Читать книгу Die Gabe des Erben der Zeit - Georg Steinweh - Страница 6
Freitag, 15 Uhr
ОглавлениеFred hatte sich für das Fahrrad entschieden. Die Kontakte mit den Dorfbewohnern waren sowieso auf das Nötigste reduziert.
Jedes Mal wenn er mit seinem Auto durch den Ort fuhr, spürte er schnell ein beklemmendes Gefühl. Egal, ob er sich morgens nur frische Brötchen holte oder in der Gemeindeverwaltung Einsicht in die Grundbucheintragungen wollte. Sobald er sich jemandem näherte, der am Gehsteig stand oder die Straße kreuzte, spürte er die Enge. Er kannte die Leute, zumindest viele, die da konspirativ ihre Köpfe zusammensteckten und wie eh und je ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgingen - über Dinge zu tratschen, die sie nichts angingen.
Den da drüben kenn ich doch, ist das nicht der alte Leon? Genau, Leon Tomhart. Wollte der nicht Maler werden und als Künstler New York aufmischen? Roy Liechtenstein und Andy Warhol den Rang ablaufen. Naja, vielleicht war er´s auch nicht. Auf jeden Fall, die Sache mit dem Fahrrad war zur Abwechslung mal die richtige Entscheidung.
Der feuchte Sommerwind stemmte sich gegen seinen maladen Kopf und brachte ihn allmählich wieder auf Vordermann. Nur die Beinarbeit ließ zu wünschen übrig. Der alte Drahtesel verbarg seine Defizite nicht. Das Gewicht hätte Fred beim Alteisenhändler einige Euros eingebracht. Die vertrocknete Kette wäre bei einem Gangwechsel hundertprozentig vom Ritzel gesprungen, so spröde klang das Eisen. Es gab aber eh keine Schaltung. Weit war es nicht mehr zum Notar.
Einige freundlich gemeinte Nicker registrierte er heute tatsächlich, als er den Marktplatz querte. Es war, als säße er in einem offenen Zweispänner, die Frackschöße faltenschützend über die Knie gelegt, den Zylinder nicht nur zur Sicherung der kurz geschnittenen Haare auf dem Kopf. Aufrecht radelte er weiter zum Notar.
Unsanft knallte er mit dem Vorderrad gegen den Bordstein, was ihn innerhalb eines Lidschlags auf den steinigen Boden der Tatsachen zurückholte.
Vereidigter staatlich anerkannter Buchprüfer und Nachlaßverwalter Doktor in jure Gunnar Falkenstein
Und drunter in ebenso schwungvoll ausladenden Lettern
Consul Honoreire de Cap Verde
Na, das kann ja heiter werden. Fred wagte kaum, das heruntergekommene Familienrad an die ehrwürdige Fassade des messingtafelgeschmückten Hauses zu lehnen.
Mit ebenso glänzenden Phrasen erläuterte Doktor Falkenstein Fred Keller, warum es notwendig war, so lange in dieser doch so wunderschönen Gegend bleiben zu müssen.
„Haben Sie sich denn niemals in dieses Biotop harmonischen Einklangs zwischen Mensch und Natur zurückgesehnt, werter Herr Keller?“
„Ehrlich gesagt nein, Doktor Falkenstein.“ Fred verspürte nicht den kleinsten Drang, mehr als unbedingt nötige Konversation mit dem Herrn Notar zu betreiben. Und die Floskel „ehrlich gesagt“ war ihm auch nur so rausgerutscht. Lieber zurückhaltend sein, niemand konnte von ihm erwarten, ehrlich zu sein, in einer Situation, die für ihn ungünstig schien. Und obwohl es ihn brennend interessierte, wie dieser Gunnar zu einem Honorarkonsul irgendeiner winzigen und weit entfernten Inselgruppe werden konnte, verkniff er sich die Frage.
„Nehmen Sie doch Platz. Bitteschön. Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit. Sie wird nur übertroffen von meiner Neugier, Sie endlich kennenzulernen.“ Während Falkenstein Fred freundlich zu einem schweren Sessel führte, redete er weiter. „Und verzichten wir doch bitte auf den Doktortitel. Ich bin auch nur ein nahezu gewöhnlicher Mensch.“
Der Raum war glücklicherweise groß genug für die ausladenden Gesten, mit denen Jure-Gunnar, wie Fred ihn nach wenigen Minuten für sich nannte, seine gewählten Worte einrahmte. Und die Tapete war dick und weich genug, Wort für Wort mühelos zwischen den goldenen Ornamenten auf samtigem Rot versickern zu lassen.
Aufmerksam musterte Fred die vielen Bilder, die die sehr hohen Wände füllten. Bis ihn Falkensteins gleichbleibende Freundlichkeit zurückholte - von wo auch immer.
„Ich möchte Ihrem berechtigten Interesse, unverzüglich die Formalitäten ordnungs- und wunschgemäß abgewickelt zu wissen, mit all meiner fachlichen Kompetenz entgegenkommen. Lange genug hat Sie Ihr werter Herr Vater, den ja leider viel zu früh der Tod aus unserer Mitte gerissen hat, auf die Folter gespannt.“ Fast hätte er gelacht, der Herr Doktor, über dieses müde Witzchen, seine kleine anzügliche, wohldosierte Entgleisung. Aber als Testamentsvollstrecker geziemte sich das sicher nicht.
„Herr Falkenstein. Natürlich möchte ich nicht nur etwas über die Erbschaft erfahren. Mein Vater wird sicher Gründe gehabt haben, mich hier drei Wochen warten zu lassen. Aber.... zwischen uns war...,“ Fred suchte eine unverfängliche Floskel, „...wir hatten ein etwas gespanntes Verhältnis. Wenn wir überhaupt eines hatten. Ich hoffe, mir erschließen sich mit Ihrer Unterstützung ein paar Zusammenhänge.“
Der Notar räusperte sich hinter seinem ausladenden Mahagonischreibtisch, in dessen polierter Platte ein goldgerändertes Lederpolster eingelassen war, dessen einziger Verwendungszweck zu sein schien, den feingliedrigen Händen, die in dürerscher Bildhaftigkeit auf dem Tisch lagen, sanftes Kissen zu sein. Zu seiner Rechten lag parallel zur Goldkante ein Brieföffner. Ein Brieföffner, der in einem anderen Leben ein mörderisches, kaum eine Einstichstelle hinterlassendes Stilett gewesen sein könnte. Auf der anderen Seite des Lederpolsters lag ein dicker, schlichter DIN A4 Umschlag in Normpostfarbe Braun. Um diesen Umschlag ging es.
„Darf ich Ihnen, bevor ich tätig werde, eine frisch gebrühte Tasse Kaffee anbieten, lieber Herr Keller? Die Dicke des Umschlags lässt auf eine nicht geringe Verweildauer in meinen bescheidenen Räumen schließen. Und viele Menschen pflegen ja des Nachmittags eine kleine Kaffeestunde einzulegen. Gönnen Sie mir die Freude und Ihnen die Entspannung.“
Fred gab sich geschlagen und nickte. So freundlich es in dieser Situation eben ging. Die betenden Hände trennten sich lautlos, eine griff nach der Messingglocke, die früher möglicherweise in einem Gerichtssaal für Ruhe und gebotene Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Innerhalb erstaunlich weniger Sekunden klingelte sie Fräulein Serlbacher herein, deren auffällig unauffällige Erscheinung auf den ersten Blick nicht nur Kaffeemaschinenkenntnisse versprach.
Fred hatte den festen Boden unter den Füßen verloren. Ganz leicht, fast widerstandslos glitt er dahin. Das Blatt schnitt sanft die Welle, mühelos trennte der Bug das Wasser, um auf der kurzen Reise zum Heck an den lackierten Bootswänden welke Erinnerungen aufzufrischen. Der alte Nachen und der See, sie gehörten zusammen. Fred setzte die Flasche an den Mund, ganz gewiss, nun überhaupt nicht mehr zu verstehen, was passiert war. Einzig und allein sicher war: er und dieses rätselhafte Haus gehörten nicht zusammen. Genauso wenig wie er und sein Vater. An dieser Ansicht war nach wie vor nicht zu rütteln. Der „vorzügliche Hennessy“, wie ihn Jure-Gunnar am Ende der Testamentseröffnung und den nachfolgenden Erläuterungen angeboten hatte, konnte gar nicht so großzügig bemessen sein, wie ihn Fred gebraucht hätte. Der protzig bauchige Schwenker war gebührend seriös gefüllt.
Den Rest gab sich Fred nun Stunden später draußen auf dem See, der ihm mit jedem Gedanken, jedem Schluck fremder wurde. Der See und der Schnaps sollten ihn schützen, davor bewahren, vor allem bewahren. Doch wovor? Denn obwohl Fred seit einiger Zeit dem Flaschenboden entgegen trank, war er immer noch zu nüchtern, um sich nicht mehr zu ärgern. Nicht weil er Fragen stellen musste. Er war es gewohnt, frühzeitig Probleme zu erkennen, für seine Art der Gastronomie Profile zu erstellen, die ihm und ausschließlich ihm Vorteile brachten.
„Da wo ich bin, ist vorn!“ Diese Floskel wurde durch einen Zeitgenossen wie Fred Wirklichkeit. Nein. Was Fred fuchste, war, erkannt zu haben, sich diese Fragen auch noch selbst beantworten zu müssen. Wenn er allerdings ehrlich mit sich war - und das war er meistens, ganz anders als er mit anderen umging - steckte er in einem unerträglichen Dilemma. Er spürte genau, daß es so war.
Aber nicht, warum.