorgänge, die ihnen als selbstverständlich und sakrosankt galten, voraus, während Horst, Quereinsteiger, da es ihm niemand anders erklärt hatte, seine Aufgabe so gut es ihm möglich war, erledigte. Bei den Gesprächen mittags in der Kantine sprachen die Kollegen von den aktuellen Projekten für die sie eingeteilt waren, von ihren Heimen, der Familie und ihren geliebten Hunden. Horst graute, wenn sie von ihren treuen, lieben und folgsamen Tieren schwärmten, als stellten sie ihre bessere Hälfte dar. Viele der Bankmitarbeiter waren Doppelverdiener. Sie hielten Aktien, hatten Grundstücke und Häuser und mitunter entsprechende Erbschaften in Aussicht und taten daher alles, damit der einmal erzielte Wohlstandssockel niemals abschmolz, sondern sich vergrößerte, weil sonst der Anfang vom Ende bevorstehen könnte. Damit der Zustand des beständigen Wachstums, wozu das gesicherte Einkommen bei der Bank den größten Teil beitrug, bis in alle Ewigkeit erhalten blieb, mussten alle in der Firma an einem Strang ziehen.
Erschien ein Kunde – beispielsweise ein Herr Rittner – bei ihnen und erklärte, er habe aus dem ihm ausgehändigten Anlageprospekt nicht schlau werden können, so stellte diese Behauptung geradezu eine persönliche Kränkung des Mitarbeiters dar; zumal Herr Rittner fortfährt, er frage sich, ob die Empfehlungen überhaupt jemand habe verstehen können. Diese Einleitung gebrauchend, wollte er einen kleinen Teil des angelegten Geldes, wie beim Sparbuch und dringend benötigt, schon am heutigen Tage abheben. Der Ernstfall war eingetreten. Verstanden oder nicht verstanden, darauf kam es überhaupt nicht an. Jeder seiner Kollegen war vorbereitet und trainiert, dank des hervorragenden Ausbildungswesens, durch Wiederholen der immer gleichen Floskeln den Kunden zu zermürben und mundtot zu reden. Man suchte Herrn Rittner mit sanftem und bestimmtem Tonfall die Ausweglosigkeit seines Wunsches vor Augen zu führen, der durch den Gebrauch seines gesunden Menschenverstandes zustande gekommen war, und folglich dahin hatte führen müssen, von falschen Voraussetzungen ausgegangen zu sein. Die Fähigkeit, die Logik und Eloquenz jedes Beschwerdeführers an sich abprallen zu lassen und zu ignorieren, war ein maßgeblicher Erfolgsfaktor der ganzen Branche.
Anstatt Unmögliches zu verlangen, sprach der Mitarbeiter beschwichtigend auf ihn ein, solle er sich glücklich schätzen, dass er ihn in letzter Sekunde davon habe abhalten können, eine Unbesonnenheit zu begehen. Die Tatsache und der glückliche Zufall, dass Herr Rittner gerade heute vorgesprochen habe, werde sich unweigerlich zu seinem Vorteil entwickeln, und verlange von ihm nichts weiter als Entschlossenheit sowie eine Mindestsumme, die zu beschaffen er zu günstigen Konditionen sich gerne anerbiete. Sein Institut fühle sich aus Fürsorge verpflichtet, ihm diese einmalige Occasion nahezulegen, damit nicht später der Vorwurf sein Gewissen belaste, einen treuen Kunden bei der Optimierung seines Portfolios nicht bestmöglich beraten zu haben. Im Klartext: Herr Rittner solle sein Geld den weltweiten Finanzhaien zur Verwertung anbieten! Als Herr Rittner beim Abschied seinem Anlageberater die Hand schüttelte, schnitt dieser eine derart saure Miene, dass er sich verpflichtet fühlte, ihm einige Worte des Trosts zu sagen: Er werde sich sein Angebot ganz gewiss durch den Kopf gehen lassen und überschlafen, stammelte Herr Rittner schuldbewusst und riss sich los, auch auf die Gefahr hin, dass diese Gelegenheit, die niemals wieder kommen werde, sich zerschlagen sollte. Immerhin musste er nicht, um die Mindestsumme aufzubringen, die Sparbücher seiner Töchter auflösen, das Haus überschreiben, einen Kredit aufnehmen, die Lebensversicherung kündigen und seinen Bruder anpumpen, tröstete sich Herr Rittner über den entgangenen Gewinn. Der hätte zur Voraussetzung gehabt, dass die Kurse der Wertpapiere, die andere Bankkunden besaßen und denen empfohlen worden war, auf den umgekehrten wirtschaftlichen Verlauf zu wetten, in den Keller fielen, womöglich ins Bodenlose.