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WAS BISHER GESCHAH I

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Zeit meines Lebens habe ich Pop geliebt und gehasst. Pop war hier Befreiung und da Unterdrückung, hier Explosion der Wahrhaftigkeit und dort Implosion der Verlogenheit. Pop bewahrte das innere Kind und förderte die Vergreisung, Pop rebelliert und korrumpiert. Pop konstruiert die kleinen Unterschiede der Klassen und setzt sich über die gesetzten Grenzen hinweg. Pop ist universal, regional und national; Pop macht einfach alles mit, denn es ist der Ausdruck des Kapitalismus in der Demokratie, wie es der Ausdruck der Demokratie im Kapitalismus ist. Ohne Pop würde es diese prekäre Einheit gar nicht geben, und ohne Pop wären die Spannungen zwischen beidem nicht auszuhalten. Zugleich aber reagiert Pop auf die Brüche und Widersprüche, wie es keine »Hochkultur« und keine Wissenschaft kann. Jede Erkenntnis und vor allem Selbsterkenntnis einer Gesellschaft ist in ihrem popkulturellen Sektor »irgendwie« schon da. Pop ist das Klügste und das Dümmste, was wir haben.

Irgendwann entzog man sich dem Dilemma, indem man einen Unterschied machte zwischen »Kulturindustrie« und Pop. Was hatte schließlich Frank Zappa mit Dieter Thomas Heck zu schaffen, was »Krazy Kat« mit Margarine-Rekla­me, was Woody Allen mit dem Bergdoktor? Pop sollte der dynamische Zwischenraum von Kunst und Alltagsverstand sein, Pop war auf der richtigen, auf unserer Seite, Kultur­industrie auf der falschen, der Seite der Ausbeuter und Unterdrücker. Pop war vor allem Musik und Freiheit, dann kamen Film, Comics und eine spezielle Art von Literatur. Ob Fernsehen Pop sein konnte? Vielleicht einmal aus Versehen. Pop war Aufstand und Emanzipation, Subversion und Ironie in den Traumfabriken. Pop war Veränderung, Fortschritt, Verbesserung. Mit Pop erwachsen zu werden war toll. Vielleicht auch ein bisschen schwierig. Weil Pop ja immer irgendwie jung war. Oder wenigstens gegen irgendwas Altes, Dumpfes, Mächtiges und Langweiliges gerichtet. Und gegen Kulturindustrie.

»Meint Kulturindustrie, dass alle Kultur zur Ware wird, so hebt die Popkultur das durch die Umkehrung auf, dass sukzessive alle Ware zur Kultur wird«, so beschreibt Roger Behrens diese Umkehrung. Schön wär’s! Das gute am Pop ist, dass man es sich holen muss, dass man darum kämpfen muss, dass es einem auch genommen werden kann; das schlechte an der Kulturindustrie ist, dass es immer schon da ist, dass man es bekommt, auch wenn man es gar nicht will, dass man sich ihm nicht entziehen kann. Popkultur wäre dann der Widerstand und die Selbstschöpfung der demokratischen Zivilgesellschaft (und vor allem ihrer Nachwuchs-Nicht-Organisation) gegen den Zugriff der Kulturindustrie. Das ist eine schöne Idee und hilft im Einzelfall auch weiter, im großen und ganzen aber ist es nicht so einfach.

Denn wenn es richtig ist, dass Pop eine kollektive Kultur ist, die sich vom Staatlichen und (damit) Nationalen löst, um gesellschaftlich und individuell zu werden, so ist es eben auch richtig, dass sie sich dabei dem Ökonomischen nähern muss: Pop drückt also nicht nur den Widerspruch zwischen Politik und Gesellschaft, sondern auch den zwischen Staat und Markt aus, und entsteht in ihm. Im Dreieck Staat, Ökonomie und Gesellschaft hängt Pop immer dort, wo die

stärks­­ten Kräfte wirken, und deswegen gibt es eben auch Diktatorenpop und Diktaturenpop (zwischen Nazi-Deutschland und Kim Jonguns nordkoreanischem orbis pictus, der poppiger ist als Pop je sein möchte), gibt es auch Staat-Markt-Pop (wie das Mainstreamangebot des deutschen Fernsehens) oder reinen Marktpop (der das Äquivalent eines 1-Euro-Ladens produziert, nämlich etwas, das niemand will und niemand braucht, das aber doch gekauft wird, weil es in Mengen da und immer noch besser als nichts ist).

Pop, den sich Gesellschaft (oder wenigstens ein aktiver, energetischer und bewusster Teil der Gesellschaft: also WIR) sowohl von der Politik als auch von der Ökonomie zurückerobert, ist vielleicht ein wiederkehrendes Ereignis, aber keine verlässliche Zone der Produktion. Gesellschaftlich produzierter Pop wird blitzschnell vom einen oder vom anderen Ende des besagten Dreiecks her aufgefressen, oder von beiden gemeinsam. Paradoxerweise müsste man also, was wirklich sozial an Pop wäre, sowohl vor dem Staat als auch vor der Ökonomie geheim halten oder es sonstwie vor dem Zugriff schützen. Ich vermute, dass solche Dinge tatsächlich im Pop transportiert werden, als Schmuggelware, als Subversion, als Konnotation. Allerdings: Das muss nun keineswegs in »unserem Sinne« sein. Popkultur in einem weiteren und nicht allein von UNS besetzbaren Sinne, transportiert ebenso verschüttete revolutionäre Hoffnungen wie reaktionäre Entladungen. Die mehr oder weniger fa­schis­tische Schmuggelware im Pop versuche ich seit langem aufzudecken. Vermutlich hat es wenig bewirkt?

Einen Gegensatz von Popkultur und Kulturindustrie zu postulieren erwies sich rein lebenstechnisch als Vorteil. Zugleich für Pop und gegen die Kulturindustrie zu sein, war trotzdem nicht immer leicht. Kulturindustrie war der Arsch, der alles wieder eingerissen hat, was die Hände und Stimmen des Pop vollbracht hatten, an Freiheit, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit. Im Pop waren Arbeiter- und Bürgerkinder, Männer und Frauen, Migranten und »Eingeborene« mehr oder weniger gleich; die Kulturindustrie aber teilte ihre Konsumenten sorgfältig, hierarchisch, sexistisch, rassis­tisch, klassistisch, wieder ein. Pop ist kreolisch, utopisch, liberal, Kulturindustrie ist nationalistisch, reaktionär, »faschistoid«. Das funktioniert immer so lange, als man wegen der Le­bens­praxis und wegen der Sorge um die eigene seelische Gesundheit nicht gar zu genau hinschaut. Klar ist aber: Ohne Kulturindustrie gibt es keinen Pop. Aber ohne Pop auch keine funktionierende Kulturindustrie.

Im Alltagsverstand, im Geschmack und in den Moden, in der Sprache und in den Diskursen kommt das alles doch wieder zusammen, und da ist möglicherweise ein und dasselbe »Pop-Phänomen« Teil des Problems und Teil der Lösung. Ist zugleich Befreiung und Unterdrückung. Ist zugleich Veränderung und Verhinderung von Veränderung. Das macht: Pop ist immer zugleich von Hysterie und Depression bedroht. Pop-Helden und -Heldinnen fallen so leicht tief in ihre eigenen Abgründe hinein, wie sie außer sich geraten. Es sind die Leute, die den Widerspruch zwischen Pop und Kulturindustrie am eigenen Leib aushalten müssen. Und dann müssen sie aus diesem Widerspruch auch noch »Modelle« werden, müssen Vorschläge machen oder sein, wie man richtig leben könnte, welche Haltung man zu all dem haben könnte, wie man mit dieser Scheißwelt umgehen soll. Aber dafür kriegen sie im besten Fall ja auch einen Haufen Kohle, und mehr noch: Sie kriegen unsere Liebe dafür.

Und dann… Die Verhältnisse änderten sich nicht nur im Pop. Bestimmte Orte verschwanden, von den »Beatschup­pen« über die Konzertbühnen bis zu den Clubs, in denen man mehr oder weniger Zuhause sein konnte. Oder die Kinos, in denen man sich zur Nachtvorstellung traf. Die Plattenläden und wohlig vermüllten Buchhandlungen. Comic-Läden, in denen Sammler-Nerds anderen Sammler-Nerds Fetisch-Preise für Fetisch-Ware aus der Tasche ziehen. Nicht, dass Pop einmal richtig unschuldig gewesen wäre, höchstens in ein paar Millisekunden der Kulturgeschichte. Aber was die Ökonomie mit Pop seit den neunziger Jahren macht, ist nicht mehr komisch.

Pop wurde gespenstisch, nicht bloß wegen der immer schnelleren Wiederholungs-, Revival- und Vermarktungszyklen, sondern auch, weil Pop diesen Frei- und Zwischenraum, der nur in Hinblick auf eine Verbesserung der Welt existieren kann (es lässt sich auch »Utopie« dazu sagen, oder jugendlicher Optimismus), nicht mehr herstellen konnte und stattdessen selber immer mehr fiktional wurde. Eine Simulation der Simulation der Simulation. Authentisch war allenfalls der Weg nach rechts, den immer mehr Szenen, Moden und Stile nahmen. Aber wer hatte gesagt, dass Pop auf ewig links, liberal, tolerant und kritisch sein muss?

Wäre man im Jahr 1940 eingefroren worden und in Jahr 1970 wieder erweckt, dann hätte man, wenn man Popkultur geliebt hätte, wahrscheinlich nur ausgerufen: Wow! Wäre man im Jahr 1990 eingefroren worden und im Jahr 2020 aufgewacht, und man hätte sich nach der Entwicklung der Popkultur umgesehen, dann würde man wahrscheinlich sagen: Was? Mehr hat sich nicht getan? Das, ungefähr, ist die Vorstellung, die Mark Fishers Lamento über die »Haun­tologie« des Pop zugrunde liegen. Aber dass etwas passiert hat Gründe, und genau so hat es Gründe, wenn nichts passiert oder eben, schlimmer noch, nur noch Gespenster sind, wo einst das Leben war.

Die Dialektik von Pop und Kulturindustrie findet sich in einer Idee Antonio Gramscis wieder, in der Konstruktion von Alltagsverstand und den Kämpfen um Hegemonie, und mit Gramsci will ich auch versuchen, den Beziehungen von Pop und Politik auf die Spur zu kommen. Popkultur ist unter anderem, was einst Religion war. Das heißt ein Wahnsinnsvorrat an Poesie, Phantasie und Vergnügen, und ein Wahnsinnsvorrat an Verblödung, Unterdrückung und Angst. Wenn man das eine anschaut, ohne vom anderen zu wissen, begeht man einen Riesenfehler. Aber beides geht, womit wir an Mark Fisher anknüpfen, in einen Zustand des Gespenstischen über. Neben die Eroberung des Wirklichen tritt die Entwirklichung. Pop und/oder Kulturindustrie haben nicht nur die Welt, sondern auch den Himmel und vor allem die Hölle besetzt. Sie wollen den Alltagsverstand, den sie formten, einfach nicht mehr loslassen.

Also geht es um einen Versuch, mit erhobenem Haupt durch die von Pop besetzte und von Pop beseelte Welt zu gehen. Durch eine konstruierte Welt. Und sich den Gespens­tern zu stellen. Es ist ein Versuch, ein Essay, eine Skizze, eine Sammlung von »Vorschlägen«, wie Bert Brecht so etwas genannt hätte. Hier geht es nicht ums Rechthaben oder ums Sortieren der Guten und Bösen (ein paar von den Bösen werden auch beim Namen genannt), sondern darum, auszuprobieren, wohin und wodurch man noch frei denken kann. Mit Pop. Trotz Pop.

Is this the end?

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