Читать книгу Die Gabe des Erben der Zeit - Georg Steinweh - Страница 7

Samstagmittag

Оглавление

Nur von einer Wolldecke geschützt, hatte Fred den Rest der Nacht auf der Bank in der Wirtsstube verbracht, den Kopf ungepolstert auf dem rohen Holz. Es war aber nicht die unbequeme Lage, die ihm zu schaffen machte.

„...hinterlasse ich Dir als Allerwichtigstes ein moralisches Erbe...“,

Fred versuchte, sich bequemer zu legen. In seinem Hirn kreisten Satzfetzen.

„...vielleicht ist es Dir vergönnt, liegt in Deiner Bestimmung, was mir trotz aller Anstrengungen verwehrt geblieben ist...“


Er konnte es sich nicht erklären. Drei Wochen waren vergangen, drei Wochen, die ihm sein toter Vater aufgezwungen hatte. Er fühlte sich ausgelaugt, überfordert. Nicht, weil es zuviel zu tun gab an diesem Ort, den er vor Jahren fluchtartig verlassen hatte, sondern weil er kein Gefühl dafür bekam, was er überhaupt tun konnte. Was er tun konnte, um dieses Warten zu beschleunigen. Er hätte sich auch gar nicht beschäftigen müssen, nur verstanden hätte er gerne, warum diese drei Wochen bis zur Testamentseröffnung sein mussten.

Dabei hatte alles so einfach ausgesehen, als er vor der verschlossenen Tür seines Elternhauses stand.


Vorübergehend geschlossen!

So heruntergekommen, wie das Schild aussah, hing es nicht erst an der Tür zur Besenwirtschaft, seit der Vater tot war.


Nun stand er da. Für drei Wochen an den Bodensee genötigt.

Schönes Fleckchen Erde, ruhig, zugegeben. Sicher nicht billig. Trotzdem wär ich lieber dabei, wenn meine Küche renoviert wird.

Diese Aufgabe hatte er notgedrungen seinem Freund Paul übertragen. Wenn man schon mal einen Architekten zum Freund hatte. Fred verstand nicht, warum er drei Wochen im Haus seines Vaters bleiben sollte, bevor der Notar das Testament öffnen würde. Er hatte keine Erfahrung mit Sterbefällen, aber mehr als eine Woche konnte das doch nicht dauern.

Den Vater unter die Erde zu bringen, war noch einfach. Fred musste nur anreisen, am Grab stehen und sich von zwei Dutzend Dorfbewohnern die Hand schütteln lassen. Er hatte nun nicht gerade erwartet, bei der Beerdigung seines Vaters das ganze Dorf ums Grab versammelt zu sehen, aber es reichte nur zur Ortsgruppe des Fischereivereins und einigen nahen Nachbarn. Zu den wichtigen Honoratioren hatte er offensichtlich nicht mehr gehört.

Die Behördengänge hatte der ihn kontaktierende Notar Falkenstein – Gunnar von Falkenstein, genaugenommen – übernommen und so sah es anfangs nach einem zähen, aber schmerzlosen Aufenthalt aus. So schmerzlos wie in der Familie seit langem mit persönlichen Angelegenheiten umgegangen wurde.

Im Moment erinnerte er sich an die letzten drei Wochen nur ungern, gerade weil durch die gehörige Portion Restalkohol die rational kaum zu greifenden Ereignisse noch absurder erschienen.

Die zwei Stunden gestern bei Doktor Falkenstein ließen allerdings die Wartezeit in einem anderen Licht erscheinen. Der Notar zelebrierte die Testamentseröffnung. Fred sank gleich immer tiefer in den gepolsterten Sessel, aber nach und nach wurde er doch aufrechter und angespannter. Im Leben hätte er das seinem Vater nicht zugetraut. Nun war er tot – und forderte einiges mehr.


Fred lag also auf seines Vaters Bank und war nicht ganz bei sich. Sein Blick versickerte in der dunklen Zimmerdecke, wo es glücklicherweise nichts, aber auch gar nichts zu entdecken gab. Durchs offene Fenster drang Möwengeschrei, ansonsten das fortwährende Rauschen des Sees, das zu diesem Flecken Erde gehörte, wie das Knistern zum Kaminfeuer.

Könnte die Bank sprechen - die Gelegenheit so nah an Freds Ohr war günstig wie nie - sie würde einige der Vorurteile revidieren, die Fred gegen seinen Vater hegte. Ach was, das ganze Haus könnte ein Lied davon singen. Aber Fred pflegte sein Vorurteil: alles, was von seinem Vater ausging, war abzulehnen. Seit damals, zu der Zeit, als Konrad Keller versuchte, seinem Sohn ein guter Vater zu sein - und sich doch mehr und mehr in seiner Einsamkeit einrichtete.

Der frühe Tod seiner Frau hatte ihn mit einem Schlag vom Leben abgeschottet. Fred war neun, Vrenie Keller 35. Sie starb bei einem Unfall auf See, eine Geschichte, die lange nicht erzählt werden durfte. Als die Mutter noch lebte, sprach Vater Keller öfters von dem harmlosen Begriff Muttererde, der für ihn beschreiben sollte, wo man gefälligst zuhause war, wo man sich wohlfühlen durfte und die schönste Zeit seines Lebens verbrachte.

Doch mit der Zeit zerschliss das Wörtchen Mutererde mehr und mehr. Es fand sich als Ausrufezeichen hinter allen faden Begründungen. „Muttererde“ erklang, wenn es darum ging, geduldig und zäh die kargen Jahre zu ertragen, die über sie hereinbrachen, unerwartet wie ein Heuschreckenschwarm für das Maisfeld. War es wirklich so unerwartet? Fred lebte in den Tag hinein und konnte seinen Lerneifer gerade so lange auf Trab halten, bis er das Abitur hatte.

Die Tage häuften sich, an denen er sich so störend wie Verkehrslärm und so unnötig wie Bodennebel vorkam. Stundenlang am heimischen Steg sitzen und die Füße ins Wasser baumeln lassen mochte er am liebsten. Irgendwann ging ein Ruck durch Fred. Der bis zu diesem Zeitpunkt auf den Namen Alfred hörte.

Was diesen Ruck verursachte, war niemandem in seiner Nähe klar. Nicht den paar Freunden und schon gar nicht den Nachbarn, die ihn kaum mehr als vom Grüßen auf der Straße kannten. Fred war ab sofort sein Name. Auf nichts sonst würde er mehr hören. Alfred! Wie klingt das schon? Altmodisch. Schwerfällig. Unauffällig.

Es war August. Seit einigen Monaten stand ein generalüberholtes Moped im Geräteschuppen. Er war gerade 16 geworden und alles sollte anders werden.

Nach außen hin blieb er unauffällig und irgendwie träge. Auch als Fred. Aber irgendwann war er so gern gesehen wie die Myriaden Sommerfliegen an stumpf leuchtenden Straßenlaternen, die an den zahlreichen Sackgassen standen, an deren Enden sich hinter akkurat beschnittenen Ligusterhecken ordentliche Wohnhäuser duckten. Fred duckte sich nicht mehr. Nie mehr wollte er Rücksicht nehmen – das wurde sein Motto. Im gleichen Maß wie sich der Vater, vergrämt durch den Verlust seiner Frau, immer mehr aus dem in so einer kleinen Gemeinde lebenswichtigen Dorfgeschehen zurückzog, wandte sich der Sohn den Dorfbewohnern zu, allerdings nur den weiblichen.

Raste mit seiner Zündapp über die Felder, düngte die Dorfstraßen mit dem Gestank des Zweitakters und dem Lärm der getunten Auspuffanlage. Es fiel ihm leicht, jungen Mädchen nicht nur das Herz zu brechen, sondern sie auch noch mit allem Charme, den man ihm nicht absprechen konnte, von ihren Freunden loszureißen. Zumindest für kurze Zeit. Er war oberflächlich, gedankenlos, rücksichtslos. Er kümmerte sich nicht um die Konflikte, in die er die Mädchen stürzte, wenn sie ihre Freunde betrogen. Er war der Überzeugung, sie wollten es, sie wollten ihn.

Dunkel gelockt und grünäugig wie er war, zerstörte er rücksichtslos einige frische Beziehungen. Nur die Mädchen, die überhaupt nicht seinem Schönheitsideal entsprachen, hatten Glück – und blieben verschont.

Es schien, als hörte man weithin erlöstes Aufatmen, das wellenförmig durch Hemmingen schob: „Fred verschwindet!“ „Fred zieht weg.“ „Zum Bund!“

Die Welle hatte eine selbstreinigende Wirkung. Im Dorf kehrte Ruhe ein, zu lange hatte sich der flotte Fred auf einem Trampelpfad bewegt und Wut und Tränen rechts und links seines Weges hinterlassen.

Fred war weg. Es wurde aber auch Zeit.

Gut möglich, daß ihm die eine oder andere weibliche Person mehr als eine versteckte Träne nachweinte.

Fred weinte nicht, genauso wenig wie sein Vater. Die Wehrdienstzeit in Grafenwöhr hatte sich längst angekündigt. Bis zu diesem Tag waren sie sich nicht gerade aus dem Weg gegangen – sie gingen einfach weiterhin ihre eigenen. Hin und wieder half Fred seinem Vater, hängte die Netze zum Trocknen auf, wusch die Fischkästen, tankte das Boot. Die eigentliche Arbeit, morgens um vier auf dem See Netze einholen, Fische ausnehmen und gleich verkaufen, überließ er ihm. Damit wollte er nichts zu tun haben. Am Wochenende schlief er bis mittags, schraubte an seinem alten Moped rum, fuhr durch die Gegend oder machte sich an ein Mädchen aus dem städtischen Gymnasium ran. Samstags arbeitete er für sechs, sieben Stunden bei einer Abschleppwerkstatt, verdiente sich einen Fünfziger für sein Moped.

Konrad Keller schien jeden Tag beweisen zu wollen, daß er ohne seinen Sohn zurecht kam. Fred Keller ließ jeden Tag spüren, daß ihn nicht einmal das interessierte. Er bahnte sich also an, der kurze und schmerzlose Abschied. Ganze drei Koffer mit Kleidung und einen Sack voller Erinnerungen stopfte er in den Kofferraum. Immerhin fuhr ihn sein Vater zum Bahnhof. Der alte RO 80 war das einzige, worauf Konrad Keller stolz war. Allerdings hätte Fred wegen dieses Stolzes fast den Zug verpasst. Der verdammte Kofferraumdeckel klemmte mal wieder. Es war eine Flucht mit Hindernissen. Der Beginn einer Reise, einer Suche, die Fred nach der Bundeswehrzeit zur Kochlehre in ein elsässisches Lokal trieb, bis er nach mehreren Stationen in Bacharach endlich ein eigenes Restaurant übernahm, um es exakt seinen Vorstellungen anzupassen.

Fred arbeitete viel und „zielführend“, wie er gerne sagte. Nie bestand die Gefahr, zuviel Gefühl könnte seine Entscheidungen beeinflussen. Die traf er rational und stets auf seinen Vorteil bedacht. Im geschäftlichen Leben sorgte diese Haltung für stabile Verhältnisse, sein Lokal blieb ihm treu. Im privaten Leben gab es aus genau den gleichen Gründen kein stabiles Verhältnis, er war den Frauen nicht treu. Oder sie wollten zuviel Gefühl.

Und hier, zurückgekehrt an den Platz seiner Jugend, dachte er immer noch so. Dabei war er beileibe nicht gefühllos, gerade hier dominierten ihn verbitterte Erinnerungen und zynische Attacken. Die Zimmer, die Möbel hatten keine Chance, ihn zu besänftigen. Er war stur. Und das von seinem Vater geerbt zu haben, hätte er sicher abgestritten.

Es erwartete ihn, dem Alleinerben, einiges. Das große Haus, das er seit Tagen mühsam vom größten Dreck in den Ecken, von den klebrigsten Bier- und Weinresten auf Tischen und Bänken befreit hatte. Er arbeitete sich unfreiwillig durch die Zeitschichten eines Hauses, von dem er nicht einmal ahnen konnte, wie es mit seinem Vater umgegangen war und umgekehrt. Denn das Haus lebte. Das wiederum spürte er deutlich. Es gab Momente, da fühlte er Ecken auf sich zudrängen, glaubte hinter seinem Rücken stechende Blicke, als ob ihn die Wände beobachten würden. Erstaunlicherweise verhielt sich das riesige Seegrundstück scheinbar neutral. So neutral, es verbarg aufgrund des verwilderten Zustandes sogar den Wert, den es nach der gewinnverheißenden Stimme Falkensteins offensichtlich hatte. Ein Bootshaus, eine große Wiese, ein Stück See.

Nun erst recht. Er würde mit hartem Besen den alten, verlotterten Familiengeist wegfegen.


Fred hatte es geschafft, sich aufzusetzen, schaute aber noch sehr langsam vor sich hin.

Ein Kater fühlt sich anders an... aber irgendwas war mit Schnaps...

Wie spät war es, warum lag er die Nacht auf der Bank? Warum erinnerte er sich an vieles, an anderes aber nicht?

Er befahl seinen Beinen, Bodenkontakt aufzunehmen. Machte kleine Schritte, streckte seine müden Knochen dem Raum entgegen.

Die Fenster müssten geputzt werden. Wäre wichtiger gewesen als die alten Tische.

Schmierige, rauchverklebte Scheiben verwehrten jedem einzelnen Sonnenstrahl den Eintritt, ebenso konnte kein noch so angestrengter Blick nach draußen dringen. Nur langsam kehrte der gestrige Nachmittag, Falkensteins Worte in sein Bewusstsein zurück:


„Als Kronjuwel für dieses außergewöhnliche, anmutige Königreich erlauben Sie mir, Ihnen die abschließende Offenbarung unterbreiten zu dürfen.“

Fred erlaubte es dem Notar, konnte sich aber nicht vorstellen, was sein Vater dem geflohenen Sohn plötzlich hinterherwerfen wollte.

„Ihre tragisch früh verstorbene Mutter hinterließ eine Lebensversicherung, die Ihr unglücklicher Herr Vater Zeit seines arbeitsamen Lebens niemals anrührte, obwohl meiner geringen Kenntnis nach in einigen prekären Situationen der Bedarf bestand, flüssige Finanzmittel, wie man in der Immobilienbranche so gern sagt, zur Verfügung zu haben.“

Fred wagte nicht, jetzt in diesen hoffentlich letzten Minuten den Notar pietätlos zur Eile anzutreiben. Er bot seinem Gegenüber einen ebenso mitfühlenden wie wissenden Gesichtsausdruck.

„Aufaddiert ergibt sich aus der Bilanzierung der Konten folgendes Bild: Die Umrechnung der Summe aufgrund der Währungsumstellung zum 1. Januar 2002 auf vier Stellen hinter dem Komma genau, die kluge und von erstaunlichem Weitblick zeugende Anlage der Gelder ergibt mit Zins und Zinseszins nach siebenundzwanzig Jahren und fünf Monaten bis zum Ultimo diesen Monats einen Gesamterlös von 257 Tausend 468 Euro und 13 Eurocent. Es ist mir mehr als ein Bedürfnis lieber Herr Keller, Ihnen persönlich in dieser schweren Stunde eine doch so angenehme Mitteilung unterbreiten zu dürfen.“

Falkensteins Kamm schwoll zur Brunftreife, seine schmalen Finger zitterten aufgeregt, die Röte des Raumes war mit einem Mal bedeutungsschwanger. Fred war nicht mehr da. Kurz vorher war er geistig ausgestiegen, unfähig, diesen Ausführungen weiterhin folgen zu wollen. Kein klarer Blick war Doktor Falkenstein vergönnt, kein gewinnorientiertes Lächeln, kein entspanntes Zurücklehnen in den schützenden Sessel.


Falkenstein gehörte zu der Sorte Mensch, die gerne eine Laudatio über sich hören. Die ehrenden Worte, die er - in aller Bescheidenheit natürlich - geduldig, aber sehr aufmerksam in sich aufsaugen würde, hätten darüber zu berichten, wie absolut er sich in die Dienste seiner Klienten begäbe, wie nahezu selbstlos er als Honorarkonsul die Interessen der capverdischen Inseln repräsentiere, wie sensibel er seit Jahrzehnten die Bedürfnisse der umliegenden Gemeindeverwaltungen und ebenso jedes einzelnen Bürgers vertrete. Ein wahrer Kümmerer, natürlich. All das, obwohl – und das sähe man dem ehrenwerten Doktor Gunnar von Falkenstein nun wirklich nicht an – sein Alter längst jenseits der offiziellen Rentengrenze liege, wenn es erlaubt sei, dies so salopp anzumerken.

Ja, Falkenstein tat wirklich alles. Vor allem für sich. Seine welligen, zurückgekämmten Haare waren schwarz. Ob dies je die Originalfarbe war, wusste wahrscheinlich nur er selbst. Vielleicht noch seine Sekretärin Fräulein Serlbacher, die gute Seele der Kanzlei. Zu jeder Zeit zur Stelle, wann immer es dem Notar danach verlangte. Wann immer und womit immer. Ein feiner Herr, würde man sagen. Sein akkurat schmal gehaltener Schnauzer war ebenso schwarz und drohte stets, von der Oberlippe zu rollen, so filigran schmiegte er sich darüber.

In seiner Eigenschaft als Notar trug er stets dunkle Anzüge, die auch einfarbig rötlich oder violett sein durften, aber dunkel. Krawatte war selbstverständlich. Sein Benehmen wurde nur von seiner Ausdrucksweise übertroffen, „gewählt“ wäre ein fader Begriff. Falkensteins lebendige blaue Augen halfen ihm, jünger zu wirken, als er war. Sie halfen ihm auch, ergänzt von seiner unglaublichen Menschenkenntnis und seinem ausgeprägten Geschäftssinn, Situationen schnell einzuschätzen - was ihm stets einen Handlungsvorsprung verschaffte.


Erstaunlich spät bemerkte Falkenstein, daß Fred nicht mehr folgen konnte.

„Herr Keller, ich bitte Sie, Herr Keller. Ist Ihnen nicht wohl?“ Schnell griff Falkenstein nach seiner Glocke, nach zwei Klöppelschlägen beugte sich Fräulein Serlbacher in die so schnell wie leise geöffnete Tür. „Einen Cognac! Den Besten!“ Geräuschlos im Auftritt, schattenlos im Abgang: Fräulein Serlbacher, die gute Seele des Notariats.

Der protzig bauchige Schwenker war gebührend seriös gefüllt. Fred kehrte langsam zum Notar zurück. Es tat ihm gut, die hinunter gleitende Wärme zu spüren. Und auch wieder seinen Verstand. Schon öfters hatte er den Eindruck, Alkohol könne ab einer bestimmten Qualität und bis zu einer gewissen Quantität sein Gehirn zu Höchstleistungen anregen.

Habe ich meinen Vater einfach nur verkannt? Habe ich ihn überhaupt gekannt?

Eine unpassende Situation, in der sich Fred diese Fragen in den Weg stellten. Beantworten würde er sie nicht. Nicht hier jedenfalls.

Vater soll sich bloß nicht einbilden, im Nachhinein höhere Trümpfe als ich aus dem Ärmel ziehen zu können. Die Karten waren von jeher klar verteilt, es gibt kein neues Spiel, nicht mit mir, nicht in dieser Ecke des Landes.

Zornig schlurfte er zu einem Fenster, starrte auf das Glas, als versuchte er, mit seiner Wut den klebrigen Belag aus Rauch und Geschichten wegzuätzen.

Wo ist der Sinn? Verdammt noch mal, was soll dieser Zirkus? Ich bin nicht 36 Jahre alt geworden, um mir von einem Toten Vorschriften machen zu lassen. Ich werde dem Spuk ein Ende bereiten und so schnell es geht alles verkaufen.

Es war leider doch ein verkaterter Morgen.

In dieser verdammten Kneipe kann ich nicht mal klar sehen, geschweige denn, klar denken.

Am großen Spülbecken wollte Fred die Reste der vergangenen Nacht endlich aus dem Gesicht waschen. Ein Schwall Wasser schoss aus dem Bügelhahn, ohne zu zögern hielt er seinen Kopf darunter. Es war ihm ein Rätsel, wie und warum er sich letzte Nacht auf diese ungemütliche Bank legen musste, geschweige denn, wie er überhaupt mit dem Boot ans Ufer zurück fand. Blackout! Wo war die Zeit? War er dermaßen betrunken gewesen?

Mit seinen Händen fing er das Wasser, um sich den letzten Schlaf aus den Augen zu reiben. Hellrot verfärbte sich das Wasser, rann zügig in den Abguss.

Unbeteiligt, quasi von außen, schaute Fred einen Moment zu. Erschrak dann doch, fasste sich an den Kopf. War er verletzt? Spürte er wegen des Restalkohols keinen Schmerz? Ein dünner Rinnsal schlängelte sich am Handgelenk entlang, suchte seinen Weg zum Unterarm, Fred zuckte zusammen. Den Kopf hatte er untersucht, verletzt war aber die rechte Hand. Befreiend, endlich den stechenden Schmerz zu spüren. Eine tiefe Fleischwunde zeichnete in den Mittelfinger ein scheinbar viertes Gelenk. Das vordere Glied des Fingers war nahezu halbiert, am benachbarten Zeige- und Ringfinger waren nur kleinere Hautrisse.

Reflexartig schoss die Hand unter den Wasserstrahl. Das Edelstahlbecken überzog sich mit einem hässlichen Schleier. Chrom und Blut, das passte nun überhaupt nicht zusammen. Bräunlich schlierte die Flüssigkeit in den Abfluss, fast so, als berührte sie nicht einmal die polierte Oberfläche.

Fred bewegte äußerst vorsichtig das Stück Fleisch, Schmerzen zuckten durch die Hand, er sog spitz die Luft zwischen seinen Zähnen ein. Die Kuppe war noch dran.

Tut es so weh, weil ich es jetzt sehe?

Es tat höllisch weh. Er fragte sich nicht einmal, bei welcher Gelegenheit sich die Fingerspitze von ihm trennen wollte. Schnell wickelte er ein frisches Geschirrtuch um die Wunde und suchte ein Pflaster. Im Bad war nichts zu finden. Bevor er weitersuchte, wickelte er sein getränktes Tuch auf und ließ aus Brusthöhe Blutstropfen für Blutstropfen vom Waschbecken auffangen. Fächer, rote Pusteblumen gestalteten die weiße Oberfläche.

Na also, sieht doch gleich viel besser aus.

Erst in der unbenutzten Erste-Hilfe-Box seines Saabs wurde er fündig. Fred war Linkshänder, es war also nicht allzu schwierig, aus den plastikverschweißten Paketen ein langes Stück Mullbinde herauszuschneiden. Zusätzlich rollte er noch zwei Lagen Leukoplast um die verbundene Wunde.

Sicher ist sicher.

Er wollte den Brief noch einmal lesen, nein, er sollte lieber entspannen und nachdenken, wann und wo er sich in den Finger geschnitten hatte. Oder doch lesen? Auf dem Dielenboden der Stube lagen die Seiten, die der Notar Fred ausgehändigt hatte. Er schüttelte sie, als wollte er die Buchstaben in einen ihn verständlicheren Zusammenhang bringen. Wollige Staubflusen lösten sich vom Papier, das Konrad Keller am 21. Januar 2011 - lange vor seinem Tod - beschrieben hatte. Die Luftwirbel scheuchten winzige Staubpartikel auf, die im fahlen Tageslicht chaotisch tänzelten. Durcheinander fühlte sich auch Fred und beobachtete die Flusen. Den Boden schrubben, dazu konnte er sich nun wirklich nicht durchringen. Er würde sich doch nach einer tüchtigen Putzfrau umschauen. Raus hier!

Der Frühlingstag erschien umso freundlicher, je mehr das Erdgeschoß nervte. Er war matt und leer, und obwohl er ein rationaler Mensch war, blockierte tief drinnen irgendetwas jeden vernünftigen Gedanken. Wie umschmeichelte ihn dagegen das fast kniehohe Gras, das erklärte, wie jeder Schritt ein kleiner Fortschritt, eine Erkundung fremden Terrains sei. Das Schilf rechts vom morschen Steg wog sich mal nach links, mal nach rechts, als wäre es nicht sicher, ob es Fred die eine oder die andere Richtung einschlagen lassen sollte.

Unter dem Vordach des Schuppens lehnten drei rostige Klappstühle. Fred ertappte sich dabei, etwas zu lange im Schuppen nach der Zündapp geschaut zu haben. Natürlich war sie nicht mehr da. Er ärgerte sich maßlos. Nicht über die Zündapp, über sich. Wie konnte er nur so einfältig sein? Was glaubte, hoffte er zu finden? Achtzehn Jahre zu spät.

Er schnappte sich einen Klappstuhl, dessen ehemals farbenfrohe Stoffbespannung so gar nicht zu seinem Vater passen wollte und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

So morsch ist der Steg gar nicht, wie er aussieht. Ein paar Bretter austauschen, eine Handvoll Pfennigsnägel, ein Wetterschutzanstrich. Müsste reichen.

An der Spitze des Stegs klappte der Stuhl mit einem quietschenden Schwung auf, Fred ließ sich vorsichtig, sehr vorsichtig nieder, auch hier vertraute er den Hinterlassenschaften seines Vaters nicht. Und das Schilf bemühte sich weiter, keine eindeutige Richtung anzugeben.

Der Brief? Steckte zusammengefaltet in seiner Hemdtasche.

Da sollte er erst mal bleiben. Fred wollte sich wenigstens gelegentlich darüber informieren, was die eingesessenen Bürger am Untersee umtrieb, was sonst in der Gegend los war.

Wie er so auf dem Stuhl saß, den „Konstanzer Boten“ durchblätterte, machte er auf den See, die Möwen, die Schwäne einen völlig entspannten Eindruck. Urlaubsstimmung in Fred? Weit gefehlt. Flüchtig überflog er die Regionalpolitik, ignorierte verächtlich goldene Jubiläen und Ehrenmitgliedschaften in diversen Vereinsmitteilungen.

„Anmerkungen zum Konzilsjubiläum 2014“, las er laut dem See entgegen. Meine Güte, das ist doch noch eine ganze Weile hin, dachte er verwundert und begann zu lesen.


„Das Münster barst vor Menschen. Das war nicht immer so um 1414, aber für die nächste Zukunft würde das Interesse der Bürger wie der Adligen sicher ungebrochen bleiben. Der nächste Sonntag könnte völlig anders aussehen wie dieser Sonntag, die nächste Messe könnte ein anderer Papst wie dieser halten.

Die Messe hielt Papst Johannes XXIII. Demnächst würde er seinen Rücktritt anbieten, dann doch aus Konstanz fliehen, wenig später von König Sigismund festgesetzt. Aber alles zu seiner Zeit.

Kein einziger Mensch feindete die feierliche Handlung an oder störte sich daran, welcher der drei Päpste an diesem Tag der Glaubensgemeinschaft vorstand. Papst Johannes war sowieso der einzige in Konstanz anwesende Papst.

Im Augenblick weihte er die Kerzen mit Weihwasser. Der Papst beendete seine Zeremonie und reichte dem Erzbischof von Dänemark das Weihwasser. Am Altar des Leutpriesters stand ein Thron, ähnlich dem Thron am extra erbauten Altar neben dem Sakramentshäuschen. Der Papst saß also auf dem hohen Leutpriesterthron und jeder im Münster konnte ihn sehen. Vor dem Sankt Georgsaltar erhob sich eine Podest mit vier Sitzen für die Patriarchen und den Hochmeister von Rhodus.

Das Kirchenschiff quoll über vor Farben. Kardinäle, die in der Kirche ohne ihre breiten roten Hüte anzutreffen waren, Erzbischöfe und Bischöfe in violetten Talaren, Gelehrte in blauen und ockerfarbenen Gewändern drängten sich neben den Hausherrn, den gelähmten Dekan Albrecht von Büttelsbach. Von goldenen Streifen durchbrochene Blautöne, grüner Samt, weiße leuchtende Tücher, roter Wams und schwarze Kleider, goldene Leuchter und silberner Stahl, jede Farbe war würdig genug, um in der Kirche vertreten zu sein.

Auf der weltlichen Seite verfolgten Graf Rudolf von Montfort, Graf Berthold von Orsini, Markgrafen aus Deutschland, Herzöge aus Frankreich, der Bürgermeister Heinrich Ehinger und viele Magister, wie der Papst es sich nicht nehmen ließ, den Kardinälen zur Hand zu gehen. Demütig verteilten sie1500 unterarmlange Kerzen an die Gläubigen und sammelten sich zur Prozession.

Mit imponierendem Getöse verbreitete sich der Klang der Glocken weit über den Münsterplatz hinaus. Jede einzelne Glocke zeugte davon, wie wichtig die Zeremonie und wie einzigartig und tatsächlich in dieser Konstellation unwiederholbar war, von der sich Papst Johann eine positive Signalwirkung erhofft hatte.

Die drängenden Menschen draußen würden also bald den Papst und die hohen Würdenträger zu Gesicht bekommen. Das Geläut verstärkte aber nur die Unruhe, jeder wollte nahe am abgesperrten Weg stehen, einen Hauch vom Weihrauch spüren, den Blick eines Fürsten erhaschen. Kein Bürger dachte daran, wie sehr Konstanz in diesen Tagen im Blickpunkt der christlichen Welt stand. Wichtig war der Blick eines jeden Einzelnen.

Der Streit dreier Päpste um die Vormachtstellung mit allen dazu gehörigen Versammlungen und Diskussionen um die gerechte, weil christliche Sache schwemmte viele Wichtige und noch mehr Neugierige in die Stadt. Zeitweise schwoll sie zu einer Größe von vielleicht 70.000 Menschen an. Weit über die Stadtmauern hinaus, in den umliegenden Stadtteilen vom Paradies im Nordosten bis weit westlich vom Emmishofer Tor campierten die Reisenden sehr armselig unter Planen oder fürstlich in eigens mitgeführten pompös ausgestatteten Zelten.

Vor dem Münster wurde das Gedränge gefährlicher, die Bürger drängten aneinander und verklebten zu einem taumelnden Mob. Im Kirchenschiff dagegen fügte sich der prächtige Kirchenstaat unter Verbreitung einer gehörigen Menge Weihrauch zu einer geordneten Prozession. Die Obertöne des Geläuts schoben die Geistlichkeit in geordnete Bahnen, zumindest nach außen wollten die nach wie vor uneinigen weltlichen und kirchlichen Fürsten ihr Gesicht und vor allem ihre eigene Würde wahren.

Wie es sich für einen Kirchenumzug gehörte, ging der Machthaber hinter den zwei Patriarchen, die mit dem Monstranzenträger unter einem goldenen Baldachin schritten und das Volk segneten. Den König, der unter seiner goldenen Krone eine schlichte Chorkappe trug, geleiteten zwei Kardinäle.

„Wer ist der mit dem Schwert?“, fragte ein zugereister Handwerker eine neben ihn gedrängte Frau, deren braunes, unter der Brust mit einer langen hellen Schürze gebundenes Kleid noch eine Spur schlichter war, als all das stumpfe Braun und fade Grün um sie herum. „Herzog Ludwig von Brieg. Und der mit dem Zepter ist der Bayernherzog Heinrich. Und die Lilie trägt der Kürfürst von Brandenburg.“ Während die Frau erklärte, winkte sie ihnen weiter zu, den in farbenprächtige Gewänder gekleideten Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen und Äbten.“

Fred schmunzelte.

Ganz schön clever, dieser Beißwanger. Füttert seinen Artikel mit direkten Reden, damit sich der Leser mittendrin fühlt.

Wie zum Beweis las er weiter:

„Ehrwürdig schritten sie am Volk vorbei, Herzöge, Grafen, Herren, Ritter, Gelehrte. Der Strom aus prächtigen Kleidern wollte nicht enden und demonstrierte eine Farbenpracht, die das schillernde Leben des flanierenden Zuges von dem der Winkenden unmissverständlich trennte.

Viele der Herrschaften hatten ihre Kerzen den neben oder hinter ihnen gehenden Dienern übergeben. Es war nötig, sich dem Volk zu zeigen, im besten Staat dem König, den Kardinälen in der Fronleichnamsprozession zu folgen. Die schwere Kerze deswegen ständig selbst zu tragen, war nicht angemessen.

Am Unteren Münsterhof ging der Zug vorbei mit Blick zu Sankt Johann. Es waren sicher mehrere Hundert Edle vorbeigezogen, als eine große Gruppe der Bettelorden folgte, denen wiederum unzählige Bürger anhingen.

Die Gassen wurden enger, der Zug kam zum Stillstand. Der König, die Regenten und Kardinäle wandelten nah wie selten mitten durch ihr Volk. Und das Volk tat wie von ihm erwartet: es jubelte den Würdenträgern zu und hoffte ungeduldig auf die Entscheidung, welchem einzigen Papst in absehbarer Zeit gehuldigt werden sollte. Doch das Volk sollte noch lange warten.

Auch der Stephansplatz war ein weiter Kirchhof. Mit der großzügigen Umbauung des Platzes durch die Franziskaner, die ihre Unterkünfte wie ein schützendes ‚U’ um Sankt Stephan bauten und links zur Brudergasse ihre Kirche platzierten. Die schönen Fassaden der Patrizierhäuser, oft drei bis vier Stockwerke hoch, bildeten einen ansprechenden Rahmen für das großartige Schauspiel. Auf stabilem Steinfundament gebaut fanden sich unten Werkstätten oder Geschäfte, während in den oberen Etagen, als Fachwerke ausgebaut, die Kammern der Wohnungen mit einer beheizbaren Stube lagen.

An diesem großzügigen Ort hatten sich Krämer, Kleinwarenhändler und Schreiber dem Schutz der Kirchen anempfohlen. Aber hier wurde auch gebacken. Die Franziskaner besaßen zwei große Backhäuser, die sie den zugereisten Bäckern zur Verfügung stellten. Außerdem wuchs Monat für Monat an der Begrenzung zum Bündrichhof, rechts vom Kirchplatz, Backhaus um Backhaus. Tagelöhner von weit her mauerten bauchige Höhlen, damit die täglich wachsende Einwohnerzahl mit frischem Brot versorgt werden konnte.

Trotzdem war es nötig, mit Karren, Wagen, sogar mit Schiffen Brot herbeizubringen, damit es den Bürgern nicht mangelte und die Preise nicht zu sehr stiegen. Die Bäcker vom Oberen Markt unterhielten hier im Schutz der Mönche ihre Backhäuser...“


Die Zeitung sank auf den Steg. Fred fühlte sich mitgenommen.

„Gut gemacht, Herr Historiker“, sagte er vor sich hin, „aber trotzdem, ein grässliches Leben dieses Mittelalter. Nix für mich.“

Für Fred war das alles zu eingeengt, zu ärmlich, zu sehr von Kirche und Fürsten dominiert. Er war gerne sein eigener Fürst – und dominierte gerne andere Menschen. Mit einem letzten, die damaligen Bürger bemitleidenden Lächeln schloss er das Kapitel Konstanzer Konzil für sich ab.

Daß Fred hier irrte, konnte er nicht ahnen. Daß es mit dem Mittelalter zu tun hatte, lag tatsächlich nicht auf der Hand. Daß im Haus etwas nicht mit rechten Dingen zuging, hätte er allerdings merken können.


Der Puls pochte im Finger. Fred schreckte auf. Hatte er geschlafen? Wie lange? Am Stuhlbein flatterte die Zeitung. Alles noch so wie vorher. Die Wunde tat verdammt weh. Bewegungslos saß Fred, einem Sommerfrischler gleich, auf seinem schäbigen Stuhl und lauschte diesem Gefühl.

Um so angenehmer empfand Fred nun die kühlende Brise vom See. Die Zeitung raschelte immer noch. Entspannt lehnte er sich im Stuhl zurück, schaute dem Wind entgegen und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Obwohl es nichts zu korrigieren gab. Die Locken saßen. Ein Vorteil der Kürze. Er betrachtete seine Hände. Gut, die könnten kleiner sein. Seit er 13 war trainierte er mit Expandern und einem Trainingsgerät der NASA, das angeblich auch in der Schwerelosigkeit funktionierte. Hier auf der Erde hielt es seinen Körper in Schuss.


Der See war gut für Fred. Wellen, nur Wellen, Wasser, wohin er schaute. Er schaute aber nirgendwo hin. Trügerisch. Keinen Augenblick blieb eine Welle gleich, jeder Tropfen, der sich einmischte, veränderte alles.

Licht, mit etwas Glück die Sonne, verwandelte sich in Reflexe, die von Wellenkamm zu Wellenkamm hüpften. All dies und noch mehr sorgte dafür: es gab keine Wiederholung.

Auch die Erinnerungen an seine Jugend waren keine Wiederholung, es waren einfach nur Erinnerungen – auch wenn sie ungefragt auftauchten. Wie die Ereignisse der letzten Tage. Sie mit dem Blick zum See noch einmal gezielt abzufragen, hatte nicht einmal den Schmerz in seinem Finger gelindert. Er war keinen Schritt, keinen Gedanken weiter gekommen.

Der Horizont interessierte ihn immer noch nicht, seine Augen fixierten stur weiterhin einen Platz weit im See und entwarfen auf der Netzhaut das schlichte Bild einer Welle. Einer Welle. Einer Welle.

Sein Reiz für die Wiederkehr des immer Gleichen wiederholte sich sogar im Brief des Vaters.


Mein lieber Alfred,

Ich könnt das Kotzen kriegen, ignorierst einfach meinen Wunsch, Fred genannt zu werden.

Es tut mir aufrichtig leid, nicht zu früheren Zeiten den Weg zu Dir gefunden zu haben. Sicher denkst Du von mir, daß ich ein alter, sturer Bock bin. Sonst hätte ich mich ja bei dir gemeldet.

Da hast du allerdings Recht.


Das Ärgerliche war, Fred konnte genauso stur sein. Mindestens.


Du bist jetzt allein und doch hoffentlich nicht. Was weiß ich schon von Deinem Leben, Deinen Gefühlen? Bist Du verheiratet, hast Du eine Freundin, oder hält es mit Dir Keine aus?


Zornig las er weiter, ein gelegentlicher Blick aufs Wasser verbesserte seine Stimmung auch nicht. Der handgeschriebene Text schabte mit jeder Zeile mehr an seinem Befinden. Nach einigen Sätzen spürte Fred, wie seine Gefühlslage völlig entglitt, unfähig, sich dem Sog des Briefes zu entziehen. Seine Magengrube zog sich zusammen, obwohl er kein Bauchmensch war, sein Wille blieb auf der Strecke, er konnte sich wehren, soviel er wollte. Diesmal also nicht. Diesmal bestimmte nicht er die Regeln dieses Spiels. Er konnte nur hoffen, nicht als Bauernopfer vorgesehen zu sein.


Ach Mensch, nicht schon wieder!

Laß Dich nieder. Freunde Dich mit Deiner Muttererde an. Vielleicht kriegst Du ein Gefühl dafür, was Deine liebe Mutter, meine über alles geliebte Vrenie an diesem Fleckchen Erde hinterlassen hat. Für mich blieben nur Trauer und endlose Vorwürfe, für Dich hoffentlich eine glücklichere Zukunft als es meine Vergangenheit sein durfte.

Kein Mensch auf dieser gottverdammten Welt benutzt dieses Wort Muttererde, ausgerechnet mein Vater kommt bei jeder passenden und nun unpassenden Gelegenheit damit an. Hat echt Talent, meine eh nicht beste Stimmung gründlich zu versauen.

Im Brief ein Absatz.

Er ließ Fred einen Augenblick Zeit, genügend Zeit, um eine weitere Welle zu betrachten, Zeit, an seine Mutter zu denken.

„Meine Vrenie“, so hatte Konrad Keller sie immer genannt, liebevoll ihren Namen beseelt, nicht nur um sich von den spröden Schwiegereltern zu unterscheiden, die ihre Tochter Zeit ihres kurzen Lebens Veronika nannten.

„Die Vrenie“, so hieß sie auch im Dorf. Sie war derart beliebt, da hätte man gern geglaubt, sie sammelte alle Sympathien in der Nachbarschaft ein, um sie für ihre Familie zu horten.

Konrad Keller war von einer Art... ja, er konnte es einem richtig schwer machen. Vielen im Dorf. Hier geboren und trotzdem zurückhaltend, wenn es um die Geschicke des Ortes ging. Eingebunden im Fischereiverein aber zugleich wortkarger Eigenbrödler. Ein begnadeter Fischer und ein Schnapsbrenner mit dem richtigen Riecher. Das reichte, um die Stubenwirtschaft lebendig zu halten.

Eines Morgens fiel Vrenie aus dem Boot und ertrank.

Die polizeilichen Untersuchungen brachten keine Zweifel. Ein Unglück, tragisch zwar, vor allem unter erfahrenen Fischern, aber leider kein Einzelfall. Das Resümee war zynisch: Fischer müssen mit der Tatsache leben, je länger sie auf den See hinausfahren, umso größer wird das Risiko, über Bord zu gehen und zu ertrinken.

Mit seinen neun Jahren bot Fred einen Anblick sprachloser Traurigkeit. Er brauchte lange, bis er verstand, daß seine Mutter nicht mehr auftauchen würde. Nicht mehr in seinem Leben, nicht mehr aus dem See.

Als Fred älter wurde, hielt er es der Einfachheit halber wie ein Großteil der Hörianer – er gab seinem Vater die Schuld. Daran, daß seine Mutter nur kurze Zeit in dieser Welt glücklich sein durfte.

Konrad musste schuldig gesprochen werden. Er hatte dem Kind die Mutter geraubt. Dieses Stigma ertrug Konrad, jeder Blick auf der Straße, in der Wirtschaft, markierte ihn, schwächte sein angebrochenes Herz.

Fortan fuhr der alte Keller nur noch selten raus, zog aus dem See, was der an Fischen hergab und hielt sich mit seiner Schnapsbrennerei und der Wirtschaft über Wasser. Verließ selten das Grundstück und behielt seinen heranwachsenden Sohn im Auge. Konrad Keller wollte ein besserer Vater werden, wenn er dem Jungen schon nicht die Mutter ersetzen konnte. Doch der Männerhaushalt stand unter keinem guten Stern, Alfred war von dem, was sein Vater Erziehen nannte, nicht begeistert. Anfangs stritten sie wenigstens noch, nach ein, zwei Jahren schwiegen sie sich nur noch an, sogar auf dem See. Am Ende gingen sie sich aus dem Weg.

Der alte Keller war nicht mehr in der Lage, die Hände, die sich ihm entgegen streckten, zu erkennen. Er suchte keine Hilfe für seinen streunenden Sohn, der um die Dörfer zog wie ein räudiger Hund. Es kam nicht einmal zu einem nachbarschaftlichen Streit, weil sie sich aus dem Weg gingen. Er verkroch sich in sein Haus. Hin und wieder kam ein größeres Paket. Den einen oder andern hätte es schon interessiert, was der Konrad ständig bestellte. Die Wirtschaft blieb schon lange leer. Kein Fischer, kein Spaziergänger, der beim Keller saß, um sich alte Geschichten anzuhören. Und neue gab es nicht.


Bis er an Herzversagen starb.

So stand es im Befund des Arztes.


Der See half Fred mit unaufgeregten Wellen. Er entspannte sich, seine Gedanken machten sich unbemerkt auf die Reise.

In Freds Erinnerung schoben sich die besänftigenden Worte des Notars. „Glücklicherweise musste Ihr Herr Vater nicht mehr leiden. Nach gewissenhafter Einschätzung des ihn untersuchenden Arztes trat der Tod wohl sofort ein.“

Die Sätze hatten ihn aber nicht beruhigt. Im Nachhinein hatte er sich gewundert, weil er sofort über das Wörtchen mehr gestolpert war.

„Glücklicherweise musste Ihr Herr Vater nicht mehr leiden.“

Musste er denn vorher leiden? Worin bestand das Leid, das man ihm, das er sich zugefügt hatte? 18 Jahre, Freds halbes Leben, fehlten die Versatzstücke aus Konrads Leben. Was hatte ihn beschäftigt? Suchte er Ablenkung in der Literatur? Das Boot war erstaunlich in Schuss. Hatte er sich jemals gefragt, wie es Fred ging? Warum hatte Konrad Keller die Zeit um die Testamentseröffnung so aufwendig inszeniert?


„...vielleicht ist es Dir vergönnt, liegt es in Deiner Bestimmung, was mir trotz aller Anstrengungen verwehrt geblieben ist...“

Ein bisschen klarer hätte er sich schon ausdrücken dürfen, auch wenn er mit mir seinen Spaß haben will.

Er hätte seinem Vater an die Gurgel springen können. Noch hatte er zwei Tage Zeit, das Erbe anzunehmen. Zeit, sich zu entscheiden, welchen Weg er gehen wollte.


Der Tod des Vaters hatte Fred zur Rückkehr an diesen Ort gezwungen. Eine ungewollte Reise in die eigene Vergangenheit.

Aber Fred wird sich jeden Tag aufs Neue wundern. Die Rätsel, warum er ruhelos schlafwandelte, werden zu unglaublichen Entdeckungen und Aufgaben führen. Fred war auf dem Weg in eine Zeit, die jenseits seiner Vorstellungskraft lag. Und jeden Tag, den das Haus, besser sein Vater, wohldosiert Geheimnisse preisgab, tat er einen großen Schritt in eine ganz andere Vergangenheit.


Vier Häuser vor dem Ende der Sackgasse parkte ein roter Wagen.

Die Frau behielt die grünen Espandrilas an, die sie während der Autofahrt trug. Flach mussten sie sein, um den Widerstand des Bremspedals zu brechen, das sie ungern benutzte. Der 68-iger Mustang fuhr mit Automatic. Ersparte ihr immerhin zu kuppeln.

Fred bemerkte sie nicht. Er hörte nichts, registrierte nicht die Toncollage, die aus monotonem Wasserklatschen an seiner Hauswand, dem knarzigen Kieselsteinweg und den vereinzelt lachenden Möwen entstand.

Sie schlich sich nicht an, hatte keinen Grund, ihr Anliegen zu verbergen. Eine Objektvisite, ganz normal, so normal, sie hielt es nicht einmal für nötig, die zum Kostüm passenden Stilettos anzuziehen. Ihr grasgrüner Rock hatte genau die Länge, die ihre schlanken Beine gut zur Geltung brachte und doch mit einer Handbreit über dem Knie seriös genug war für einen Antrittsbesuch bei einem potentiellen Verkäufer. Gemeinsam mit der seidigen, senfgelben Bluse, die dezent ihre festen Brüste betonte, vermittelte Renie den Eindruck, den sie vermitteln wollte: zu diesem Ambiente zu passen, als gehörte sie seit ewigen Zeiten dazu.

Sie berührte den Griff der Gartentür. Da bemerkte sie den Mann, der am Steg saß. Ein schönes Bild irgendwie, dachte sie. Das Schilf, auf die Hilfe des Windes angewiesen, um dem Mann näher zu sein, um im nächsten Moment wieder fortgerissen zu werden. Die Wiese, deren Gras sich selbstbewusst gegen bestimmt ein Dutzend Blumensorten stellte, aufrecht und ohne Spuren, als hätte der Seesüchtige niemals einen Fuß auf diese Erde gesetzt, um seinen Weg zu gehen.

Minutenlang wartete sie so, aus einem unerfindlichen Grund nicht in der Lage, in diese Szene eindringen zu können. Diese andere Seite vom Zaun war anders. Als romantisches Klischee wollte sie es abkanzeln, ertappte sich aber dabei, wie ihr das Bild mehr und mehr gefiel. Dieser gewöhnliche private Kosmos eines Menschen, der ruhig und zeitlos verdammt weit weg von allen Turbulenzen des Alltags schien. Der Glückliche.

Mit ihrem Blick über den Zaun, ihrer Hand an der Tür war die Zeit irgendwie stehengeblieben. Es muss Minuten gedauert haben, bis sie eine Möwe im Tiefflug durch einen Flügelschlag zurück holte. Für den Bruchteil einer Sekunde deckte der Vogel die Sonne ab, der Schatten auf ihrem Gesicht veränderte die Wahrnehmung. Die Hand schmerzte. Sie hielt die ganze Zeit den Türgriff gedrückt, auf dem Sprung, den Moment der günstigsten Gelegenheit nicht zu verpassen.

Renie drehte sich weg, die Zuschauerin wurde wieder zur Strategin. Heute würde sie ihn nicht stören, wenn es denn für ihn überhaupt als eine Störung hätte empfunden werden dürfen, von ihr besucht zu werden. Irgendetwas sagte ihr, bei ihm müsse sie anders vorgehen als sonst. Und auf ihr Gespür konnte sie sich verlassen. Bloß, wie?

Minuten später blieb von dem Mustang nicht mehr, als ein paar Tropfen kondensierten Wassers aus dem Auspuff.

Und die Erinnerung eines Schattens.


Samstagabend

Gleichmäßig strömte der Fahrtwind über die Windschutzscheibe, verzettelte sich kurz in Freds Haaren und beruhigte sich hinter ihm wieder zu dem lauen Lüftchen, das sich nur gelangweilt hatte, bevor der Saab Unruhe stiftete. Gemächlich steuerte Fred sein Cabrio durch die Dörfer, wollte irgendwo einkehren. Einfach anhalten, wo es ihm gefiel. Er hatte Hunger. Es war Samstag und seine Lust zu kochen verschwunden. Geschmacklos renovierte Wirtshäuser versuchten ihn zu locken. Es trieb ihn weiter. Auch aus dem nächsten und ebenso aus dem übernächsten Dorf hinaus. Die Landschaft war zu schön, zu reizvoll. Wohltuend langgezogen fügten sich die Kurven in diese sanften Hügel, die in der Nähe Abwechslung erzeugten, aber doch bescheiden genug waren, die Versprechungen der Ferne nicht zu verdecken. Rechts lag der See, zumindest das Stückchen, das von der Höri aus zu sehen war. Ein schmales, silbriges Schwert, das die fernen Berge auf sichere Distanz hielt zu den Rundungen des Weide- und Obstlandes, deren zartes Grün jeden Blick weiter gleiten ließ, ohne ihn abrupt durch eine zu wuchtige Felskante stolpern zu lassen.

Eine Ansammlung stattlicher Bäume auf einem entfernten Hügel machte ihn neugierig. Störend im Gesamtbild, unverschämt selbstbewusst in den tiefblauen Samstagabendhimmel aufragend. Verbarg sich da vielleicht ein Gebäude? Einen Gedanken später hoffte Fred, es möge ein Gasthaus sein, das sich mit dieser exponierten Lage schmückte. Und dann auch noch Birken.

„Meine Lieblingsbäume“, verriet er dem zauselnden Wind, der nichts Besseres zu tun hatte, als das Geheimnis auf der zurückbleibenden Wiese für den zu erwartenden Morgentau zu verteilen.

Der Schotter der Auffahrt knirschte unter den Rädern. Wohlbehütet von vier riesigen Birkenstämmen fügte sich das Haus in den ihm zugewiesenen Platz. Der schöner nicht sein konnte. Schon der Parkplatz protzte mit einem Ausblick, der mancher Villa gut gestanden hätte. Und der Weg zur Terrasse, von deren Seite das Haus betreten werden wollte, ließ Fred staunen. Konnte der See innerhalb weniger Minuten sein Gesicht so verändern? Arg kitschig meinte es die Sonne, kratzte mutig ein loses Band schmaler Wolken, durchdrang mit starken Fingern die Fugen und warf ein enorm großzügiges Muster des Himmels auf die endlose Landschaft. Er hörte die Stille. Und seinen Magen.


GASTHAUS FERNBLICK


versprachen die dicken, roten Lettern über dem Eingang.

Wie sinnig.

Lebkuchenbuchstaben fielen ihm ein. Und Hexenhäuschen. Von einigen Buchstaben blätterte die Farbe, als wären sie unaufmerksame Minuten zu lange im Backofen geblieben.

„Hoffentlich sieht die Küche nicht genauso aus“, vertraute er seinem Schatten an.

Mit einem flüchtigen „Grüß Gott!“ hieß ihn die Frau hinterm Tresen willkommen, ohne von ihrem Weizenbierglas aufzuschauen, welches sie akribisch polierte. Fred stand zwischen Tür und Angel, er war nicht sicher, ob er sich einfach irgendwohin setzen oder besser fragen sollte.

Links neben der Tür beanspruchte der Schanktresen ein gehöriges Stück Raum. Ein Quader aus rotbraunem Holz mit einem Flachdach aus gebürstetem Blech und eingelassenem Spülbecken. Sofort spürte er die beruhigende Atmosphäre, die dieses wuchtige Möbel ausströmte.

Sicher einiges älter als ich.

Tische und Stühle waren aus dem gleichen Holz, auf den Tischen zu kleine, spitzengesäumte Decken. Ein Eindruck anständiger Bescheidenheit. Dann fielen ihm die Säulen auf.

Ungewöhnlich. Passen eher in eine Fabrikhalle.

Auf den verschnörkelten Gusseisensäulen ruhten dicke Balken. Der Raum erhielt dadurch eine angedeutete Gliederung in offene Parzellen.

Wahrscheinlich haben sie die Wände rausgerissen, damit´s größer wirkt.

Eine Menge kleiner Fenster in den zwei Eckwänden verstärkte den gemütlichen Eindruck und gaben Freds Beobachtungen Recht. Eine breite Doppeltür zur Terrasse, schmale, unnötige Vorhänge, weißer Kalkputz.

Neugierig ging er ein paar Schritte auf den Wandschmuck zu. Ein Sammelsurium von Fotografien, aufgehängt wie eine Ahnengalerie, die meisten offensichtlich aus dem gleichen Jahrzehnt. Unterwasseraufnahmen von Fischen in tollem Licht, daneben Schiffswracks, grafisch gut aufgebaute Bilder, Silhouetten von gegen den überbelichteten Himmel fotografierten Fischerbooten. Alles aus der Taucherperspektive. Ein eigenartiger Ort dafür.

Das sieht nach mehr als einem Hobby aus. Da hat jemand eine Passion.

„Setzen´s sich hin, wo´s woll´n. Is überall schee. Vielleicht do, grod links am Fenster, hams an schöna Ausblick.“ Die Wirtin riss Fred unsanft aus seinen Beobachtungen – die sie als Unschlüssigkeit deutete - und trocknete das nächste Glas.

„Sie haben so eine wunderschöne Terrasse, da würd ich gerne sitzen.“ Mit erfolgsgewohnter Klarheit trug er seinen Wunsch vor. Auf dem Weg zur Glastür bremste ihn die Wirtin.

„Geh hörn´s, wir habn noch gar net g´wischt draußn, und keine Deck´n sind gebügelt.“

Schmal und abgearbeitet war die Alte, aber ihre Worte versperrten Freds Weg wie eine Mauer. Er zögerte kurz, Widerspruch war er nicht gewöhnt, kramte aber schnell zusammen, was er für diesen Fall für nötig hielt.

„Ich bin net aus der Gegend, wollt halt die Aussicht und die gute Luft genießen. Etz tun´s mer halt den G´fallen.“ Als nächstes würde der Gast womöglich ein Bierglas greifen und um sein Leben polieren. So weit wollte es die Wirtin nicht kommen lassen.

Mit einem stimmlosen „In Gott´s Namen“ entließ sie ihn.

Die Stühle waren nicht angekettet.

Das gibt´s auch nur noch auf der Höri.

Fred war schnell eingenommen von dieser Oase - er spürte nicht mal, wie entspannt er tatsächlich schon war, wie die Gedanken durcheinander sprangen, von einem unwichtigen Thema zum nächsten. Es war ihm leicht gefallen, die Sprache der Wirtin aufzugreifen, obwohl er sehr bewusst damit umgegangen war. Hätte auch schiefgehen können.

Hier war die Welt noch in Ordnung - abgesehen von, vielleicht auch wegen ein paar Menschlichkeiten.

Ungeduldig wartete er auf die Bedienung und beobachtete die ziehenden Wolken. Bis ihn eine Engelsstimme auf die Erde zurückholte.

„Grüß Gott! Möchten Sie schon was zum Trinken?“ Es war die Bedienung, kein Engel. Mit einem unaufdringlichen Lächeln legte sie die offene Speisekarte auf den Holztisch.

„Äh, ja, doch.“ Und als ob die Speisekarte helfen könnte, sich zu sortieren, schaute er hin und her und wieder hoch zu ihr. „Ein Radler bitte.“

„Gerne.“ Damit ließ sie ihn allein.

Unterschiedlicher kann Personal ja nun wirklich nicht zusammengestellt sein.

Sein geschultes Auge konnte er nicht in Urlaub schicken. Und schon war die Unruhe zurück. Ein flottes Wesen, das ihn da bediente. Und Engel, Engel waren ab sofort dunkelhaarig, mit Locken, die sich kräuseln wie die Bodenseewellen bei Sturmwarnung. Ein guter Tag zum Balzen.

Mara hatte ihn erkannt. Nachdenklich mischte sie das Radler. Was wollte er hier? Nach all den Jahren. Sie hatte ihn vergessen, irgendwann, endlich. Nach langer Zeit und vielen versteckten Tränen.


Auf dem Bootssteg waren es Freudentränen. Fred konnte echt komisch sein. Fast wäre sie ins Wasser gefallen, aber er wollte und wollte nicht aufhören. Sie war extrem kitzlig, das wusste er doch und sie wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Er war wieder zu ihr zurückgekommen. War es das zweite Mal, oder das dritte Mal? War sie ihm zu jung mit ihren 16? Immerhin war er zwei Jahre älter. Angeblich hatte er grade was mit einer verheirateten Frau aus dem Nachbarort, genau wusste das natürlich niemand, aber das Maul haben sich einige aus ihrer Clique trotzdem darüber zerrissen. Sollen sie doch. Sie wollte es gar nicht so genau wissen. Heut Nacht war er bei ihr.

Sie saßen am Bootssteg beim Haus seines Vaters, erfanden die Welt neu und spuckten um die Wette Kirschkerne in den See. Der Mond hatte ein Einsehen, beleuchtete den romantischen Flecken und die Kreise, die die Kirschkerne hinterließen. Es war seelenruhig, das Schilf raschelte vertraut, Fred wühlte in ihren Haaren, langsam kippten sie auf den Steg und küssten sich. So konnte es ewig weiter gehen.

Plötzlich hörte er auf und suchte aus dem Korb ein besonders schönes Kirschpaar. Frech hielt er es vor ihren Mund, ließ sie aber nicht zuschnappen, sondern hängte es an ihr Ohr. Sie lachten, genossen die Situation, kicherten wie kleine Kinder, boxten sich sachte, als wollten sie sich gegenseitig vom Steg stoßen. Fred näherte sich knurrend wie ein Raubtier und knabberte das Kirschpaar vom Ohr, was Mara mit kleinen „Hilfe, Hilfe“ -Schreien begleitete.

„Ich hab endlich ne Sitzbank gefunden. Kann ich morgen abholen. Originalrot. Kommst mit?“ Fred legte seinen Arm um Mara, sie spürte seine Kraft – und seine Leidenschaft für sein Moped. Er sprach ja nicht viel, aber darüber gern. Es war ein Glückskauf, 750 Mark musste er hinlegen für die KS 80. Der Typ wollte mehr rausschinden, „ist schließlich garantiert eine der Letzten“, meinte er.

„Das war aber vor acht Jahren“, antwortete Fred. Damit war das Verhandlungsgespräch beendet. Dessen Mutter wollte ihn nicht weglassen, noch ein Stück Kuchen, noch eine Cola und wie nett er doch sei und überhaupt ist das Motorrad ja jetzt in guten Händen. Ja, das war sie, die Zündapp. Er hatte noch keinen Führerschein, dafür eine KS 80 Super. War aber noch nicht ganz das, was er wollte.

Sein Traum - wenn er zurückdachte, war das zu der Zeit tatsächlich einer seiner wenigen Träume, den er hatte und stur verfolgte. Bis er erfüllt war. Er wollte eine KS 80 Sport. Davon wurden aber nur 500 Stück gebaut. Bis die Japaner den deutschen Mopedherstellern vollends die Luft abdrehten und auch die Marke Zündapp die Fabriktore schließen musste. Fred fand keine ‚Sport’, nicht zu dem Preis, den er hätte bezahlen können. Also beschloss er, einfach eine der weitaus gängigeren ‚Super’ umzubauen.

Zwanzig Wochenenden beim Abschleppdienst steckten da drin, selbst verdientes Geld. Das wenige Taschengeld vom Vater reichte grad so für Zigaretten und einmal im Monat eine Flasche Bacardi. Die dazugehörige Cola ging nebenher. Bis zum Sommer hatte er die Maschine zweimal zerlegt, die von einigen Stürzen verschrammten Blechteile wieder ausgebeult und lackiert. Er musste sowieso alles neu lackieren. Die Bauteile der Modelle waren zwar gleich, aber Verkleidungen, Schutzbleche und Tank waren Blau, die Alugussfelgen Silber. Die weiß zu spritzen, ohne daß es nach Pfusch aussah machte ihn fast wahnsinnig. Noch schwieriger würde der Tank werden, das ahnte er. Zweifarbig rotschwarz, mit einem dünnen weißen Streifen dazwischen. Der Streifen musste auf der Höhe der Sitzbank ansetzen und schräg nach vorn bis zum Wasserkühler laufen. Er hatte es hinbekommen, sah richtig gut aus.

Das waren Wochen, da hatte Fred keine Fingernägel mehr, sondern schwarze Krallen und Schmiere in den Fingerfalten, die es nicht lohnte, nur für die Schule ständig zu schrubben.

„Sehen doch morgen eh wieder so aus“, war sein einziger Kommentar, wenn der Vater zufälligerweise auf sein Äußeres einging. Fred vermisste nicht einmal ein Lob seines Vaters, immerhin hatte er in monatelanger Arbeit einen Modellumbau geschaffen, der nun glänzend vor ihm stand. Er war dermaßen stolz auf sich.

Über 200 Mark musste er noch für Sprühlack, einen schärferen Vergaser und die Sitzbank hinlegen. Der Vorbesitzer hatte sich glücklicherweise schon die originale Sebring-Auspuffanlage der ‚Sport’ an seine ‚Super’ gegönnt. Diese Investition konnte er sich also sparen.

Eigenartigerweise gab er mit dem Sport-Auspuff bei den Mädchen mehr an als bei den Jungs. Als ob er bei ihnen mehr Sachverstand voraussetzte und glaubhaft machen konnte, mit der Anlage und den 10 PS 115 Sachen drauf zu haben. „Normal läuft die 80, aber was ist schon normal?“

Träumend fuhren sie dem frühen Morgen entgegen. Die kalte Nacht hielt sie wach. Es gab so eine Stunde auf der Höri, da schienen sich die Geräusche aus dem Weg zu gehen. Kein bellender Hund, keine krächzenden Vögel, noch kein wichtigtuerischer Hahn. Der einzige Wind, der zu spüren war, war der Fahrtwind. Mara klebte an Freds Rücken, die Arme fest um ihn geschlungen. Mit Fred verstand sie sich sprachlos, ihr Körper war sein Körper, der das Moped in die Kurven drückte, bis die Fußrasten auf der Straße schleiften.

Fred hatte ihr von einem Kumpel mit großer Klappe erzählt, ganz cooler Typ und so. Saß hinten drauf und hätte fast einen Unfall provoziert.

„Der Typ hatte Angst, daß wir umkippen und hat sein Gewicht immer auf die andere Seite wie ich gelegt. Ich kam schier nicht durch die schnellen Kurven. So ein Idiot.“ Er musste lachen, als er dran dachte. „Der hat´s bis in die Steinzeit verschissen, das sag ich dir.“

Mara lachte ihn aus. „Die Steinzeit liegt aber in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft“.

Fred schaute sie an, wie nur er es konnte. Kein ausbüchsen möglich. Und antwortete mit einem geheimnisvollen Unterton:

„Wer weiß?“


Mara haderte. Das Bier schäumte. Zu groß war der Druck, den sie ins Glas leitete. Langsam setzte sich der Schaum. Wenn sie jemand heut früh gefragt hätte, ob sie sich aus dem Stand an ihren untreuen Fred erinnern könnte, ins Gesicht hätte sie dem gelacht und den Vogel gezeigt. Nun stand sie da und wunderte sich über sich selbst. Als ob über all die Jahre ein Bodensatz Fred in ihr erhalten geblieben war, auf dem sie ihr Leben aufbaute. Dabei war es definitiv nicht so. Was sollte sie tun? Sollte sie sich zu erkennen geben, möglicherweise erinnerte er sich ja von selbst, wenn er sein Essen bestellte? Auf dem Weg nach draußen fiel ihr eine dritte Möglichkeit ein.

„Der Wurstsalat auf Ihrer Karte, machen Sie den selbst?“ Fred wollte auf Teufel komm raus ein Gespräch anzetteln, mehr als nur seine Bestellung abgeben, mehr als zehn Sekunden dieser Frau ergattern.

„Der ist nicht nur frisch, den macht meine – äh - den macht die Chefin höchstpersönlich.“ Freundlich wie immer, aber unsicher wie selten, was Fred nicht beurteilen konnte, antwortete sie. Mara konnte mit Gästen umgehen, die öfters aufdringlich auf sie einredeten, wenn mehrere Seidel Bier in den durstigen Kehlen verschwunden waren.

„Dann nehme ich eine große Portion. Aber nur, wenn ich Bratkartoffeln dazu bekomme.“ Wenn Fred jetzt neben sich sitzen könnte. Würde sich wundern, über diesen Ton, der hinter dieser Forderung steckte. Ein Ton, den er normalerweise nur anschlug, wenn das Gegenüber nicht mehr zu fremd war – oder er mehr wollte.

‚Er hat keine Ahnung’, dachte Mara und bevor sie antworten konnte, plapperte Fred weiter.

„Und wenn ich fragen darf, ist auf diesem wunderschönen Fleckchen Erde immer so wenig los?“ Fred verwies mit großer Geste auf diese, seine Oase, stoppte seine Hand direkt vor Mara und beendete die ausladende Bewegung in der Form eines Regenbogens.

„Sie sind zu früh.“ Längere Sätze wollten aus Maras Mund nicht raus. Sie schluckte runter, daß er eigentlich zu spät dran war, viel zu spät. ‚Und auf dein anbaggerndes Gesülze steh ich auch nicht mehr’, dachte sie schnippisch, aber auch: ‚was Du kannst, kann ich schon lange’.

„Möchten Sie die Bratkartoffeln mit oder ohne Speck?“

„Am liebsten mit allem.“ Fred bot einen ganz und gar wertfreien Blick dazu, damit die Empfängerin nicht gleich auf die Idee kam, dem unverschämten Gast mit einer Ohrfeige zu antworten.

Sollte er sein Spielchen haben. „Das dauert aber ein Weilchen.“

„Macht nix. Ich hab Zeit.“ Zum Beweis, den er niemandem schuldig war, streckte er seine Beine noch weiter unter den Tisch und lehnte sich demonstrativ an die Wärme abstrahlende Hauswand. Ja, man könnte sagen, er genoss die Situation.

„Was schwätzt denn so lang mit dem Kerl da drauß´n, der so tut, als möcht er aus der Gegend sei?“Hedwigs bissige Worte begleiteten Mara auf dem Weg zum Tresen, wo sie außer dem Essenswunsch des Gastes nichts zurücklassen wollte.

„Ach nix weiter. Ich dacht, es hätt ein früherer Klassenkamerad sein können.“ Sie legte den kleinen Bestellzettel auf eine trockene Stelle vom Tresen und fuhr sich so beiläufig wie möglich durchs volle Haar. „Aber ich hab mich getäuscht.“ Das „schon wieder“ behielt sie lieber für sich.


Fred brauste durch die Dunkelheit. Er war wütend. An den Bratkartoffeln lag es nicht, da hätte er sich reinlegen können, so aromatisch war die Balance zwischen Kümmel, einem Hauch Majoran und dem frischen, nicht hart gerösteten Speck. Und erst der Wurstsalat. Zum Teufel! Er kam nicht drauf, welchen milden, fruchtigen Essig Maras Chefin benutzte, der so eine dominante, aber leichte Säure hatte. Da war bestimmt kein Gramm Zucker nötig, um ausgewogen und bekömmlich zu schmecken. Das Öl schien vorgewärmt, gab einen zarten Glanz auf die Schwarzwurst und zog nussig in seine Nase. Raffiniert. Hätte er dieser Gegend doch eher ranziges Öl und dreimal aufgewärmte Bratkartoffeln zugetraut.

Glücklicherweise verschlug es ihm nicht den Appetit, sondern nur die Sprache, als Mara mit den schlichten, aber nett angerichteten Porzellanschüsseln auf die Terrasse kam, ihm zuvorkommend auftrug und ihn so ganz nebenbei, als wäre es die normalste Angelegenheit der Welt, fragte: „Fährst eigentlich noch Motorrad, Fred?“


Fred kurvte mit quietschenden Reifen um einen ländlichen Kreisverkehr. Weg war die gemütliche Landpartie vom Nachmittag. Die gleiche Strecke, eine andere Stimmung, eine neue Zeit. Wenn er ehrlich war, hatte er sich kurz gefragt, ob diese unglaublich nette Bedienung Mara sein konnte. Schon bevor sie sich zu erkennen gab. Wenn er noch ehrlicher war, wollte er es gar nicht wissen. Sonst hätte er sie ja nicht vergessen gehabt...

Seine Mara. Es waren zu viele, um sich bei jeder daran erinnern zu können, warum es auseinander ging. Wenn er überhaupt je mit einer richtig zusammen war. Trotzdem erinnerte er sich. Sie war eine Ausnahmeerscheinung, zugegeben, eine schwarzlockige Schönheit mit südländischem Einschlag. Völlig fehl am Platze, hier auf der langweiligen Höri. Nur ihr völlig schüchternes Wesen wollte damals nicht dazu passen. Hatte sie mittlerweile komplett abgelegt. Überfahren hatte sie ihn. Nicht schlecht.

„Darf ich dir Gesellschaft leisten?“ Mara setzte sich einfach.

Fred aß und lobte, Mara erzählte und fragte. Er antwortete und staunte, sie nickte, schaute durchs Fenster. „Deine Chefin beobachtet uns“, entging auch ihm nicht.

„Meine Schwiegermutter“, sagte sie lakonisch. Die machte keinen Hehl daraus, noch während sie die Gäste in der Stube bediente, mit kalter Miene Fred zu mustern.

Wenn Blicke töten könnten.

Mara wollte reden. Sie brauchte jemanden, dem sie, frei von der Leber weg, erzählen konnte. Aber keine großen Geheimnisse. Nicht Fred. Dem nicht. Noch nicht. Jemals wieder? Aber nur ihr Leben. Was hieß schon nur? Die schöne Mara war mit den Jahren ein wenig füllig geworden, resolut und zupackend. Das stand ihr gut. Fand Fred.

Er hatte noch nicht die Hälfte seines Abendessens verdrückt, da wusste er schon viel: Mara hatte eine fast zwölfjährige Tochter, die noch mindestens zwei Wochen eine Brille mit einem blinden Glas tragen musste. Eine harmlose Augenentzündung. Dann gab es noch eine Schwiegermutter, mit der bewirtschaftete sie das Gasthaus. Mit wochenendlichen Küchenhilfen. Mara hatte eingeheiratet, eine Liebesheirat in einen florierenden Fischereibetrieb mit Räucherei und Gastwirtschaft. Zwei Brüder gab es, Zwillinge, aber nur eine Mara. Schwager Gabriel war vor zehn Jahren in den See gefallen, morgens um halb fünf, beim Netze hochziehen, und nicht mehr aufgetaucht. Fred erinnerte sich an das Unglück seiner Mutter. Er schluckte. War aber weit weg von der Stimmung, das anklingen zu lassen. Und Mara tat es auch nicht.

Vier Tage hatte es gedauert, bis sie Gabriel gefunden hatten. War kein schöner Anblick. Große Trauer und noch größere Last hatte dieses Leid in die Familie getragen. Die Arbeit, bisher auf fünf Menschen verteilt, blieb jetzt an vieren hängen. Und Mara hatte noch Lisa zu versorgen, ein kleines, süßes Mädchen. Richtig glücklich war Mara mit ihrem Johannes nur in den wenigen Stunden, die sie für sich allein hatten. Lisa wurde vom Großvater vergöttert, die Großmutter verhärmte zusehends. „Mir brauchet koin!“ Alle zwei Tage betete Hedwig Sieder diesen Satz ungefragt an die Familie.

„Vor drei Jahren war mein Schwiegervater mit den Kräften am Ende. Wir fanden ihn neben der Räucherei. Die besten Felchen weit und breit. Aus. Und vorbei.“ Fred blieb der Bissen im Hals stecken, so unbeteiligt erzählte Mara über den Tod des alten Sieder. Sie ließ es nicht zu, Fred sollte keine Fragen stellen, erzählte weiter, jeden Moment konnte die Schwiegermutter auf die Terrasse kommen und sie mit einer fadenscheinigen Begründung nach innen zerren, weg von Fred. „Da waren´s nur noch drei!“

Mara nippte an ihrem Apfelschorle, das sie vorsorglich mitgebracht hatte, nebst einem zweiten, unbestellten Radler für Fred, damit sie nicht zu schnell wieder aufstehen musste. „Aber auch nicht lange. Ein gutes Jahr später, es war eher ein schlechtes, verschwand Hannes von heute auf morgen. Ich seh es wie gestern, es war der 30. Juli 2010. Plünderte das Familienkonto und war weg. Einfach weg.“

Eine kurze Pause entstand, die sie etwas näher brachte.

Und wieder spürte sie, wie leer, wie verzweifelt sie damals war. Verzweifelt, weil sie es sich nicht erklären konnte. Warum war er gegangen? Sie hatte keinerlei Anzeichen gespürt. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf. Fred wollte sie nicht unterbrechen, auch nicht in ihrem Schweigen. Das einzige, was er gerade anbieten konnte, war zuzuhören. Es wunderte ihn nicht, daß das Verhältnis zwischen den zwei Frauen eisiger wurde, je weniger Männer in der Familie waren. Eine grausige Vorstellung für ihn, diese Zwangsgemeinschaft, zwei Menschen, die gegensätzlicher nicht sein konnten, führten gemeinsam, wenn dieses Wort dafür verschwendet werden durfte, eine Wirtschaft. Widerwillig versuchte er sich eine ähnliche Situation zwischen sich und seinem Vater vorzustellen.


An der Freien Tankstelle tankte er und suchte etwas zu lesen für den Sonntag. Neben dem „Konstanzer Boten“ lag „Die Zeit“ noch übrig im Regal. Heute war Samstag. Sicher das letzte Exemplar. Oder das Einzige. Nahm sich auch „Die Zeit“, schon wegen der auffälligen Titelunterschrift.

Fred war in Hemmingen angekommen. Die weit verteilten Straßenlaternen warfen ihr mattes Licht in seinen Wagen. Die Wochenzeitung schlug mit ihrem Deckblatt nach den grauen Schatten und verlangte Freds Aufmerksamkeit. Amüsiert registrierte er noch einmal die Überschrift: „DIE ZEIT“ und darunter „...ist relativ!“


Sonntagfrüh

Kein Kaffee der Welt konnte Freds Kräfte zurückholen.

Hatte er je einen Hauch von Lust verspürt, in diesem Haus zu bleiben, so war sie mittlerweile versickert. Wieder eine unruhige Nacht. Bockig saß er an einem der alten Gasttische, in die Eckbank gedrückt von seiner eigenen schlechten Laune. Rührte mit dem Löffel im Kaffee, obwohl weder Milch noch Zucker aufzulösen waren.

„Es reicht. Was mach ich eigentlich noch hier? Zusehen, wie mich dieses Haus ruiniert, an den Rand des Wahnsinns treibt? Oder darüber hinaus!“ Allein sprach man am besten mit sich selbst.

Ein schönes Haus. Aber jede Ecke erinnerte Fred an seinen Vater.

Hätte ruhig mal anrufen können. Hatte wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen.

Fred war nicht nur ein guter Geschäftsmann, er war auch ein Verdrängungskünstler. Er rief nicht an, sein Vater rief nicht an. Und schon war sein Vater der familiäre Bremsklotz, der sich in diesem Nest eingeigelt hatte um seinen Weltschmerz zu pflegen. Sein Vater war für ihn schon längst gestorben. Unruhig ging er ein paar Schritte.

„Wenn ich nur eine winzige Idee hätte, was ich mit der Hütte anstellen soll. Fred, ich sag dir, das ist auf gar keinen Fall eine Alternative für Bacharach. Dort steht eine Goldgrube. Und hier? Ein Hexenhaus.“ Niemand in der Nähe, der ihm widersprechen konnte. Niemand, dessen Widerspruch er geduldet hätte. Er schaute sich um. Der Wirtsraum war leer, seine Sätze klangen trotzdem nicht hallig, die Bänke erinnerten sich an die müden Körper, die abends hier ihr letztes Glas tranken.

Träge schlurfte er zur Theke zurück, bedrängte sich selbst mit „Ich brauch ne Eingebung, sonst sag ich ab“ und warf den Löffel achtlos in die Spüle. Ein grässliches Scheppern. Ging nicht dieser Tage etwas zu Bruch, ein kleines, dünnes Glas vielleicht? Er hatte sich am Finger verletzt, geblutet. Das wusste er noch. Er durchsuchte die Schankregalen. Unruhig wanderte sein Blick in jede Ecke. Kein übersehener Splitter. Nichts fehlte. Kein Glas, kein Krug. Alles in Reih und Glied. Lückenlos. Was er von seiner Erinnerung nicht sagen konnte. Es war Sonntag. Das war klar.

Warum nehm ich nicht einfach die Zeitung, fahr mit dem Boot auf den See hinaus und lass den lieben Gott einen guten Mann sein?

Lass den lieben Gott einen guten Mann sein - Freds Vater sagte das oft.

Allerdings wäre dem nie in den Sinn gekommen, eine Zeitung mit auf den See zu nehmen, dafür hatte er zu viel zu tun.

Fred hatte hier nichts mehr zu tun, schnappte sich Handy und die Zeitungen und tuckerte wenig später Richtung Schweiz.


„Bitte nicht über die Reling lehnen!“ schimpfte der Kapitän durch die Bordsprechanlage. Das folgende „Saupreis´n, die Japanischen“ war nur für die Ohren seines Bootsmannes im Fahrstand des Schiffes bestimmt.

Der Kapitän war Bayer, das hörte Ferdinand Beißwanger unschwer aus den Ansagen heraus. Weit schwerer fiel ihm die geografische Zuordnung der Trachtengruppe, die mit 30 Personen auf die „Stein am Rhein“ eingefallen war. Japaner waren es keine. Die Auskunft hätte Beißwanger dem Kapitän zuverlässig geben können, falls er die bayrische Beschimpfung gehört hätte. Er als Historiker... Beißwanger wischte den Gedanken beiseite, er war heute nicht als Historiker unterwegs. Einmal einen entspannten Ausflug auf dem See genießen, ohne Recherche, ohne Auftrag. Er atmete tief ein, prüfte, ob sein Hut noch saß und stellte fest, daß auch ein Rentner dauernd beschäftigt sein konnte.

Ferdinand Beißwanger musterte Farben und Schnitte der Kleidung. Die Leute sprachen französisch, konnten aber sowohl aus der französischsprachigen Schweiz kommen wie aus dem Mutterland der Sprache. Er kam nicht weiter, das ärgerte ihn. Aber es amüsierte ihn, zuzuschauen, sie alberten und lachten, fotografierten um die Wette, Möwe mit See, Möwe mit Schiff, Gruppe mit Himmel, Gruppe mit Schweizer Flagge.

Eine füllige Schönheit kam auf ihn zu.

„Photo please?“ lächelte sie ihn an, hielt ihm sachdienlich übersetzend gleich ihren Apparat entgegen und winkte die Gruppe herbei. ‚Die halten mich also für einen Engländer’, dachte Beißwanger. Wundern musste er sich nicht. Beißwanger kleidete sich gerne praktisch und seriös. Also meist eine breit gerippte Cordhose, ein dünnes, frisch gebügeltes Hemd, darüber Strickjacke oder Anzugweste. Auch im Sommer, egal wie warm es war. Seine dünnen, zurückgekämmten Haare waren stets von einem Hut bedeckt, der möglichst klein, also unauffällig sein musste. Bescheidenheit war angesagt.

Beißwanger war dürr aber nicht magersüchtig. Er machte sich eben nichts aus Essen und betrachtete es höchstens als willkommene Störung seiner Studien. Beißwanger hatte eine Körperhaltung, die nach alter Schule, förmlicher Erziehung und vornehmer englischer Zurückhaltung aussah. Daß er stets ein frisch gebügeltes Taschentuch in seiner rechten Hosentasche trug, konnte natürlich niemand sehen.

Er nahm also den Apparat, schoss ein paar Aufnahmen von den sich ständig neu positionierenden Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, auf jedem Bild eine neue Grimasse zu schneiden. Er schmunzelte. Seinen Dresscode hatten sie erkannt. Er dagegen war mit ihnen nicht weiter gekommen. Würde er sich im Augenblick auf einer Bodenseefähre im Mittelalter einfinden, wüsste er sich besser zu helfen. Farbsymbolik und Kleiderordnung würden ihm geradeheraus berichten, daß eine Gruppe aus dem vorderasiatischen Raum anreiste und die Gruppe auf dem Vorschiff eine spanische Delegation des umstrittenen Papstes war. Das war sein Metier. Aber hier...

Etwas unzufrieden lehnte er sich zurück und ergab sich dem Fahrtwind. Auf der Bank lag sein Leitz-Ordner, den hatte er immer dabei, egal, wohin er ging. Es könnte ihm ja langweilig werden, es könnte ihm ja etwas einfallen.

Heute wollte Beißwanger entspannen und hoffte dennoch auf eine kleine Eingebung, gerne auch eine größere. Es war ihm sehr präsent, eine Chronik schreiben zu müssen, die sich an vielen anderen Druckerzeugnissen messen lassen müsste, die im Jubiläumsjahr den Markt überschwemmen würden. Er war auf der Suche nach einem „Alleinstellungsmerkmal“, wie sein Verleger etwas zu oft betonte.

Beißwanger spürte es, es lag in der Luft, ganz sicher zum Greifen nah. Er bewegte sich durch Konstanz, an Häusern vorbei, die schon vor 600 Jahren standen und versuchte den Geist einzuatmen, den sie neben vielen anderen Ausdünstungen absonderten. Dieser Heimvorteil musste doch zu irgend etwas nütze sein. Doch die Häuser und Gassen schwiegen.

Auch er konnte nur auf das gleiche Recherchematerial zugreifen wie andere Autoren auch. Er zählte auf seinen Stil, der wissenschaftlich fundiert und trotzdem lebendig das Geschehen in Konstanz nach 1414 für den Leser spürbar werden lassen sollte.

Trotzdem, er brauchte einen Knüller.

Trotzdem beunruhigte ihn dieser Druck im Moment nicht sonderlich. Der Ordner lag unbeobachtet neben ihm, noch drei Monate Zeit, das Manuskript abzugeben. Ein Gefühl, das er von sich nicht kannte: untätiges Genießen. Er hoffte, dieses Glücksgefühl möge nicht von kurzer Dauer sein. Es hatte eine Ursache.

Seine Recherchen hatten ihn auch letzten Freitag in die Konstanzer Universitäts-Bibliothek geführt. Über die zwei Faksimile-Ausgaben der gesuchten Bücher war er sehr erfreut, was ihn aber noch mehr entzückte, war die Tatsache, ein weiteres Kleinod entdeckt zu haben: Friederike Schmal, Teilzeitkraft der Bibliothek. Zwei Dinge wurden dadurch für Beißwanger wichtig: am nächsten Montag zur Schicht von Frau Schmal die gesuchte Richental-Chronik endlich in Händen zu halten – und sich vorzustellen, irgendwann mit ihr auf so einem Schiff eine kleine völlig ungeschäftsmäßige Kreuzfahrt einfach quer über den See zu erleben.

Der plötzliche Wunsch sich zu verabreden dürfte umso mehr verwundern, wenn man Ferdinand Beißwangers Leben kurz genauer betrachtete. Er war ein Single seit den Jahren, wo dieses Wort noch nicht einmal gängig war. Er lebte allein, zufrieden und extrem geordnet. Da war es nur logisch, in Mannheim, der Stadt der Quadrate und Zahlenstruktur zu leben und zu arbeiten.

Heute genoss er, sein Frühstück auf See einzunehmen. Kurz nach 9 Uhr hatte das Schiff in Konstanz abgelegt, die frühe Tour lockte mit einem „Schiffsfrühstück“, das er sich sicherheitshalber nicht wie ein „Käptn´s-Dinner“ vorzustellen wagte. So war es dann auch. Die Bedienung jonglierte warmen Kaffee durch die Reihen und verteilte harten Toast, der wohl an die rauen Zeiten erinnern sollte, als Schiffszwieback das Hauptnahrungsmittel für versoffene Matrosen war. Beißwanger nahm´s gelassen, heute konnte er jedem Umstand und jedem Klischee die passenden Zusammenhänge abgewinnen. Um dreiviertel eins würde das Schiff in Stein am Rhein ankommen, nicht ohne auf dem Weg dorthin an jedem deutschen und schweizerischen Uferdorf anzulegen. Ein wunderbar sinnloser Zickzack-Ausflug. Das Schiff hatte vor wenigen Minuten noch eine indische Großfamilie aufgenommen, die Steckborn verlassen wollte. Geradlinig steuerte der Kapitän Hemmingen auf deutscher Seite an, schaute kurz auf seine Schiffsuhr, prüfte, ob er im Zeitplan lag. Er befehligte zwar kein Schienenfahrzeug, aber auf Pünktlichkeit legte die Schweizerische Schifffahrtsgesellschaft großen Wert. Sie würden um 10 Uhr 45 anlegen. Er war zufrieden.

Beißwanger lauschte entspannt dem klingenden Chaos aus vielerlei Sprachen, ließ sich treiben in die Zeit weit vor seiner Zeit.

Ein Handy klingelte. Irgendwo draußen auf dem See.

Beißwanger entdeckte das Boot nicht gleich. Mokierte sich darüber, daß der Mensch an sich nicht mal auf dem Wasser ohne verflixtes Mobiltelefon auskäme.


„Keller.“

„Hallo Fred, also ich sag dir, aber erschrick nicht, diese Baufuzzis kosten mich Jahre meines Lebens. Wie die Kinder. Hab ja keine, aber ich sag dir, so stelle ich mir das vor. Jede Ecke muss man denen zweimal erklären. Aber ich sag dir, nicht wiederzuerkennen, wenn’s denn jemals fertig wird. Aber mal was ganz anderes. Kannst dich noch an diese scharfe Französin erinnern, die letzten Herbst bestimmt zweimal die Woche aufkreuzte und dich unbedingt heiraten wollte? Nicht nur, weil ihr das Lokal so gut gefiel... diese verrückte Schnepfe.“

Fred war grad überhaupt nicht nach Telefonplausch zumute, Verflossene gab es wirklich genug. Obwohl er sich wirklich freute, Pauls Stimme zu hören, hätte er ihn am liebsten angebellt, er möge ihn doch mit Banalitäten in Ruhe lassen. Beherrschte sich aber.

„War das die, die unbedingt mit mir in der Provence reiten wollte?“

„Ja gut, mein Lieber, sehr gut.“ Paul war hörbar stolz auf Freds Erinnerungsvermögen. „Und genau diese Tante ist mit einem knorrigen Typen auf unserer Baustelle aufgetaucht. Dachte zuerst, der ist ihr Vater. Schlich zwischen den Durchbrüchen rum wie ein gehfauler Alki. Aber nicht genug. Kannst dir vorstellen, der alte Elsässer war ihr Mann!?“

„Da hat sich der Geschmack der guten Blanche aber ganz schön verändert!“ Fred stierte gelangweilt auf die kleinen, ruhigen Wellen, die gegen die Bordwand schwappten.

„Egal. Jetzt kommt´s nämlich, halt dich fest. Sitzt du bequem? Dieser Typ, also natürlich Blanche, will das Lokal unbedingt, ich sage unbedingt! haben. Wenn´s sein muss, pachten. Für zunächst zwei oder drei Jahre. Was machst du eigentlich grade? Störe ich bei irgendwas? Mit diesen drahtlosen Dingern weiß man ja nie, wo man grad landet.“

„Nein, nein. Schon gut. Bin mit einer Zeitung auf dem See unterwegs.“

„Na ich hoffe, du hast sicherheitshalber auch ein Boot dabei. Dein Leben möchte ich haben.“ Paul lachte laut. Paul redete echt für zwei.

„Ich denk drüber nach.“

„Worüber denn? Ach so. Guter Witz. Du weißt ja, daß ich seit gefühlten 100 Jahren für ein halbes Jahr eine Segelauszeit nehmen möchte. Ganz ernst. Und schon kommt mir diesmal so ein Restaurantfuzzi mit seiner Küche dazwischen und ich Depp schick den auch noch für drei Wochen an den Bodensee und lass mich zumüllen. Bin ein echt guter Mensch, oder? Also, Spaß beiseite, ich mach´s kurz. Sie lässt alles so, wie es ist, also so, wie du es geplant hast, wofür ich hier gradstehe, schließlich bin ich Architekt, das kannst mir glauben! Er zahlt alles, komplett, sogar den ganzen Küchenumbau, Tutti! Verstehst du? Hallo! Fred? Sag piep.“

Fred schaffte ein langes Ausatmen, das wie eine Brise über den See fegte.

„Ah, gut. Du lebst. Merken. Küchenumbau plus zehnprozentige Gewinnbeteiligung, und zwar zusätzlich zur Pacht. Und, ganz nach deinem Gusto, Pachtverlängerung.“

Irgendwann musste Paul doch mal Luft holen. Fred schaukelte mitten auf dem See, ein Schiffbrüchiger, dem das rettende Treibholz nahte. Wenn überhaupt, dann fünfzehn Prozent.

„Da ist er doch, der Wink mit dem Zaunpfahl.“ Nachdenklich leise, eher für sich sagte er das, doch Paul merkte auf.

„Was ist? Welcher Zaunpfahl? Ich dachte, du bist im Wasser.“

„Auf dem Wasser, Paul. Auf dem Wasser. Eher schon über Wasser. Aber das ist eine lange Geschichte."

Paul druckste plötzlich rum. "Du Fred. Also das klingt ja echt unglaublich spannend, interessiert mich wirklich. Wollt dich aber nicht so lang aufhalten, auf deinem Überwasser. Nur kurz Bescheid sagen, weißt du. Überleg´s dir, hier läuft alles wie am Schnürchen, wie gesagt. Ruf bald mal rüber. So wie ich die, wie heißt sie? ja wie ich Blanche kenn, steht die in drei Tagen wieder auf der Matte.“

"Ich dank dir, Paul. Bist ein echter Kumpel."

Und das meinte Fred, bei allem unsensiblen Verhalten, das Paul oft überfiel, das meinte Fred ehrlich. Seit immerhin acht Jahren konnte keine Untiefe die Freundschaft zwischen den Beiden gefährden. Paul war - außer seiner Kochleidenschaft - die mittlerweile größte Konstante in Freds Leben. Sogar die Motorradbastelei hatte er frühzeitig an den berühmten Nagel gehängt.

"Machs gut, Paul. Bis bald."

"Machs besser, Freddy. Aber nicht so oft.“ Pauls anzügliches Lachen ging schon nicht mehr durch die Leitung. Fred kannte es eh, wie Pauls Lieblingssprüche.

Jetzt saß er also in der Klemme, konnte sich nicht mehr einfach raus winden aus dieser Heimatgeschichte, von wegen ‚ich muss mein Lokal weiterführen’ und so. Der Weg war frei, fragte sich nur, wohin. Freds unsteter Blick fiel auf die klamme „ZEIT", wieder las er "...ist relativ".

Und macht nur vor dem Teufel halt. Hat auch schon mal jemand gesungen. Er lächelte. Das stand ihm besonders gut. Darüber war sich der Schwarm Fische einig, der seit geraumer Zeit aufmerksam das Boot begleitete.

Anker setzen war sinnlos, der See hier viel zu tief. Ein bisschen Detailwissen hatte sich Fred mittlerweile also angeeignet. Flüchtig blätterte er den „Boten“ durch, ließ sich treiben, von der Strömung, von der spontanen Neugier, welche Zeilen und Bildunterschriften ihn wohl interessieren könnten. Er überflog nichts Aufregendes: die nächste Segelregatta wurde angekündigt, deren Organisationskomitee noch Helfer suchte, die Schweizer Einkaufspendler wurden kritisiert, die von der Butter bis zu Immobilienpreisen alles verteuerten, der Gemeinderat war darüber zerstritten, in welchem Umfang Konstanz das Konzilsjubiläum ausrichten sollte.

Interessant, nein, amüsant. Die Fraktion um Clemens Wackernagel bevorzugte die ganz große Lösung: vier Jahre Marktstände im Seepark, historisch fundiert, ein Frachtschiff im Hafen, natürlich originalgetreu, alle halbe Jahre eine Prozession, farbenprächtig und prunkvoll wie damals. Tausende Touristen sollten sich angezogen fühlen wie einst um 1414 die Tagelöhner, Adelige und Dirnen, die unaufhörlich in die Stadt drängten. Auf die Dirnen wollte Wackernagel diesmal gerne verzichten.

Herta Brot unterstellte Wackernagel nebst Gefolge Großmannsgebahren und fehlende Einsicht in die finanzielle Realität. Wollte sich die Stadt in den kommenden Jahren nicht ruinieren, war es völlig ausreichend und angemessen, zum Jubiläumsbeginn der Stadt sechs Wochen ein historisches Gewand überzustülpen. Ein üppiges Zeitfenster für Touristen, um an einem lebendigen Bild des spätmittelalterlichen Konstanz teilhaben zu können. Die Sache mit den Prozessionen könne man ja noch in Erwägung ziehen, aber wenn, dann nur jährlich.

Fred fragte sich, wie die Stadtväter und auch die -mütter so ein Jubiläum überhaupt organisieren wollten. Da waren die Querelen um Geld, Umfang und Historientreue fast nebensächlich. Der normale Konstanzer wollte und musste seinen Alltag bewältigen, war doch kein Komparse für japanische Fotoshootings.

Lächerlich. Soll wohl jeder Zweite im Sack rumlaufen und der glückliche Rest in Plusterhosen und Samtjacke?

Fred hatte keine Ahnung von mittelalterlicher Mode und keine Lust, auf die Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts zu verzichten, geschweige denn von historientümelnden Menschenmassen umgeben zu sein. Da blieb er lieber hier in seiner Oase. Der See wäre dann sicher auch kein gesicherter Rückzugsort mehr.

Freds Nachen trieb zum Schweizer Ufer. Er nahm es als Fügung, wollte hier irgendwo ein Ufercafé aufsuchen, die „Zeit“ lesen. Kurz bevor er in Steckborn an einer geeigneten Anlegestelle sein flaches Fischerboot festmachen konnte, fiel ihm auf der Uferstraße ein rotes Cabrio auf. Nicht viel davon, der Winkel hoch zum Uferkai machte nur die obere Hälfe sichtbar. Aber die Frau, die drinsaß, sah er dafür umso besser. Blond, schön, irgendwie dynamisch. Ganz sein Geschmack.

Hatten ihm die wehenden Haare gewunken? Eine Sekunde später war sie vorbei.

Diese erste Begegnung zwischen Renie und Fred.

Nein. Die Zweite.


Sonntagmittag

Louis Armstrong fragte mit kratziger Stimme, ob es denn möglich sei, ohne „sie“ so angeturnt sein zu können, wie andere von „Champagne“, oder „Cocaine“. Das Klavier erzählte von einer swingenden Bar, einzelne Akkorde baten zärtlich zum Tanz nach dem zweiten Drink. Louis blickte lächelnd von den Tasten auf, strahlte Renie aus den Augenwinkeln an. Renies Hände tätschelten den Takt ins Lenkrad, sie liebte es, wenn sich ihrer Phantasie immer wieder die gleichen Bilder anboten. Irgendwie zuhause. Immer den gleichen Kuchen, die gleichen ersten Sätze zwischen Vater und Mutter, Neugier, „an welchem Objekt arbeitest du grade?“

Und kaum lief ihre Lieblings-CD, schnurrte der Mustang wie am Faden gezogen über die Straßen, tauchte Louis Armstrong vor ihr auf, nein, sie stand in der schummrigen Bar neben seinem Stutzflügel und klopfte mit den Fingern den Takt ins glänzende Holz.

Eindeutig der richtige Moment festzustellen, was für ein wirklich gelungenes Wochenende hinter ihr lag.

Die anderthalb Tage mit Marc zeichneten sich nicht gerade durch lange Schlafenszeiten aus - obwohl sie die Zeit hauptsächlich im Bett verbrachten. Meistens fielen sie gierig übereinander her, verloren keine Zeit mit unnötigem Blabla. Ein sauberes ungekünsteltes erotisches Verhältnis also.

„I get a kick out of you!“

Die letzte Zeile verklang, Anita O´Day setzte den Cole-Porter-Reigen fort. Renie glitt mit ihrem Mustang die Untersee-Uferstraße entlang. Nach Sankt Gallen hätte sie zwar auch die A1 nehmen können, aber „der Tag ist jung und schön, so wie ich“ - und schon schmunzelte sie über die eher männertypische Floskel. Die Sprache der Männer, die war ihr vertraut. Deren Gedanken und Wünsche ebenso. Manchmal kam frau eben besser ans Ziel, wenn ein kleiner Umweg in Betracht gezogen wurde. Der Mustang röchelte gerne gemütlich die Uferstraße entlang, er sog eben viel lieber die frische Seeluft in seine Vergaser. Von Fischingen über Frauenfeld nach Steckborn war es nicht gerade eine Weltreise.

Mit diesem Chef hatte sie das große Los gezogen und sie beabsichtigte nicht, sich diese Eroberung von irgendeiner aufstrebenden Newcomerin streitig machen zu lassen. Geschweige denn zu teilen.

Außer mit Marcs Frau und den zwei Kindern. Notgedrungen. Marc Lüti schien jedenfalls gelassen mit seiner Zweigleisigkeit umzugehen.

„Alles Routine“ antwortete er gestern Abend wie aus der Pistole geschossen, als Renie ihn darauf ansprach, wie er sich so problemlos regelmäßig in seine Berghütte absetzen könne. Schnell schob er noch ein versucht spitzbübisches Grinsen hinterher. Renie zuckte nicht zusammen. Illusion war nicht das Band, das sie zusammenhielt. Jammern auf hohem Niveau, das überließ sie den reichen Geizfamilien aus Deutschland, denen - interessanterweise mehr als den Schweizern - partout ein Seegrundstück in ihrer Vita fehlte, „...hatte sich mein Studienkollege doch kürzlich ein schlichtes Badehäuschen mit Seeblick erworben“. „Wir brauchen einfach einen kleinen Fluchtpunkt, verstehen Sie. Mein Mann hat ja soviel um die Ohren. Sie wissen, was ich meine?“

Ja, sie wusste. Ein Pfropf für Frau und Kind, Stein gewordenes Valium, Stillhalten mit Aussicht. Bis der viel beschäftigte Gatte nach den Wochenendbesprechungen oder Auslandstagungen mit Sekretärin in den gesellschaftsfähigen Schoß der Familie zurückfand.

Sie klagte diesen Geldklüngel mit seinen familiären Arrangements überhaupt nicht an. Erstens verdiente sie daran und zwar durchaus ausgezeichnet. Und zweitens? Naja, es gab einen nicht zu leugnenden Zusammenhang: sie lebte in ähnlichen Verstrickungen wie ein Teil ihrer Kunden.

Renie hatte die Absicht, das ganze Bodenseeufer zu erobern, zu vermarkten, zu versilbern. Ihre Strategien sollten einer Gelddruckmaschine für Lüti-Boden gleichkommen. Diese Maschine wollte mit Informationen, Ideen, Visionen gefüttert werden. Der Chef brauchte einen Jungbrunnen. Mit ihren 34 Jahren präsentierte sie ihm eine komfortable Mischung aus Profession und Phantasie. Als Projektleiterin und Geliebte fiel es ihr leicht, damit in beiden Bereichen zu glänzen.

Ihre Eltern - Renie war auf dem Weg zu Ihnen - waren vor Stolz nicht mehr zu bremsen. Wussten sie doch nur von der einen Hälfte des Engagements ihrer Tochter. Nicht jeden Tag schaffte es ein Mädchen aus Sankt Josefen, in einer der in der Wirtschaftswelt anerkanntesten Universitäten einen Studienplatz zu bekommen. Eine Menge Äcker hätte der Bauer verkaufen müssen, um die Uni zu bezahlen. Sie schaffte es irgendwie auch so.

Heute war ein guter Tag. Wie die meisten der gemeinsamen Wochenenden, an die sie gerne, aber ohne Sentimentalität dachte. Trockene Bässe verfingen sich in den straßensäumenden Kiefern des Wäldchens von Au bis Frauenfeld. Auch durch Fischingen dröhnte Nate Dogg. Verkündete seine Botschaft ungefragt in Sirnach, verfolgt von verständnislosen Blicken verschreckter Wanderer.

An der einzigen roten Ampel in Frauenfeld machten sie fünf Halbwüchsige an, die sicher täglich eine halbe Stunde vorm Spiegel standen, so akkurat waren die Bärtchen rasiert. Die Jungs groovten zu Nate Doggs Rhythmen brav über den Zebrastreifen, gierten aber zu Renie, als würden sie am liebsten zu ihr ins Cabrio springen. Das Paket hätte ihnen sicher gepasst: eine blonde Braut, ein roter Schlitten, schwarze Musik.

‚Und wovon träumt ihr nachts, Jungs?!’ dachte sie beim beschleunigen und ließ den Jungs nichts als ein kraftvolles Röhren des Motors zurück.


Sonntagnachmittag

Monoton brummte der Außenborder. Der hochgezogene Bug schnitt leicht durch die schäumenden Kronen. Unmerklich passierte Fred die Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland. Ähnlich mühelos glitt seine Stimmung in gelassene Bahnen, sein Ärger verlor, verwirbelte sich in den Heckwellen.

Wie wohl das Wasser tat, wurde Fred erst nach vielen Tagen bewusst. In der Zwischenzeit ließ sich der See nicht beirren und arbeitete mit der ihm eigenen Wechselhaftigkeit weiterhin an Freds Wohlbefinden. Aufgewühlt, unstet, mindestens verärgert - so wäre Freds Verfassung zu beschreiben. Er musste sich regelrecht zwingen, zu entspannen. Zwei, drei Stunden in einem Schweizer Ufercafé zu sitzen, die eine „ZEIT“ lesen und die andere dabei verstreichen lassen war nicht gerade das, womit er sich meist beschäftigte.

Konrad Keller muss sich mit Einstein beschäftigt haben. Fred Keller blieb nicht nur das völlig verborgen. Schließlich hatten sie 18 Jahre Zeit, sich ihr Leben vorzuenthalten. Zumindest das war ihnen gleichermaßen gut gelungen.

An zwei Buchrücken erinnerte sich Fred, auf denen der Name Einstein auftauchte. Aber wo, fiel ihm nicht ein. Wie wenig er doch wusste. Wie wenig er wissen wollte von seinem Vater.

Absurd: ein Bodenseefischer beschäftigt sich mit Einstein... hätte sich besser um seine Zucht gekümmert. Was ihn da wieder geritten hatte?

Genug jetzt.

Fred drosselte den Motor, langsam neigte sich die Bootsspitze dem Wasser entgegen. Mehr verborgen als gut einsehbar schienen Fassaden zwischen der wild wuchernden Uferbepflanzung durch. Einige bescheidene Holzhäuser, gut und gerne mehr als hundertfünfzig Jahre alt, daneben ein futuristischer Betonkeil, getrieben in die wehrlose Natur. Weiter östlich ein Glasufo, weit über den See ragend. Alles gleichermaßen versteckt, kokett verborgener Reichtum hinter kupferbedampftem Glas.

Schlimm genug, daß die Bebauungsrichtlinien offensichtlich ähnlich unterspült werden wie die Uferbefestigungen vom Wellenschlag. Muss man unbedingt jede Geschmacklosigkeit, die sich bezahlen lässt, genehmigen?

Fred war nicht neidisch auf die Protzerei geschmacksresistenter Geldaristokraten. Das war ihm fremd. Zumindest mit diesem allzu menschlichen Attribut musste er sich nicht auch noch rumschlagen. Er hatte eine äußerst liberale Haltung zu Geld und Statussymbolen. Wenn sich jemand etwas erwirtschaftet hatte, sollte er es auch zeigen dürfen, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Nur schön sollte der Erwerb schon sein.

So wie seiner.

Fred fabulierte vor sich hin. „Diskretes Anwesen. In exponierter Ortsrandlage, seit Generationen in Familienbesitz, direkt am See und mit natürlichem Schilfbestand“. So oder ähnlich könnte der gefällige Verkaufstext eines Maklers klingen, der sich auf Seegrundstücke spezialisiert hatte.

Würde mich schon mal interessieren, in welche Höhen die Gebote für meine Burg steigen könnte.

Verkaufen.

Falkenstein schien nicht abgeneigt, diesbezüglich tätig zu werden.

„Ihr Vater ist tot, das Leben geht weiter. Erlauben Sie mir, Ihnen meine Dienste anzubieten, egal, in welche Richtungen Ihre Gedanken über die Erbschaft gedeihen werden. Zeit heilt alle Wunden. Sagt man das nicht so schön?“

Verkaufen wäre womöglich das heilsamste Pflaster.

Sein Bauch verbot ihm, Falkenstein mit Verkauf oder Verpachtung zu betrauen. Der Mann war ihm nicht geheuer. Sicher äußerst professionell und geschickt, aber vielleicht zu geschickt. Er traute ihm nicht. Nach der Testamentseröffnung erkundigte sich Fred nach Verkaufschancen. Befürchtete mögliche Sperrfristen, Verkaufsauflagen, Stiftungsprioritäten.

Nichts von alledem. Einmal mehr verstand er seinen Vater nicht.

Könnte sich doch denken, daß mir Haus und Hof nichts bedeuten.

Und so schrie Fred den vom nahen Ufer anfliegenden Möwen die eine Frage entgegen, die ihn hier draußen umtrieb:

„Warum hast Du mich nicht einfach enterbt?“


Sonntagnachmittag

Lang hielt die beruhigende Wirkung der Bootsausflüge nicht an. Vom Außenborder trieb es Fred direkt ans Steuer des Cabrios, der milde Spätnachmittag wollte genutzt werden. Fred schaute zum Himmel, keine stabile Wetterlage. War das zu all seinen negativen Erlebnissen eine der wenigen positiven Erfahrungen, die Veränderungen des Bodenseewetters erkennen zu können? Ein Hoffnungsschimmer, trotzdem eine Fehleinschätzung.

Fahren, bewegen, nur kein Stillstand. Wie ein Magnet besaß dieses Haus zwei Pole. Obwohl Fred sich redlich bemühte, selbst Hand anlegte und der Gaststube mehr und mehr die erinnerungsträchtige Patina unter dem ganzen Dreck freilegte, spürte er meist nur den abstoßenden Pol.

Alles war besser als im Haus zu sitzen. Also fuhr er ziellos durch die Gegend. Und wieder war es nach wenigen Minuten soweit: die Landschaft berührte ihn. Jede noch so kurze, durch die Jahre verwilderte Allee mitten in den Feldwegen hatte einen Zweck, jede Obstbaumwiese fing den Blick auf dem Weg zum See. Vorbei ging es an weit im Feld liegenden Höfen, die nur durch einen überdimensionierten Briefkasten an der Wegmündung ein bescheidenes Zeichen setzten. Wenige hundert Meter später eine scheinbar willkürlich aus der Natur geschabte Parkbucht, eine Bushaltestelle für stets müde Pendlerkinder. Zeugen dünner Besiedlung.

Es trieb ihn weiter. Die Landschaft war zu schön. Wohltuend langgezogen schmiegten sich die Kurven an die sanften Hügel, die in der Nähe für Abwechslung sorgten, aber doch so bescheiden waren, die Versprechungen der Ferne nicht zu verdecken. Rechts lag der See.

Irgendwie kam ihm das bekannt vor.

Hier war ich schon mal. Unglaublich, wie der See nach jeder Kurve seinen Glanz ändert. Mal matt und bescheiden. Mal gleißender Diamant, dem die Fassung zu eng wird.

Und rechts oben der Gasthof Fernblick.

„Wusst ich’s doch! Aber danach ist mir heut nun wirklich nicht.“

Freds Hang zu Selbstgesprächen war ihm selbst nicht ganz geheuer. Es gab Momente, da kommentierte er jeden Schritt, jeden Handgriff, als wollte er einem Blinden die Welt erklären. Sich auf die Art allein nicht einsam zu fühlen, würde der Wahrheit näher kommen.

Auf keinen Fall wollte er da einkehren, nicht auf Mara treffen, nicht schon wieder an früher erinnert werden. Unschlüssig fuhr er weiter, der See versank langsam in sich selbst, verwischte seine Konturen im vollkommenen Einverständnis mit seiner Einfriedung. Im nächsten Kreisverkehr blieb Fred zwei Runden, drehte das Rad zurück.

Und hatte es sich wieder anders überlegt...


Er fühlte sich auf neutralem Gebiet, Maras Fernblick. Der richtige Ort, um bei Sauerbraten mit Ruländer die letzten Argumente für oder gegen seine Hausentscheidung zu sammeln.

Mara bemerkte seine Notizen, doch ihr Blick war zu kurz, um etwas zu erkennen. ‚Sicher eine Nachricht’, dachte sie und ‚bei dem Betrieb heut kann ich mich nicht mal für fünf Minuten zu ihm setzen.

Fred saß draußen und suchte derweil seine Argumente im untrennbaren Dunkel zwischen Birken und Horizont.

Was ist der Unterschied zwischen einem Lokal und dieser Wirtschaft? Bei einem Lokal wären die Bäume beleuchtet.

Er schmunzelte über seine alberne Ablenkungstaktik und kümmerte sich wieder um seine Spalten. Tatsächlich. Auf der FÜR-Hälfte standen mehr Argumente. Ein drittes Glas schaffte er nicht mehr, denn hier wurden noch richtige Viertele ausgeschenkt.

Auch anders wie in einem Lokal...

Er zahlte bei der flotten Kellnerin, winkte Mara, die gerade an der Theke zapfte, verlegen zu und steckte seinen Zettel in die Brusttasche.

Mara vergaß das Bier in der Hand.


Montagfrüh

So früh war Fred schon lange nicht mehr aufgewacht. Ausgeruht schlurfte er in den übrig gebliebenen Pantoffeln die Treppe runter, kochte Kaffee, zog mit seiner Tasse seelenruhig wieder nach oben und lümmelte sich in den Sessel neben dem Bücherregal. Seine Hände umfassten den bauchigen Becher, in aller Ruhe genoss er die Wärme.

An diesem Morgen war er in einer völlig unaufgeregten Stimmung. Es geschah nicht oft, beim Blick auf ein Möbelstück des Vaters kein beklemmendes Gefühl in der Magengegend zu spüren, keine störenden Erinnerungen aus der Vergangenheit verdrängen zu müssen. Vorsichtig nippte er am Kaffee, tastete einmal mehr die eng gestellten Buchrücken im Regal ab.

‚Wandern am See’, ‚Fischzucht und Tourismus im Wandel der Zeit’, ‚Astronomie im Alltag’, ‚Zeichen der Astrologie’. Kein System in dieser Bücherei. Neben einem Bildband über Hexenküchen Albert Einsteins ‚Über die Spezielle und die Allgemeine Relativitätstheorie’, ein Faksimile. Wie es aussah, eine fast schon wieder wertvolle Ausgabe. Daneben ein Almanach über Zeitmaschinen in Film und Literatur - Fred konnte sich nur wundern. Weder alphabetisch noch inhaltlich erkannte er einen Sinn. Im Band über Chemielabore und ihre Versuchsaufbauten ein Foto am andern, daneben bei Hegels „Phänomenologie des Geistes“ gar keine Bilder. Auch kein System.

Was hat er nur damit angestellt?

Den Einstein, die Hexenküchen, den Hegel griff er sich. Wenn er nicht mehr wusste, was er zu tun hatte, spürte er, was er tun sollte. Der See rief.

Den Rest Mohnkuchen vom Freitag in Folie, die Thermoskanne voll Milchkaffee. Mit dieser Minimalausstattung ging er zum Bootsschuppen. Gerümpel über Gerümpel, Fischereigerätschaften, Reste vom Außenborder, Gartenwerkzeuge. Ein absolutes Durcheinander. Und: die über alles gezogenen Spinnweben.

Also ich seh mich hier nicht aufräumen?

Gut verkeilt stand sein Korb mit Nahrung und Literatur, die ihn für drei Tage auf dem See halten könnte, im Boot. Fred öffnete routiniert den Benzinhahn und wollte gerade den Außenborder starten.

„Nimm mich mit.“ Es war keine Frage.

Fred drehte sich überrascht um. „Mara!“ Etwas hilflos stand sie da, vor ihm, über ihm, auf dem morschen Steg. Zu lange zögerte er, um seine Frage als spontan durchgehen zu lassen. „Wohin?"

„Egal.“ Damit war sie auch schon eingestiegen, setzte sich ihm gegenüber, als wäre es ihr vertrauter Platz. Fred umklammerte den Gasgriff, laut röhrte der Motor über den See voraus, schaffte Abstand zum Haus. So hatte er sich den Ausflug nicht vorgestellt.

„Ich hab mir doch tatsächlich eingebildet, du wolltest mir eine Nachricht schreiben. Dabei galt das Brieflein gar nicht mir.“ Mara versuchte gar nicht erst, ihre Neugier zu verbergen, wollte es aber auf gar keinen Fall nach Eifersucht aussehen lassen. Sie stützte sich entspannt auf das Sitzbrett, lehnte sich gegen den Fahrtwind, der auf ihrem Rücken dünne Gischtfetzen hinterließ und ihre Haare ungestüm nach vorne schlug.

Keine Möglichkeit für Fred, in Maras Gesichtsausdruck irgendeine Stimmung zu erkennen.

Der Wind war auf ihrer Seite. Die langen Locken züngelten Richtung Fred, als wollten sie ihm eine Antwort rauskitzeln.

„Nein, für dich war´s nicht.“ Nach Spielchen war ihm nicht zumute, es ging Mara nun wirklich nicht an, was ihn umtrieb, wovon er seine Entscheidung abhängig machen würde, hierzubleiben oder zu verkaufen.

„Ich hab Lara zur Schule gebracht und dachte, schau doch mal, was der alte Fred so treibt. Vielleicht fehlt ihm was.“ Längst hatte sie seinen Korb nebst Inhalt entdeckt und ergänzte mit einem kleinen spöttischen Unterton, den er ja nicht überhören durfte: „Wie ich sehe, bist du für eine lange, gefahrvolle See-Expedition gerüstet.“

Endlich. Fred grinste. Diese Mara.

„Mara.“

Das klang nach aufgeben, zumindest nach Waffenstillstand. Obwohl er sich nicht erinnern konnte, mit ihr im Clinch zu liegen. „Du, ich weiß grad überhaupt nicht, wo mir der Kopf steht. Aber vielleicht willst ihn mir ja verdrehen?“ Fred nahm das Gas weg, das Boot schob gemächlich Richtung Seemitte. Ruhig schnitt der Bug die Wellen. Er brauchte Ruhe, allein oder mit Mara, auf keinen Fall den nervigen Lärm des Außenborders. Fast hätte es Mara die Stimme versagt. Fast. Sie ignorierte die aufsteigende Röte, bändigte aber sicherheitshalber nicht die Strähnen vor ihrem Gesicht und antwortete so gelassen wie möglich.

„Ich wollt dir nur sagen, ich hab nachdacht. Über unsre Begegnung, weißt du. Ich hab dir ja ganz schön viel erzählt. Kannst dir wirklich was drauf einbilden.“

„Und jetzt? Jetzt bereust du´s, daß du mir gegenüber so ungezügelt warst.“

Fred hatte gute Laune. Und außerdem war ihm egal, wie Mara seine Stimmung finden würde. Sie wollte unbedingt ins Boot. Er wollte allein sein. Aber er blieb ruhig.

Lag es an Mara? Am See? Wenn er gewusst hätte, daß und warum er seit vielen Nächten schlafwandelte und er deshalb tagsüber unausgeschlafen und mürrisch war, wäre ihm spätestens jetzt klar geworden: letzte Nacht war er nicht durchs Haus gezogen, sondern hatte seelenruhig geschlafen.


Im Gegensatz zu Fred hatte Mara offensichtlich ein Ziel. Und davon wich sie nicht ab.

„Mir hat´s so gut getan, wenigstens mal ein bisschen was loszuwerden, weißt, einem Menschen gegenüberzusitzen, dem ich einfach mal vertrauen kann. Mir war einfach danach. Aber in dir muss es doch auch ganz schön brodeln. Wenn nur die Hälfte stimmt, von dem, was man so hört.“

Das ist nicht die Mara, die ich mal kannte.

Kannte er sie wirklich? Hatte er irgendein Mädchen erkannt, damals, oder hatte er Mara einfach mitgenommen, wie so viele? Aber womit sie gerade köderte, lockte ihn doch.

„So. Was hört man denn?“

Fred musterte Mara aufmerksam und entdeckte keinen Vorwurf in ihrer Stimme.

Womit sie das Boot versenken könnte.

Fred lächelte.

Warum fühl ich mich in ihrer Nähe so geborgen? Langsam glitt sein Lächeln nach innen.

War es ihre Gegenwart, die ihn seine Vergangenheit ertragen, die Zukunft gelassener betrachten ließ? Sie schaute ihn einfach an.

Und wartete.

„Ich muss mich heute entscheiden.“

Fred fixierte den Steuerarm und ließ das Boot im Standgas dahintuckern. Mara schob eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht, als wolle sie Fred nun endlich den Blick auf sich freigeben. „Bleibe ich hier oder gebe ich dieses Unwesen auf.“

Sie lächelte über diese kleine Freudsche Fehlleistung. „Unwesen?“

Fred wischte den Fehler mit einer fahrigen Handbewegung aus dem Raum zwischen ihnen. „Das Haus. Diese Muttererde, wie mein Vater dauernd sagte. Wurde nicht müde, immer und immer drauf rumzureiten. Da, wo ich seiner Meinung nach hingehöre. Und jetzt weiß ich nicht, ob ich mir das Alles antun soll!“ Seine Hände klatschten auf die Schenkel, sein Ärger war auf dem Weg.

„Du kannst dir nicht vorstellen... dieses, dieses Haus nervt mich! Jede Nacht, jeden Morgen... ich wach auf... bin völlig gerädert... heut mal ausnahmsweise nicht. Irgendwas schikaniert mich oder kämpft gegen mich, wenn ich schlafe... hab Alpträume, an die ich mich nicht erinnern kann.“ Erschöpft ließ Fred die Schultern hängen.

Nachdenklich ließ Mara Freds Worte im Wind verklingen, sie war zu klug, um eine flüchtige Meinung wie ‚Was ich an deiner Stelle tun würde...’ nachzuschieben.

Für ein paar Sekunden, ein paar Wellenschläge schien es, als dächten sie gemeinsam über einen Ausweg nach.

„Entschuldige, wenn ich so direkt frage, aber... aber kannst du dir vorstellen... bist du eher dagegen, zu bleiben, weil dein Vater dich so energisch halten will?“ Für Mara lag die Frage auf der Hand.

Fred vertraute. Er bekannte. Erzählte. In notwendiger Kürze von seiner Zeit in Colmar, von seinem Restaurant in Bacharach, in epischer Breite von den letzten drei Wochen. Vom Notar, der ihn schleimig und zuvorkommend wie er war zu bestimmten Entscheidungen verführen möchte. Vom Haus, das ihm auf unerklärliche Weise schwer machte, sich wohlzufühlen. Vom See, auf dem er sich auf eigentümliche Weise beruhigt und klar fühlte. Der ihn, wie nach einem verschlüsselten Ritual, mal mit einem erfreulichen Telefongespräch, mal mit frischer Kraft versorgte.

„Wie jetzt mit dir...“

Nahe am Boot segelte eine Horde Möwen, in der Hoffnung, gefüttert zu werden oder Abfälle zu ergattern. So waren sie es gewohnt, so hatte es zu sein. Enttäuscht stiegen sie irgendwann höher, entfernten sich mit wenigen Flügelschlägen und betrachteten aus großer Höhe verwundert den Kreis, den das Boot in den See malte.

Mara begleitete die Möwen. Verschaffte sich in Gedanken den Überblick, den Fred als Betroffener nicht haben konnte. Er drehte sich störrisch im Kreis. Das ahnte sie, eher daraus, wie er erzählte, als, was er erzählte. Für sie war Notar Falkenstein ein zwielichtiger Zeitgenosse. „Der hat in jedem größeren Immobiliengeschäft seine Finger drin. Ein ganz gewiefter Erbschaftsabwickler ist das, kann ich dir sagen. Ständig werden Familienbesitze aufgekauft, Wohnrechte umgewandelt. Bei uns war er auch schon. Ein gutes Angebot hat er gemacht, verdammt gut. Aber was hätten wir dann gehabt? Ein Sack voll Geld ist kein zuhaus."

„Und wer kauft das alles? Privatleute? Firmen?“

„Weiß ich doch nicht! An seine Bürotür schlägt er’s jedenfalls nicht an! Vielleicht an irgendwelche Strohmänner auf seinen Verdischen Inseln.“ Mara versuchte, mit einem kleinen Witz die Stimmung aufzulockern, aber Fred war zu konzentriert, um sein eigenes Lächeln zu spüren.

Der Außenborder hielt die Bewegung, die Möwen stellten unschlüssig ihre Flügel gegen den Wind und schwebten über den Kreisenden.

„Unser Gasthaus liegt ja nicht gerade in deiner Nähe, aber vielleicht genieren sich grad deswegen die Leute nicht, sich das Maul über dich zu zerreißen.“ Bei dem Gedanken daran fröstelte es Mara.

„Die Menschen sind ungerecht. Haben keine Ahnung, mischen sich aber in alles rein, anstatt sich um ihren eigenen Dreck zu kümmern!“

Freds Blick war irgendwo da draußen, suchte die Wahrheit. Und wenn es nur die momentane wäre. Ein leerer Blick, der sich voller Erwartung auf den Weg machte, zu erkennen.

...anstatt sich um ihren eigenen Dreck zu kümmern, klang es in ihm nach.

„Denen wär´s sicher lieber, ich würde gehen. Besser heut als morgen. Vielleicht erinnere ich sie zu sehr an meinen Vater. Keine Ahnung.“ Fred öffnete die verkrampften Hände, seine Knöchel waren weiß von der Anspannung. Abwesend schaufelte er eine Hand voll Wasser in die Luft. „Tja. Bis gestern hat mir der See gut getan.“ Fast nachsichtig sagte er das, als befürchtete er, von diesem See belauscht zu werden, der sich daraufhin beleidigt zurückziehen könnte. Auch deshalb richtete er seine Einschätzung nicht nur an Mara, sondern irgendwohin, wo sie nicht stören konnte.

Schwungvoll verbannte Mara ihre Locken hinter die Schultern. Hielt den Kopf schräg und suchte eine Mimik, um sein Gefühl zu treffen.

„Vielleicht kann ich dir ja ein bisschen helfen? Und wenn’s hierbei ist.“ Dabei tippte sie mit der Fußspitze wippend an Freds Korb, bis die Bücher auf den Kuchen kippten.

Mara wusste in einigen Bereichen ihres Lebens auch nicht genau, was sie wollte, aber was sie sicher nicht wollte, war ein Verhältnis mit Fred. Sie fühlte sich von ihm angezogen, das lag an der unausgewogenen Mischung zwischen chaotischer Fahrigkeit und etwas zu überzeugend demonstriertem Selbstbewusstsein. ‚Da muss ja einiges im Argen liegen bei dem armen Kerl’.

Fred wiederum wollte auf keinen Fall mit Mara anbandeln, dümpelte wie ein Stück Treibholz im See, auf der Suche nach der richtigen Strömung. Mara litt an den Spätfolgen familiärer Verstrickungen. Das verband. Sie verstand Fred, sie mochte ihn. Fred mochte Mara auch, verstand sie aber nicht.

Fred ahnte nicht, welch unmittelbaren Einfluss sie auf sein Seelenleben hatte.Ein Einfluss, auf den der See eifersüchtig gewesen wäre, wenn er könnte.

„Lass mich mal.“

Die Möwen beobachteten erwartungsfroh ein allzu bekanntes Manöver, das bei anderen Gelegenheiten oft genug mit einem unfreiwilligen Bad im See endete. Mara und Fred wechselten die Plätze, gekonnt hielten sie die Balance. Klein und harmlos wie eine Nussschale war der Nachen von hier oben anzusehen. Fred biss in seinen Mohnkuchen, Mara löste die Arretierung und gab Vollgas, die Vögel drehten in den Wind und segelten enttäuscht davon.

Die Gabe des Erben der Zeit

Подняться наверх