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II

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Unterdrückung lässt sich nur schwer erkennen in solchen Systemen, wo sie total ist. So konnte kaum ein kritischer Geist in der Glanzzeit des römischen Reiches das Imperium statt als Weltordnung als Unterdrückungsapparat beschreiben, kaum einer konnte im christlichen Mittelalter die Religion als Herrschafts- und Machtinstrument erkennen, statt als kosmologische Wahrheit (mit prekären Elementen, um die es zu kämpfen gilt, und wenn man dabei ein paar Ketzer ermorden und ein paar Hexen verbrennen muss), oder, um ein Beispiel aufzugreifen, das Michel Foucault verwendet: Die Biologie des 19. Jahrhunderts war unfähig, die Wahrheit der Mendelschen Erbgesetze zu erkennen, weil sie dazu nicht einmal die begrifflichen Instrumente hatte. Mendel sagte die Wahrheit, schreibt Foucault, »aber er war nicht ›im Wahren‹ des biologischen Diskurses seiner Epoche«.

Wenn man etwas verändern will, genügt es also nicht, eine Wahrheit auszusprechen, so sehr diese auch den Grundgesetzen von Logik und Erfahrung entsprechen mag, sondern man muss zur Konstruktion des Wahren in seiner Zeit und seiner Gesellschaft vordringen. Nun ist allem Anschein der Neoliberalismus als politisch-ökonomische Weltanschauung drauf und dran, eine solche Totalität zu entfalten, der gegenüber die Wahrheit nichts ausrichtet, weil man sich damit nicht im Wahren der Diskurse und der Bilder – nicht im Pop – befindet. Wie kann man seine Herrschaft als etwas anderes als das Normale begreifen, ob man es nun mag oder nicht, das »Alternativlose« und das auf ewig kleinere Übel? Wie das römische Imperium oder das Christentum oder dass alte biologische Weltbild, muss man auch den Neoliberalismus nicht einmal besonders mögen, um an ihn zu »glauben«, man muss nicht einmal den Namen nennen (und der Neoliberalismus ist selber, wie alle Religionen um ein Nicht-Sagbares und Unsichtbares aufgebaut) und für das, was zwischen Abscheu und Fatalismus an Energie entwi­ckelt wird, gibt es den Karneval und das Militär bzw. die Polizei.

Im Neoliberalismus, dem Imperium des Kapitals, dem kapitalistischen Totalitarismus, wird die Klassengesellschaft von ehedem in der bürgerlichen Gesellschaft nicht aufgehoben, sondern transformiert. Das Triumvirat der Eliten, die ökonomischen, die politischen und die kulturellen Eliten, hat sich aufgelöst, und nicht anders erging es ihren Objekten, euphemistisch »das Volk« genannt, besser beschrieben als das Durcheinander der Unterdrückten und der Ausgebeuteten zwischen Angestellten, Lohnabhängigen und Prekariat. Eine Klassenzugehörigkeit zum Kleinbürgertum beispielweise sagt allein nicht mehr viel aus; politischer Einfluss, ökonomischer Anteil und kulturelle Distinktion lassen sich nicht mehr synchronisieren. Naheliegenderweise erhalten Kultur im allgemeinen und Popkultur im besonderen in dieser Post-Klassengesellschaft (die zugleich eine aufgelöste und eine verschärfte Variante der Klassengesellschaft ist) eine andere Funktion. Das versprochene Ideal war es, dass sich Kultur nun in einen solch gewaltigen Selbstbedienungsladen verwandeln würde, dass sich jeder daraus holen könnte, was er oder sie braucht, um mit sich und anderen »identisch« zu werden oder wenigstens genug Spaß zu haben, um weitermachen zu können. Das hieß praktisch: Man muss es sich natürlich leisten können. Deswegen kann sich der eine auf dem hysterischen Kunstmarkt bedienen und die andere muss sich, was sie an Kultur braucht, aus dem 1-Euro-Laden holen. Nur ohne eine solche Kultur kann und darf niemand leben. Diese Welt ist im Innersten davon zusammengehalten.

Aber nicht einmal dieses ideale und zynische Modell von (Pop-)Kultur im Neoliberalismus stimmt. Denn Kulturwaren sind eben nicht nur Produkte, die man verbraucht, wie die Cornflakes aus der Schachtel mit den Spiderman-Figuren, sondern es sind Praxis-Zeichen, mit denen man mit anderen kommuniziert. Klar kann ich Chopin oder Throbbing Gristle hören, wenn sonst niemand da ist, aber die Räume, die das eine wie das andere aufmacht, sind doch immer gemeinsame Räume, und nichts kann mir etwas sagen, was nicht wenigstens imaginär auch anderen etwas sagt. Natürlich ist Pop daher immer auch ein Wir-und-die-anderen. Das Problem aber liegt genau in diesem »und«. Es kann von wütender Exklusion bis zur Lust am Vieldeutigen reichen, temporär (wir Jungen), dispositiv (wir Kenner) oder auch kategorisch sein (Nationalpop, Ultra etc.), es kann spielerisch oder militant, dynamisch oder verpanzert, offen oder geheim sein. Aber jedes noch so kleine Stück Popkultur ist gleich auf zwei Arten politisch. Zum einen, indem es eben diese Differenz zwischen den Angesprochenen und Nicht-Ange­sprochenen (den Eingeweihten oder Nicht-Eingeweihten), zwischen einem Innen und einem Außen erzeugt, im schlimmsten Fall den zwischen Freunden und Feinden, und zum anderen, indem es Teil der Alltagswahrnehmung, des alltäglichen Wissens und der alltäglichen Diskurse wird: Teil dessen, wovon man sprechen kann (im Gegensatz zu den Dingen, über die man einverständig schweigt), Teil dessen, worin man sich verständigt, was richtig, schön, vernünftig und akzeptabel ist und was nicht, Teil des Wissens, aus dem am Ende die Verteilung der Macht entsteht, als Zuschreibung oder als Akzeptanz (billigend oder in diesem eben durch die populäre Kultur erzeugten Wissen von der eigenen Ohnmacht), als Erwartung, als Hoffnung und als Definition eines Raums der möglichen Kritik.

Pop also bildet den Alltagsverstand und begrenzt ihn zugleich; und daher heißt es, wenn man behauptet, Pop und Politik seien mehr oder weniger die zwei Seiten ein und derselben Sache geworden (Pop als politisches Steuerungsmittel, Politik als popförmiges Edutainment), beides dialektisch zu trennen: Eine endgültige Verschmelzung – wie in einem Trump-Wahlkampf – findet dort ihre Grenzen, wo beides ihr Außen, ihre Wildnis, ihre Metaphysik aufweist. Pop ist zugleich Politik und die Erlösung von Politik; Politik ist zugleich Pop und die Erlösung von Pop. Ein Seitenprodukt dieser Beziehung ist: Anti-Politik und Anti-Pop. Man kann auch sagen: Gespenster-Politik und Gespenster-Pop.

Ein Erbe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Einteilung von »Hochkultur« und »Massenkultur«; in der simplen Abbildung sieht das so aus: Die einen lesen Thomas Mann und die anderen die »Lore-Romane«, die einen hören Wagner und die anderen die Zillertaler Schürzenjäger, die einen gehen ins Theater und die anderen glotzen fern. Und zwischen beiden gibt es nichts als Verachtung; es ist keineswegs so, dass nur die »Hochkulturler« die »Massenkulturler« verachten, mindestens genau so groß ist die Verachtung, die das Populäre gegenüber dem Gebildeten entfaltet; da bildet sich der Gegensatz zwischen Volk und Elite noch einmal ab. Bloß dass die »Hochkultur« eben nicht mehr dringlich an eine politische und (vor allem) ökonomische Elite gebunden ist, sondern viel eher an eine hoffnungslos veraltete, halbfiktionale und lächerliche Minderheit des »Bildungsbürgers«. Ein Bekenntnis zum »Bildungsbürgertum« ist unmöglich geworden; es ist historisch abgeschlossen, es ist der fatale Versuch, etwas besseres zu sein, es ist ein Affront gegen »das Volk«, und für die Karriere ist es auch eher hinderlich als förderlich. So wie also »das Linke« sich von einem sozialen Erfahrungs- und Handlungsort entfernt hat, um zu einem abstrakten moralischen Gegenstand von »Haltung« zu werden, so hat sich Kultur – als Medium von Aufklärung und Kritik vom Bürgertum einst modernisiert – von einem Klassenbewusstsein (und hier und da sogar Klassengewissen) zu einem mehr oder weniger folgenlosen und mehr oder weniger ausgelagerten Minderheitskult gewandelt. Natürlich kann sich auch dieser Restposten des einstigen dynamischen Bildungsbürgertums nicht »entpolitisieren« (Kultur ist eine Art Aussteigerdroge geworden), sie ließ sich aber durchaus entmachten, so wie umgekehrt der populären Kultur (»den« Medien) immer mehr der Status eines Machtfaktors in der Demokratie und Postdemokratie eingeräumt wurde. Im Gegensatz zum klassischen Unternehmerkapitalismus ist der Neoliberalismus nicht mehr auf »Fortschritt«, sondern nur noch auf Wachstum aufgebaut, und in der Hochkultur wie in der Popkultur herrscht daher schon seit geraumer Zeit fundamentale Abneigung gegen »Zukunft«. Ewige Gegenwart, ewige Wiederkehr von Regressionsschüben ist das Versprechen.

Schon in den siebziger Jahren war dem deutschen Bundeskanzler Schmidt öffentlich klar geworden, dass in Deutschland keine Regierung gegen die Bild-Zeitung möglich ist, und heute gehört es zum Grundwissen des politischen Nachwuchses, dass man ohne Fernsehen nichts wird. Diese Bewegung der Macht von der »Hochkultur« zur »Populärkultur« als Demokratisierung oder gar als Überwindung der elitären Legitimationsinstrumente der herrschenden Klasse zu feiern, ist grundfalsch. Denn einerseits sind die Fabrikationsanlagen der populären Kultur ja so fest in den Händen der ökonomischen Elite wie die bürgerliche Kultur nie war, und andererseits ist der Verzicht auf die »Hochkultur« auch nichts anderes als ein Verzicht auf Emanzipation und Fortschritt. Denn diese Hochkultur enthält unter vielem anderen auch das Archiv der Befreiungskämpfe, sie enthält die Instrumentarien der Kritik, und sie ist das Transportmittel zwischen dem Allgemein- und Alltagswissen und dem »Geheimwissen« von Wissenschaft und Expertentum. Wenn »das Volk« auf eine Kultur hereinfiele, die behauptet, man brauche nicht mehr als »Traumschiff«, Bild-Zeitung, Oktoberfest und Internet-Pornos und ein Mehr an Kultur und Kunst sei nur »elitär« und »abgehoben«, dann hätte dieses Volk alles für seine Selbstentmachtung getan. Glücklicherweise aber ist dieses Volk nur eine Erfindung von Wurstreklame und Rechtspopulismus. (Unglücklicherweise bilden sich eine Menge Menschen in sehr verschiedenen Lebensumständen genau so ihr Selbstbild.)

Populäre Kultur, also die ästhetische Materie, aus der Kulturindustrie wie Popkultur schöpfen, ist nur einerseits eine industrielle Nachfolge jener Volkskultur, die man als sekundären Code für eine Aufhebung von Lust und Ordnung hinlänglich beschrieben hat. Sie benötigt andererseits die industrielle Produktionsweise, was unter vielem anderen die Gegenwart von Maschinen und Fabriken beinhaltet, die extreme Arbeitsteilung, die Normierung, die Trennung zwischen primären, sekundären und tertiären Produzenten (Maschinisten, Erfinder und Fabrikherren), und bislang ist noch keine Traumfabrik abzusehen, in der etwa diese Teilung aufgehoben wäre: die Leute, die Musik machen, die Leute, die sie verarbeiten, und die, die sie vermarkten. Die Schauspieler, die Regisseure und die Harvey Weinsteins.

Antonio Gramsci hat deshalb stets darauf bestanden, dass man nicht nur die populäre Kultur als Produktion des Alltagswissens ernst nehme, ihre ganz eigene Semantik und Ästhetik würdige, sondern stets auch einen Dialog mit der traditionellen Hochkultur (die ja einen solchen Namen erst durch die kulturellen Klassenkämpfe erhielt), am Ende Übernahme und Versöhnung anzustreben habe. Im Pop der sechziger und siebziger Jahre schien sich eine solche Möglichkeit durchaus anzubahnen. Es war möglich, Rolling Stones und Chuck Berry zu hören, und zugleich Rilke und Marx zu lesen. Bei Bob Dylan kam das alles ohnehin wieder zusammen, und bei Frank Zappa auch, ebenso aber auch bei Andy Warhol, der den Künstler als Pop-Star gab und die Techniken von Hoch- und Massenkultur bewusst miteinander kurzschloss. Pop, Politik und »Hochkultur« verschmolzen nun keineswegs miteinander, so wenig sie das im Hades der »Klassik light« oder der »Kunst am Bau« taten, aber sie verloren ihren Hierarchie- und Distinktionswert. Desgleichen sang Aretha Franklin auch für rebellische weiße Frauen aus dem Mittelstand von Veränderung und Respekt. Man hörte Jimi Hendrix in Autowerkstätten und Universitäten; Donald Duck wurde in Kinderzimmern und Republikanischen Clubs gelesen, kurzum: Im Pop sollte Kultur ihren Klassen-, Rassen- und Gender-Charakter überwinden und in den Dienst allgemeiner Erneuerung und Befreiung gestellt sein. Vor allem, um gemeinsam Spaß zu haben.

Der Rückschlag kam viel früher, und er wurde nicht zuletzt von einer Kulturindustrie betrieben, der an einer Vervielfältigung der Märkte und an verstärkter Kontrolle ihrer primären Produzenten lag. Elvis Presley war ja noch ein in sich durchaus rebellisches Produkt dieser Industrie gewesen, aber die Beatles griffen selbst in die Produktionsmaschine ein und machten sich über die Macht ihrer Vermarktung lustig, sie ließen erahnen, dass sich Besitzverhältnisse ändern können. Und Kontrollinstanzen.

Bei Elvis Presley erinnern wir uns freilich schon an die widerwärtigsten Machenschaften in dieser Pop-Industrie, als eine von Weißen für Schwarze produzierte Zeitschrift ein »Zitat« publizierte, demzufolge Elvis gesagt haben solle, ein Schwarzer sei für ihn gerade gut genug, die Schuhe zu putzen. Natürlich hat er so was nie gesagt, aber anders als die Beatles war er nie Herr seines Materials noch seines Images. Er konnte nur der Elvis sein, den man aus ihm machte, was für seine Zeit schon eine Menge war. Dieses Beispiel zeigt, wie sehr Rassismus immer auch ein Produkt ist, das zugleich Politik und Markt bedeutet. Es ist eben nicht nur das Schuhputzerbild des Afroamerikaners, sondern auch das des weißen Rassisten ein Produkt der Kulturindustrie. Und wie alle Produkte der Kulturindustrie schöpfen sie aus einer sozialen Realität und dem Alltag, lassen sich aber nach Bedarf manipulieren.

Der Kampf war lange nicht geschlagen mit der Gegenreformation der popkulturellen Industrieprodukte in den siebziger und achtziger Jahren, er dauert, genau besehen, bis heute an und bringt auch immer wieder heroische Szenen (Do it yourself-Punk) und Einzelkämpfer hervor, die sich nicht vollständig in den Dienst der neuen, neoliberalen Populärkultur stellen lassen. Die Mainstream-Variante ist der nachdenkliche Pop-Star. Aber die eben auch politisch »gefährliche« Mittlerposition zwischen »Hochkultur« und »Populärkultur«, die ein Erobern der kulturellen Bastionen durch die Kids, die Frauen, die Arbeiter, die Dissidenten, die Nomaden und Kreolen möglich machte (oder das we­nigs­tens als utopischen Traum erscheinen ließen, was störend genug ist), dieser Schlüssel zu einem universalistischen und offenen Kulturverständnis (von Nietzsche zu den Beach Boys und zurück, und es ist überhaupt nicht ausgemacht, was von beiden »schwieriger« ist; schließlich ist egal, ob ich etwas »richtig verstehe«, wenn es keine Autorität gibt, die behauptet zu wissen, was »richtig verstehen« bedeutet), nebst der Entmachtung einer alten kulturellen Elite, er wurde aus politischen wie aus ökonomischen Gründen begraben. Denn es liegt im Interesse der Macht wie im Interesse des Profits, dass sich Hochkultur und populäre Kultur wider strikt trennen und sich anstelle des verlorenen utopischen Pop-Segments ein dezidiertes »postmodernes« Angebot setzt: Ein bisschen was von beidem. Das Pop/Hochkultur-Hybrid, das exakt dem neuen Kleinbürgertum entsprach, dem Hochkultur zu unmodern und Pop zu schmutzig war. Oder die Fetischisierung des Trash, in dem sich die postliberale akademische Jugend mit Russ-Meyer-Filmen, Motorhead-Platten und Loser-Fußballvereinen ihrer sinnlichen Qualitäten versicherte. Aber selbst dies ist schon wieder Vergangenheit. In der Welt von Helene Fischer und »Fack Ju Göthe« ist Pop im Wesentlichen bereits eine Art innere Emigration, eine Subkultur, die nun zumindest wieder darum kämpft, Begleitmusik zur Verteidigung der Demokratie zu sein. Was im übrigen verdammt nicht wenig ist.

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