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Donnerstagfrüh

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Lustlos bestückte Fred die Kaffeemaschine und wunderte sich, wie vertraut all die Handgriffe in den letzten Tagen in dieser fremden Umgebung geworden waren. Fast hätte er gedacht, in dieser ungeliebten Umgebung.

Denn zu allem Übel schlief er auch noch schlecht, fühlte sich gerädert und ausgelaugt. Als beharre das Haus auf dem Recht, ihn nicht willkommen heißen zu müssen.

Für ihn war das Beweis genug, sich damals richtig entschieden zu haben. Aber musste er sich für irgendeine Entscheidung rechtfertigen? Wem gegenüber?

Es ist schließlich mein Leben, um das es hier geht. Schon immer, stachelte er sich auf.

Er goss sich Kaffee ein, schwarz, zwei Löffel Zucker, umschloss die bauchige Tasse mit beiden Händen und bewegte sich einmal mehr langsam durch die oberen Räume. Sein Blick streifte die Einbauschränke, suchte Erinnerungen.

Sein Haar streifte den Türsturz.

Ist mir früher gar nicht aufgefallen, ganz schön niedrig diese Decken.

Ein volles Bücherregal füllte die Wand zwischen der Wohnstube und der Küche.

Eigenartig.

Langsam ging er am Regal entlang, als registriere er die Titel.

Was macht ein vergrämter Fischer, wie mein Vater einer war, mit so vielen Büchern? In einem Haus, das unten eine verstaubte Besenwirtschaft ist und oben eine Höhle für einsame Leseratten.

Vor knapp drei Wochen – mittlerweile war es der 5. Juli 2012 - war Fred auf der Halbinsel Höri angekommen. Er hatte sich in all den Jahren keine Gedanken darüber gemacht, ob sich hier etwas verändern würde. Es hatte sich alles verändert. Und gehörte nicht mehr zu seinem Leben.

Als er, begleitet vom Quietschen des Gartentürchens, die Wiese des ungepflegten Grundstücks betrat, erschien ihm das Haus - obwohl es nicht anders aussah als früher - wie eine Fehlkonstruktion. Eine Zwangsgemeinschaft zweierlei Stile aus zweierlei Bedürfnissen. Ein gemauerter, dicker weißer Ring, der allem trotzte, was einzudringen wagte. Was völlig sinnlos gewesen wäre. In dem Haus gab es nichts zu stehlen. In dem Haus wollte sich auch nichts verbergen.

Oder wollte das Haus etwas verbergen...? War das der Sinn des Erdgeschosses? War es nicht zu wenig, einer bretterverschalten, schwarz lasierten Fachwerkkonstruktion zur ersten Etage zu verhelfen? Noch dazu mit einem sich unanständig weit auf den See hinausbeugenden Balkon, der die ganze Breite des Hauses dominierte.


Aus dem Bücherregal griff Fred ein Fotoalbum, aus seinem Wäschestapel kramte er einen weichen Pullover. Der breite Fenstersims, auf dem sich sonst Zimmerlinden und Geldbäume den Platz an der Sonne streitig machten, diente ihm als Kleiderablage. Drei Stapel hatte er aufgebaut: weiße T-Shirts und Hemden, einen Haufen Unterwäsche und ein Stapel, der keiner war: zwei dünne Pullover, grün und blau. Die Hosen hingen ordentlich – soweit das ohne Kleiderbügel ging – über einem Sessel. Eine schwarz-weiße Pepitahose, die ihn auch hier zum Koch machte, zwei dunkle Leinenhosen, je eine schwarze und braune Lederhose.

Fred war kein Jeanstyp, ja er hasste dieses „uniformierte Allerweltsoutfit“. Sein Freund Paul war da ganz anders. Der wurde bei guten Jeans, die gerne über 250 Euro kosten durften, gerne schwach.


Warum leg ich mir nicht einfach ein Kissen unter den Hintern und mach es mir auf der Fensterbank bequem? Der Blick von hier oben ist auch nicht zu verachten.

Fred hatte immer noch keine Lust, sich großartig zu etablieren – nur nicht das Gefühl aufkommen lassen, man könnte sich hier einnisten, womöglich sogar wohlfühlen. Faul schlurfte er mit seinem Päckchen die Treppe runter in die Wirtsstube. Warf achtlos das Fotoalbum auf einen Tisch und zog den Pulli über – obwohl... er hätte einfach nur vor die Tür treten müssen, schon würde er merken, wie angenehm warm dieser späte Vormittag war.

Morgen um drei wird Jure-Gunnar endlich das Testament eröffnen, endlich Freitag.

Fred nannte Gunnar von Falkenstein nur noch Jure-Gunnar. So wie er ihn in den letzten Tagen erlebt hatte, konnte er ihn nicht mehr ernst nehmen.

Diese Tage, diese verdammten Tage hoffte er irgendwann aus seinem Gedächtnis streichen zu können. Er lebte einen bizarren Traum, in dem sogar der Notar eine surreale Rolle spielte. Er wollte endlich aufwachen und wenn es sein musste, vor Schreck aus dem Bett fallen. Das natürlich in seiner Wohnung in Bacharach zu stehen hatte. Dann würde er auf dem Boden sitzen, über sich lachen und schreien und lachen. Würde sich in den Arm zwicken, feststellen, was wirklich war und sich über seine Phantasie wundern.

Aber noch war er hier, allein, phantasielos. Alter Staub und frische Putzmittel.

Ein großes Haus, ein toter Vater, unruhige Nächte, eine stumme Stube. Alles leider echt, kein phantasievoller Traum.

Fred stand zwischen den Stühlen, betrachtete wieder einmal den Raum und stützte sich müde auf den Tisch. Der sich keinen Millimeter bewegte. Solide Arbeit. Die Eckbank umklammerte den Raum wie ein dickes ‚U’ und war für die Ewigkeit gebaut. Eiche mehr als rustikal. Ebenso der schmale Tresen links an der Tür zur Stube. Der Tisch in der linken Ecke war größer als die beiden anderen an der rechten Wand.

Sicher der Stammtisch, mit Vorzugsblick zum See. Mehr als 20 Leute waren hier bestimmt nie drin.

Schmale Stühle mit offenen Lehnen, die den Männern den Schweiß des Tages aus den Kitteln zogen. Über den Tischen hingen schmiedeeiserne Lampen mit gelben Glasschirmen. Zur Zeit des alten Keller verbreiteten die sicher ein Licht, das die gemütliche Wirkung des Raumes noch verstärkt hatte.

Von der Fred momentan nichts spürte. Müde setzte er sich, müde betrachtete er das Album.

Was waren die siebziger Jahre bloß für eine Zeit? Geschmacklos ohne Ende, wie das Fotoalbum.

Ein Album, verpackt in pastellfarbene Seifenblasen im Stil der Flower-Power-Jahre. Ganz anders das Hochzeitsfoto der Eltern. Perfekt inszeniert, brav und bieder. Ein steifes, honoriges Zeugnis aus dem Jahre 1969, in zeitgebleichten Farben.

Mamas Haare sehen aus, als könnte sie mit der taftgefestigten Betonfrisur schadlos jede Mauer durchbrechen. Und Vater macht ein Gesicht, als denkt er darüber nach, wie er die Mauer wieder heil bekommt. Was dachte er bloß, als er sein Sterben vorbereitet hatte?

Kann man sein Sterben vorbereiten?

Wie viel Zeit hatte er sich dafür genommen...

Kann man Zeit irgendwo wegnehmen?

...zu planen, mich drei Wochen hierher zu zwingen, und ich kann nix dagegen machen?

Er blätterte weiter, und mit jeder Seite wuchs der Zorn auf seinen Vater.

Fred spürte nicht das Glück in den Familienfotos. Sah nicht den strahlenden Vater, der bis weit in die Siebziger Jahre immer zufriedener wurde. Schnappschüsse im Boot auf dem See, abwechselnd mit Netz, beide bei der Arbeit. Bilder am Haus, die Mutter hing nicht die Wäsche, sondern die Netze auf. Dann wieder eine Jahreszahl, mit Buntstiften geschrieben, liebevoll ausgemalt: 08.08.1976, seine Geburt. Fotos im Krankenbett, die erschöpfte Vrenie, der stolze Konrad mit dem Baby auf dem Arm, er streckte es dem Fotografen entgegen. Dann ein Foto zuhause am See, im weißen Rahmen, mit Bleistift das Datum: 20. August 1976.

Wahrscheinlich mein erster Seeblick.

Es war ein Bild voller Zärtlichkeit. Fred betrachtete es wie alle Fotos, als suchte er krampfhaft etwas, als wollte er die Zeit analysieren. Oder recht behalten mit seinem negativen Blick auf den toten Vater, der in jedem dieser Bilder eine Fred fremde Geschichte erzählte. Er wollte sie nicht erkennen.

Keine zwei Wochen war er alt auf dem Foto, seine Mutter drückte ihr Gesicht an seines, sie strahlte und schaute verträumt zum See. Zwei Schritte hinter ihr stand sein Vater, die zu großen Hände im Overall versteckt. Ein schmaler Typ, braune glatte Haare, mit 32 schon ausgeprägte Geheimratsecken und dem Ansatz eines Bierbauchs.

Viel ausdauernder betrachtete er seine Mutter. Ihr schmaler Kopf wirkte durch die ins Gesicht hängenden dunkelblonden Haare noch zierlicher. Schön und zart sah sie aus, war auf dem See ihrem Mann trotzdem ebenbürdig. Ihr Gesicht, ihre Augen sprachen eine sanfte Sprache, das Kinn war schmal und etwas spitz, die Augen grün und klar und – sie hatte eine Stupsnase.

Fred schaute genauer hin.

„Na Mama, für Deine Nase würden heutzutage einige Frauen ´ne Menge Geld hinlegen.“


Ferdinand Beißwanger war kurz im Paradies. Konnte es aber mit unnachahmlichem Geschick vermeiden, in die Wohnung namens Septembersuite ziehen zu müssen. Eine Wohnung in einem anonymen Hochhaus – das ging gar nicht. Da half es auch nicht, daß der Wohnblock in besagtem Paradies-Viertel stand, das ein Zentrum seiner Recherchen war. Allerdings in einem sehr schmalen Zeitkorridor. Beißwanger interessierte sich für Konstanz und seine an der Stadtmauer klebenden Viertel ausschließlich von 1414 - 1418. Und es ging ihm ausschließlich um das Konstanzer Konzil. Anfangs.

Es zog ihn mitten in die Stadt. Bis November würde er dann lieber bescheiden in der Hüetlinstraße wohnen, wo ihn sein Verleger untergebracht hatte.

Die Vermieter priesen den Wohnraum zwar als Appartement, aber Beißwanger bestand darauf, es Wohnung zu nennen - mit kleinem Bad und noch kleinerer Küchenzeile. Ihm reichte das vollauf. Seine zehn Teesorten fanden Platz und morgens holte er sich unweit vom Haus zwei Croissants und eine Tageszeitung. Als glückliche Fügung wertete Beißwanger außerdem die Tatsache, dieses zartblaue Haus sei zu Zeiten des Konzils gebaut worden.

Was wollte er mehr?

Er lehnte am offenen Fenster und betrachtete das ebenso alte grüne Haus auf der anderen Straßenseite. Die Luft war warm und er genoss in tiefen Zügen den lauen Abend - und seine Gedanken, die ihn heftig umtrieben. Er spürte den Hauch Feuchtigkeit vom See, die eine Brise von der Hafenmole herüber trug. Hin und wieder drang Musik aus vorbeifahrenden Autos nach oben, viel konstanter war allerdings das Gerede der Grüppchen, die an seinem Haus vorbeiliefen, irgendwoher kamen oder irgendwohin gingen. Es war halb zwölf am Abend und Ferdinand Beißwanger arbeitete sich noch immer durch seine Bücher.

So spät in den Gassen des späten Mittelalters zu wühlen war für Beißwanger ungewöhnlich. Er fühlte sich einem geregelten Tagesablauf verpflichtet, war Frühaufsteher und wusste sehr wohl die Pflicht von einem entspannten und verdienten Feierabend zu trennen. Schließlich hatte er noch drei Monate vor sich, um seine Recherchen zum Konzil in ein sachkundiges und pointenreiches Manuskript zu verpacken. Es war aber auch ein ungewöhnlicher Tag.

Er dachte über diesen Tag nach, ließ ihn Revue passieren, ebenso präzise, wie er sich vorstellen konnte, in welcher Enge und mit welchem Geschrei das Marktgeschehen zwischen Hofhalde und Oberem Münsterhof um 1414 ablief.

Beißwanger hatte von einem Konstanzer Verlag den Auftrag bekommen, zur 600-Jahr-Feier des Konstanzer Konzils 2014 eine Jubiläumsausgabe zu verfassen. Das ehrte ihn sehr, verschaffte ihm aber auch eine nicht vorauszusehende Menge an Arbeit. Richtig, er war im Mittelalter zuhause, aber von 1414 bis 1418 war eben eine lange Zeit und die mit plötzlich 70000 Bürgern aus allen Fugen platzende Stadt ein schier unerschöpflicher Brunnen.

Der Verlag hatte ihm erlaubt - Beißwanger fand es eher verpflichtend - drei Artikel bis zur Buchveröffentlichung zu verfassen, die in der regionalen Presse auf das Konzilsjubiläum hinweisen sollten. Natürlich würde es sich nicht vermeiden lassen, die zugehörige Jubiläumsausgabe des Verlags anzukündigen. Beißwanger war das unangenehm, das zu erwartende Zusatzhonorar schmälerte aber seinen Widerstand ebenso wie seinen Hang zur Bescheidenheit.

Die Prozession der stolzen Fürsten und unnahbaren Gottesmänner durch die Straßen, das Ehrfurcht einflößende Glockengeläut über allen Dächern verknüpfte er mit dem zugehörigen Glanz, beschrieb die prächtigen Gewänder und erläuterte die politischen Querelen unter den vielen weltlichen und kirchlichen Herrschern. Für das Treiben, die Vielfalt an den Markständen fand Beißwanger Worte, die den Leser fast den Gestank und den Lärm spüren ließen, die aus den Gassen zum Münsterplatz drängten. Die Stadt war berstend voll.


Nach den Lehr- und Wanderjahren als Koch hatte es Fred nach Bacharach am Rhein verschlagen, also wieder ans Wasser. Unterbrochen von diesem notwendigen Übel Wehrdienst, den er in einer Gegend verbrachte, die nicht gerade mit landschaftlichen Reizen glänzte. Grafenwöhr. Oberpfalz. Klang und war beides einfach nur schrecklich.

Wie anders war der Rhein. Er zog die Menschen an, und sie ließen sich gerne nach Bacharach ziehen. An einen Ort, den vom Frühjahr bis zum Herbst weit mehr Touristen durchpflügten, als Bewohner gezählt wurden. Schmale, kopfsteingepflasterte Gassen, die von manchmal zu pittoresk renovierten Fachwerkbauten gesäumt wurden. Rot bemalte Fassaden verputzter Steinhäuser, geschichtsträchtige Ruinen in Sichtweite, efeu- und weinlaubbedachte Terrassen. Dem folkloresüchtigen Besucher wurde Geschichte quer durch viele Jahrhunderte geboten - der alle paar Meter ausgeschenkte Wein würde sie schon verdaulich machen.

Freds guter Ruf - zumindest was die Küche seiner Gaststätte „Zur guten Mahlzeit“ anging - verbreitete sich wie die Nachricht vom Sieg über die Reblaus. Als er das Lokal übernommen hatte, sprachen zwei Gründe für den Erhalt des Namens, den er etwas abgegriffen fand: erstens tauchte der Name in allen überregionalen Internetauftritten des Gaststättenverbandes auf und zweitens thronte er unübersehbar über den vier Fenstern, die die komplette Hausbreite dominierten. Es muss vor langer Zeit gewesen sein, als die Fassade mit einem geschickt gewählten Ockerton gestrichen wurde. Mittlerweile war schwer festzustellen, was Farbe und was Alterspatina war.

Das Thema Namensänderung war also vom Tisch, bevor die erste Suppe serviert wurde.

Von heut auf morgen sollte ihm dies allerdings nicht gelingen.


„Wo find ich denn den neuen Besitzer dieses Dornröschenschlosses?“

Fred schaute von seiner leeren Bierflasche auf, in deren braunen Schimmer er sich vertieft hatte. Er saß an einem Gartentisch inmitten seines verwilderten Innenhofes, gab dem Störenfried innerlich Recht, wollte aber seine Ruhe haben.

„Warum?“ Wie der Chef sah er grad wirklich nicht aus. Neben seinen auffallend großen Händen lagen Block und Stift. Die dunkelbraunen Locken waren durchwirkt von Zementstaub und Holzwolle. Insgesamt also eher die Erscheinung eines relativ großen, relativ trainierten Bauarbeiters in abgewetzter Cordhose. Auffällige grüne Augen, ein klarer Blick - der Kerl konnte sicher eine Mauer ohne Lot hochziehen. Dachte der Fremde. Aber im Moment saß Fred eher da, als hoffte er darauf, daß ihn das Gestrüpp allmählich überwuchern würde.

„Weil ich ihm mein Beileid aussprechen möchte. Hast für mich auch ´ne Flasche? Ich zahl sie auch, keine Bange.“

Fred erhob sich tatsächlich, überlegte es sich anders, setzte sich wieder und machte mit der Hand eine fahrige Geste. „Selbstbedienung.“

Mit zwei Flaschen kam der Störenfried zurück an den Tisch. „Darf ich?“

„Heute ist Ruhetag“, entgegnete Fred nur. Der Fremde holte sich einen Stuhl und setzte sich in gebührendem Abstand zum Nörgler an den Nachbartisch. Er wollte nicht unhöflich sein - aber neugierig schon. Fred schaute ihn an, aber genauso gut hätte er den Ranken an den kaum mehr sichtbaren Mauern zusehen können, wie sie wuchsen.

„Ich will ja nicht wirklich stören. Aber vielleicht kann ich helfen.“ Mit einem ‚Plopp’ öffnete er die Bierflasche, trank sie halb leer und klemmte sie mit einem genießerischen „Aaaah“ zwischen die Beine.

Fred ließ den Fremden warten.

„Hier läuft alles bestens. Nur die Putzkolonne hat mich versetzt.“

Sein Gegenüber gab nicht auf. Freundlich streckte er dem Einsilbigen die Hand entgegen. „Paul Anker, Architekt. Ich habe Kontakte zu Handwerkern jedweder Couleur. Und das mein ich auch so.“ Dabei lachte er derb über seinen eigenen Witz.

Architekten duzen wohl jeden, dachte Fred, musterte den Typen skeptisch und drückte die angebotene Hand. „Fred Keller, Pächter. Ich habe Kontakte zu einer guten Brotzeit. Und das mein ich auch so.“

Während Paul sich über eine dicke Scheibe roten Pressack hermachte, schilderte Fred kurz seine Pläne. Das Lokal war in einem Zustand, der dem des Gartens ähnlich war. In den Fugen der Küchenfliesen klebte das Fett der letzten Jahre, die zwei Gasträume rochen nach Zeiten, als in Wirtschaften noch geraucht wurde und verlangten danach, behutsam aber gründlich modernisiert zu werden. Fred schilderte seine Pläne ziemlich detailliert, aus seinem Leben erzählte er aber nahezu nichts.

Trotzdem entwickelte sich hier in diesem Garten ihre Freundschaft und es war nicht Fred Keller, sondern Paul Anker, der von Anfang an eine Nähe ermöglichte, die in den folgenden Jahren immer intensiver wurde. Seine schnoddrige Art ließ sofort vergessen, daß Paul eher einem aalglatten Banker glich, der seine blonden Haare mit viel Gel in Form halten musste.

Zu guter Letzt hatte es doch geschlagene drei Wochen gedauert, bis die erste Suppe aus dem Topf geschöpft wurde. Eine Rundumsanierung wie Paul sie geraten hatte, konnte und wollte sich Fred nicht leisten. Der Besitzer war auch nicht gerade jemand, der zum damaligen Zeitpunkt großes Vertrauen in sein Gasthaus gesteckt hätte – geschweige denn Geld. Die Küche keimfrei und ansehnlich zu bekommen, war schwieriger als erwartet, aber Pauls Truppe war ihr Geld wert.

Die Wirtsstuben schmückten helle Vorhänge, die wenigen, rau verputzten Wandstücke schimmerten zwischen den Fenstern pastellgrün, der Rest war weiß. Auf einigen alten Bodenfliesen, die zwischen Braun und Grün changierten, hatten sie Überbleibsel von Jagdmotiven, Fährbetrieb und Weinlese frei geschrubbt. Diese Betriebsamkeit zu seinen Füßen betrachtete Fred als gutes Omen und war zuversichtlich, sein Lokal in ein fruchtbares Refugium verwandeln zu können.

Mit straffer Hand trieb Fred sein Personal durch die Saison. Die Löhne waren knapp bemessen, aber gerade zuviel, um sich zu beschweren. Der Umgangston war trocken, was aber keiner aus der Belegschaft persönlich nahm – bisher hatte niemand Fred Keller mit einem Bekannten oder gar einem Fremden in einer besonders freundlichen Gesprächssituation erlebt. Die Schlagzahl war hoch, das Personal hatte freundlich zu sein, auch wenn noch so viele Teller mit paniertem Saumagen und hausgemachtem Kartoffelsalat aus der Küche in den historischen Innenhof getragen werden mussten.

Fred liebte es, abwegige Gerichte anzubieten. Einerseits bescherte ihm die Einfältigkeit der touristischen Vorlieben eine unkomplizierte Essenskalkulation, andererseits nervte es ihn, ja, beleidigte seine Kochkünste, wenn nur etwa 20 Prozent der Gerichte seiner sowieso kleinen Speisekarte bestellt wurden.

Es war also schwer zu sagen, ob ihn Bosheit dazu trieb, seinen Gästen die üblichen Klassiker völlig verfremdet vorzusetzen. Eine Zeitlang servierte er zum Beispiel frittiertes Schnitzel - in schmale Streifen geschnitten - mit Stäbchen. Wurde unverhofft zum Renner bei Asiaten und weiblichen Kegelgruppen. Die waren verrückt nach Streifenschnitzel und besuchten ihn nur deswegen. Rheinischer Sauerbraten kam in Rouladenform auf den Teller, gefüllt mit Rosinen und Armagnacpflaumen. Die unentbehrliche Soße konnte der Gast unbegrenzt aus einem rechaudbeheizten Fässchen zapfen. Eine Idee, um die ihn einige Kollegen aus dem Gaststättenverband beneideten.

Irgendwann machte sich das Herz bemerkbar, nach Freds Meinung mehr als nötig. Sein Arzt hatte ihm einen unausweichlichen Herzinfarkt, „wenn nicht sogar einen Schlaganfall“ versprochen, wenn er nicht sofort damit aufhörte, literweise diesen stark gebrühten Kaffee in sich hineinzuschütten, als wäre es Leitungswasser. Er sah Doktor Günther förmlich vor sich stehen: leicht nach vorn gebeugt, die Hände - damit sie nicht ständig beschwörende Gesten vor Fred in die Luft malten - die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Doktor Günther meinte es ernst.

„Trinken Sie gefälligst Tee!“ Als ob das automatisch zu einer gemäßigten Lebenshaltung führte. „Teetrinker sind gemütlichere Menschen“.

Verdammt nochmal! Was denkt der eigentlich? Ich bin 35, mein Laden brummt und ich bin topfit.


Das war vor drei Monaten.

Okay, bin momentan etwas wackelig auf den Beinen, aber ist das ein Wunder? Es stirbt einem doch nicht alle Tage der Vater weg. Und dieses schreckliche Haus, dieses Haus will mich wohl unter die Erde bringen.

Mit dem schwelenden Kaffeedampf verteilten sich Freds Gedanken im Raum.

Die Muttererde. Hatte Vater immer gesagt. Soweit wird´s nicht kommen. Den Gefallen tu ich dir nicht, mein Lieber. Reicht schon, daß du Mutter auf dem Gewissen hast.

Fred musste seinem Arzt Recht geben. Ganz munter fühlte er sich wirklich nicht. Schlief fast jeden Tag bis mittags und gönnte sich lange Ausfahrten über den Bodensee, zumindest über den schmalen Ausläufer vor seiner Tür. Das reichte. Saß gerne im Garten, einfach so, geradeaus schauen – um sich leider oft zu ärgern, weil er sein Hirn einfach nicht ausschalten konnte.

Irgendwann wurde ihm langweilig, da fing er eben an, die Wirtsstube zu putzen, die hatte es wirklich nötig. Wischte Staub vom Mobiliar, das genauso gut im Lager eines Gebrauchtmöbelladens stehen könnte. Der Staub hing an den Tischen, er klebte nicht nur durch die Bier- und Weinspritzer an den welligen Oberflächen, er gehörte dazu, wie aus lieber Gewohnheit. Der Gewohnheit, seit mehr als langer Zeit wieder und wieder von den gleichen Leuten die immer gleichen Geschichten zu hören, gewollt oder nicht.

Wann fing es wohl an aufzuhören?

Daß keine Geschichten mehr zu hören waren, weil sich einfach niemand mehr finden wollte, der hinreichend abgestumpft oder dem Wirt freundschaftlich genug verbunden war, kostbare Feierabendzeit beim mürrischen Konrad zu verbringen. In den Ritzen der gescheuerten Tische versickerte kein Tropfen Selbstgebrannter mehr, kein raues Lachen drückte die Nikotinschwaden gegen die gekalkten Wände, keine abgegriffenen Schafkopfkarten, die gewinnsüchtig auf den Tisch geschmettert wurden, als könne schon allein die bessere Schlagkraft den gegnerischen Reizer beeindrucken.

Nach achtzehn Jahren ohne familiären Kontakt konnte Fred Keller nicht ahnen, wie alltagsuntauglich sein Vater gewesen war. Wie er jede Begegnung minimierte. Nur mit niemandem reden, sich nicht erklären. Als wäre jeder Satz eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem Leben.

Konrad Keller war allein.

Fred konnte nur das beurteilen, was sein Vater zurückgelassen, hinterlassen hatte. Je mehr er über ihn nachdachte, umso mehr beeindruckte ihn die Art und Weise, wie er es geschafft hatte, die Zeit nach seinem Tod zu organisieren. Überraschend strategisch war er vorgegangen, hatte Vorgaben gemacht, Bedingungen gestellt.


„Einundzwanzig Tage hat mein Sohn Alfred in seinem Elternhaus, auf seiner Muttererde zu verbringen. Erst nach dieser Zeit wird am einundzwanzigsten Nachmittag um 15 Uhr das Testament durch den Gemeindenotar eröffnet. Im anderen Fall wird die Erbschaft als nicht angenommen betrachtet und alle eventuell noch vorhandenen Güter einer an anderer Stelle näher bezeichneten Stiftung zugeführt.“


Das Einschreiben hatte Fred in der Küche seines Lokals „Zur guten Mahlzeit“ erreicht. Er war beschäftigt, wie immer, als der Bote mit dem Brief kam. Er las den Brief. Er las ihn ein zweites Mal. Dann erst war es soweit. Er brüllte durch die volle Küche – es war ein Wunder, daß nicht jeder, der etwas in der Hand hielt, es einfach vor Schreck fallen ließ.

Kurz und bündig wurde er aufgefordert, sein bisheriges Leben so ganz ohne Vorwarnung zu unterbrechen und eine Reise anzutreten, die ganz und gar nicht, wie man glauben könnte, ins Ungewisse ging. Im Gegenteil.

Fred war sich sehr sicher, daß keine Freude in ihm aufkommen würde, wenn er nach all den Jahren Höriboden unter seinen Füßen spüren würde. Er hatte einfach keine guten Erinnerungen zurückgelassen, auch keine guten mitgenommen. Kontaktlos, gedankenlos, lieblos, so könnte man die familiäre Bindung in den Jahren zwischen Rhein und Bodensee benennen. Das Wasser, war nicht das Wasser das einzige Bindeglied zwischen Vater und Sohn? Die Richtung des Flusslaufs der einzige Hinweis, wer sich anzunähern hatte? Fred hatte bisher keinen Gedanken daran verschwendet, aber wenn überhaupt, hatte sein Vater Kontakt aufzunehmen.

Und wenn es um den Preis des Lebens wäre...


Freitagfrüh

Freds Freitag begann mit einer Galileischen Erkenntnis. Er konnte sich wegen heftiger Nackenschmerzen kaum bewegen, beobachtete also hilflos das Treiben um sich herum. Die Erde, zumindest ein winziger Teil in Gestalt seines momentanen Schlafraumes, drehte sich. Bewegte auf elliptischen Bahnen Regale und Deckenlampe, die willkürlich die Richtung wechselten, um ein imaginäres Zentrum, das offensichtlich er bildete. Sein Schwindel wurde dadurch nur stärker, die Frage nach dem ‚warum’ nur größer, obwohl sie sofort beantwortet wäre, wenn er nur leicht nach rechts zur Vitrine mit dem Plattenspieler geschaut hätte.

Eine Schnapsflasche fiel ihm auf - sicher selbst gebrannter - als er trotz großer Müdigkeit, neugierig, wie mit Fingerspitzen tastend, seinen Blick an der Bücherwand entlang streifen ließ. In einer Reihe häuften sich Buchrücken mit Titeln, die Fred an diesem Ort ungewöhnlich fand. Fachbücher über Neurologie, Psychometrie, Konservierung von Düften, Botenstoffe im Gehirn wechselten sich ab mit Jules Verne, Einstein und Hegel.

Er wünschte sich nicht noch so eine Nacht, oder war es schon die dritte? Eine Nacht entspannt schlafen, ohne von Träumen geplagt zu werden, an die er sich am nächsten Morgen sowieso nur schemenhaft oder gar nicht erinnern konnte. Einmal morgens aufwachen und im Laufe des gemütlich vorbeiziehenden Tages am Abend verdiente Müdigkeit spüren. Er sehnte sich nach seinen Dachfenstern in Bacharach, die ihm in sternenklarer Nacht Ausblick gönnten, ohne Einblick zu gewähren. Wie er glaubte.

Auf seinem Bauch drückte der schwere Bildband mit populärwissenschaftlichen Erläuterungen der Relativitätstheorie im Allgemeinen wie im Speziellen. Auf hochwertigem Glanzpapier gedruckt, ruhte das Buch auf Fred wie die exklusive Zeitung eines Obdachlosen unter der Rheinbrücke. Als versuchte es notgedrungen, ihn vor der kühlen Nacht zu schützen. Vorsichtig, ganz vorsichtig bewegte er ein Bein dem fugenreichen Dielenboden entgegen. Von der niedrigen Holzdecke berichteten tanzende Lichtflecke, der Tag müsse an anderer Stelle schon reichlich Fortschritte gemacht haben.

Sind zwar keine Sterne wie am rheinischen Nachthimmel, aber so gesehen genieße ich grade einen unglaublichen Service der Natur.

Der See reflektierte flirrende Muster an die zeitgebeugte Decke. Fred starrte auf die tanzenden Lichtspiele, als versuchte er die ständig wechselnden, sich nicht nur in seinem Leben nicht wiederholenden Zeichen zu lesen. Schwer zu sagen, wie lange er so krumm dalag und die Botschaft zu dechiffrieren versuchte. Jedenfalls konnte er sich mit einem Mal schmerzfrei bewegen, das Buch fiel zu Boden, aber er stand aufrecht, ohne zu schwanken mitten im Zimmer und starrte auf das Fensterkreuz.

Oder irgend woanders hin da draußen.

Es dämmerte, nicht der Tag - dem Sonnenstand nach hätte ein Hörianer leicht damit glänzen können, von der Mittagszeit zu reden. Es war Fred, in dem die Klarheit hochzog, wie an einem Wasserstandsanzeiger bei Pegel Konstanz.

Freitag. Heute. Endlich!

Die Blase drückte fürchterlich. Nachdem er sich zumindest diese Erleichterung verschafft hatte, was er wie immer im Stehen tat, machte er sich, schneller denkend als sich bewegend, auf den Weg zur Kaffeemaschine.

Praktischerweise war er ja schon oder noch angezogen, die abendliche Einschlafhilfe muss überraschend gewirkt haben. Nach der ersten Tasse Kaffee – ja, immer noch Kaffee, obwohl sein Arzt es verboten hatte – machte er sich landfein, zumindest nach außen wollte er respektvoll den notariellen Termin wahrnehmen. Nicht, daß er auf die Erbschaft scharf gewesen wäre.

Komisch. Was denn hier los?

Fred betrachtete unter dem sprudelnden Wasser seine Hände. Das Wasser perlte ab, hüllte sie aber wie ein transparenter Handschuh ein. Erschrocken zog er die Hände zurück, als fürchtete er, sich zu verbrühen. Die Feuchtigkeit wich, tropfte ins Becken und verschwand. Das Rätsel blieb. Ungläubig starrte er seine Hände an.

Ich hab doch gestern überhaupt nix mit Schmiere oder Öl gearbeitet, wie...?

Im Gegenteil. Fred hatte wie ein Besessener mit Viss, Akupads und Schmierseife die Tische geschrubbt. Die Wurzelbürste flog nur so über die an die Wände montierte Eckbank. Was hätte er schließlich in den drei Wochen tun sollen? Gammeln war nicht sein Ding. Das Haus hatte eine ordentliche Substanz, sein spätestens seit Bacharach geschulter Blick verriet ihm das in jeder Ecke. Das Lokal dämmerte unter einer verfetteten Staubschicht, der Charme musste nur wieder ans Tageslicht erputzt werden. Nur? Nun gut, am Anfang hatte er keine Ahnung, wie viel Dreck, wie viel Erinnerung sich in den Winkeln verkriechen konnte. Aber das hier. Wie kam um alles in der Welt dunkle Schmiere unter seine Fingernägel?

Die Wirtsstube behielt die Antwort für sich.


‚Im großen Stil’

könnte im Milchglasfeld der Bürotür von Renie Tiez unter dem eingeätzten Namen als Charakterstudie stehen. Schlicht und transparent glänzte der Name je nach einfallendem Sonnenlicht dem Besucher entgegen, schwebte in der edlen Tür, deren Mahagonizarge, zusammen mit dem polierten Messingrohrgriff ebenso den Weg in die Offiziersmesse eines nicht allzu kleinen, nicht allzu billigen Kreuzers freigeben könnte. Ansonsten tauchte das Wörtchen schlicht nur noch auf, wenn Renie Tiez Oskar Wilde heranzog und sich selbst charakterisieren sollte: schlicht von allem das Beste.

Ihr 68er Mustang röchelte gelassen durch Sankt Gallen. Seine exotische Erscheinung provozierte die angestaubten Häuserzeilen. Die Schweizer hatten seit jeher ein Faible für amerikanische Schlitten, als könnten sie damit die ihnen womöglich peinliche Unfähigkeit kaschieren, ein ordentliches, auf dem mobilen Weltmarkt akzeptiertes Automobil zu kreieren. Renie Tiez war nichts peinlich, hatte nichts zu kaschieren. Sie war weit jünger als ihr Statussymbol und dachte darüber nach, wie sich die Uferbereiche - und natürlich nicht nur die anteiligen Schweizer Gestade - im großen Stil umgestalten ließen. Sie meinte es tatsächlich so, eine Neugestaltung, eine Funktionserweiterung schwebte ihr vor. Öffentliches Bodenseeufer durfte nicht krämerischen Einzelinteressen kleinmütiger Gemeindeverwalter oder statussymbolanhäufendem Geldadel überlassen bleiben. Global und verantwortungsvoll musste an die Zukunft gedacht werden. Zumindest an die ihrer Investoren.

Unterdessen schlürfte ihr Mustang fleißig Superbenzin, in seinem typischen Rot kam er daher, als wäre die Zeit spurlos an ihm vorübergegangen und jeder, der sich ans Steuer setzen durfte, fühlte sich sofort in die Ära zurückversetzt, in der sowieso alles besser war. Vor allem der Sprit billiger. Der Mustang schlürfte also reichlich, weil er den allzu laut umjubelten technologischen Fortschritt verschlafen hatte. Was ihn ja fast schon wieder sympathisch machte.

Wer Renies Charakter an ihrer Fahrzeugwahl festmachen wollte, konnte nur irren. Egal welche Schublade er aufmachte, es war die falsche. Sie war nicht naiv, nicht oberflächlich, nicht aufdringlich. Schwierig war nur: im nächsten Moment konnte alles wieder anders sein. Ein gutes Beispiel war die Arbeit mit oder besser an Doktor Ernst Tafler, seines Zeichens für die westlichen Bodenseeufer zeichnungsberechtigter Gemeindeamtmann. Der dachte immer noch, mit Lüti-Boden den für Schweizer Behörden wasserdichten Kontrakt ausgehandelt zu haben.

Renie Tiez war auf dem Weg zu ihm. Füttern nannte sie das. Damit ihre Vertragspartner nicht in Verlegenheit gerieten, selbstständig recherchieren zu müssen, um über Sinn und Richtigkeit ihrer Unterschriften im Bilde zu sein. Renie hatte neue Informationen - natürlich nur gute - für Dr. Tafler.

Einmal mehr konnte sie ihren Chef davon überzeugen, mit ihr die beste Wahl für das Gelingen des epochalen Bodensee-Resorts getroffen zu haben. Marc Lüti war Besitzer von Lüti-Boden, der Schweizer Immobilienagentur für innovative Projekte, die weit über das Vorstellungsvermögen eines Normalbürgers hinausgingen. Renie Tiez wurde schnell seine Geliebte. Das ging anfangs auch über ihr Vorstellungsvermögen hinaus. Von dem seiner Frau ganz zu schweigen.

Renie war gut vorbereitet, das Gespräch mit Tafler würde eine Kür. Weitere Grundstücke waren gekauft, die Präsentationen für Projektierung und Inbetriebnahme der verschiedenen Bauphasen hatte sie fast fertig. Sie hing ihren Gedanken nach, spürte den Fahrtwind in den Haaren und hätte am liebsten die Augen geschlossen, um tief entspannt durchzuatmen. Es war ihr bewusst, wie außergewöhnlich es war, in diesem Mustang zu sitzen, es bis dahin geschafft zu haben, wo sie nun war. Sie war dankbar, sich selbst. Wie zielstrebig sie doch war. Wo ihr dieses Leben überhaupt nicht in die Wiege gelegt worden war.


Heulend, fast kreischend stolperte Renie damals durch den Bauerngarten, der nicht ganz schlüssig war, ob er zu den wilden oder den künstlich robust gehaltenen Gärten gehören wollte, so gelungen wuchsen Blumen, Gemüse und Früchte nebeneinander her.

„Mama, du wirst es nicht glauben“, sprang sie ihrer Mutter an den Hals. Jeanne Tiez war überrascht. Renie hatte sich nicht angekündigt, Renie überfiel sie nie so übermütig, Renie landete mit ihr lachend im Hagebuttenstrauch. „Ich krieg ein Stipendium, ich krieg ein Stipendium und einen Freiplatz an der Uni dazu!“

Urs, der Bernhardiner, bellte heiser und sprang schnell wie selten durchs Holzgatter. Sofort wühlte er sich mit nasser Schnauze zwischen die beiden Frauen und plättete den Hagebuttenstrauch noch mehr. Als hätte er nur darauf gewartet, eine straffreie Gelegenheit zu finden, dem Busch den Garaus zu machen.

Die drei gaben ein merkwürdiges Bild ab, als der Vater, vom Geschrei und Gebell aufmerksam geworden, den Kopf aus dem Stallfenster streckte.

„Seid ihr noch gesund? Wollt mir wohl meine Ernte ruinieren?“

Vater Tiez war begabt, er hatte es sich in den Kopf gesetzt, aus nahezu allem, was Früchte trug, ein feines Destillat zu brennen, und würden es nur ein paar Fläschchen Hagebuttenlikör – im Moment war das allerdings fraglich.

So einen wie Renies Vater hätten sie im Mittelalter ans Wagenrad gebunden. So eine wie Renie, so eine hätte es bis ins Gemach des Königs geschafft.

Heutzutage musste es eben das älteste private Bankhaus der Schweiz sein. Wegelin & Co - unter dieser Adresse machte es die zielorientierte Praktikantin nicht. Folgerichtig musste der nächste Sprung auf der Karriereleiter großzügig ausfallen. Lüti-Boden wurde auserkoren. War Marc Lüti nicht ein moderner König? Beherrscher einer international verzweigten Immobilien-Agentur mit neun Niederlassungen in sechs Ländern...


Renie brauchte Zeit. Die bescheiden ausgebaute Uferstraße, die ständigen Ortsdurchfahrten erlaubten kein gedankenloses Kilometerfressen von A nach B. Das war ganz nach ihrem Geschmack. Für sie unvorstellbar, zwischen zwei Punkten, zwischen zwei Meinungen nicht irgendetwas zu finden, was nicht als Anknüpfungspunkt dienen könnte. In der gefälligen Bodenseelandschaft war das kein Problem, da konnte sie sich einfach nicht satt sehen.

Ihre Geschäftspartner betrachtete sie ebenso. Ein Skrupel hier, eine Perspektive des Gegenübers da, sie sezierte alles. Sie entfachte geschickt das zarte Flämmchen Hoffnung für den Kunden, schürte Zweifel beim Kontrahenten, wechselte bis zum Geschäftsabschluss die Perspektive, drängte zum Kauf, verzögerte Verhandlungen. Nachdem sich alle Beteiligten beim Notar die Hände geschüttelt hatten, trennten sie sich mit dem sicheren Gefühl, zum einzig richtigen Zeitpunkt instinktiv die beste Entscheidung getroffen zu haben.

Das war ihre Stärke, Argumentation im Paradoxen.


Die Gabe des Erben der Zeit

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