Читать книгу Diez Hermanas - Georg Vetten - Страница 10

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2011 - 6.1., 00:15

Balkanhalbinsel, Serbien

Auf der Höhe von Niš

Szene 24

Innenaufnahme: Der Laderaum des LKW ist hell erleuchtet. Einige Kinder rennen wild und schreiend mit weit aufgerissenen Augen in Panik umher. Andere sitzen wie paralysiert.

Die Plane zum Fahrraum wurde zur Seite geschlagen. Im nächsten Moment erstarrten einige Kinder zur Salzsäule, andere sprangen in Panik gegen die dunkelgrünen LKW-Wände. Vier Hexen!!!

»Die Hexen sind da!« schrie Penelope. »Vier Hexen!«

»RUHE!!! Haben wir euch nicht gewarnt? Haben wir euch nicht versprochen, das spannendste Abenteuerspiel aller Zeiten zu spielen? Und was macht ihr?«

Die Kinder starrten voller Entsetzen in die hässlichen Fratzen der Hexen.

»Ihr seid undankbar! Wir haben Spielzeug besorgt und all die leckeren Sachen. Und was macht ihr? Ihr schreit! Egal, wisst ihr was?! Jetzt gibt‘s Eis, für jeden von euch. Dann geht die Reise weiter! Wir werden uns beeilen. Wir wollen doch schließlich gewinnen, oder?«

Penelope starrte die Hexen entgeistert an und dann schrie sie aus voller Kehle:

»MAMA! MAMA! BITTE HILF UNS!«

2011 - 6.1., 19:00

Italien

Ponte di Legno

Szene 25

Innenaufnahme: Italien, 17 Stunden später. Heller fensterloser Raum. Eine riesige Halle mit Feldbetten, Spielzeug, Rutsche, Sandkasten und Kuscheltieren. Auf einem Flachbildschirm laufen Donald Duck Comics in Dauerschleife. Die Gruppe ist auf über fünfzig Kinder angewachsen.

»Liebe Kinder, Engel und Abenteurer, willkommen auf unserer ersten Station« ertönte eine warme, freundliche Stimme aus den Lautsprechern. Penelope ergriff Damians Hand. Hexen hatten sie hier noch nicht zu Gesicht bekommen.

»Gleich geht die Tür zu eurer Rechten auf, dort gibt es Abendessen – Pommes, Hühnchen, Schnitzel, Salat und Berge von Schokoladeneis. Lasst es euch schmecken. Und denkt daran, wir haben einen Vorsprung! Wir werden gewinnen – und eure Eltern werden staunen! Nach dem Essen erhaltet ihr eure Medizin.«

Am folgenden Morgen rieselten erneut Comics über den Bildschirm. Die Kinder fühlten sich träge. Seltsam benommen. Es gab Kakao und Schokoladenaufstrich.

»Im Laufe der nächsten Stunden werdet ihr vom Onkel Doktor untersucht«, tönte die erste Durchsage des Tages aus den Lautsprechern.

»Warum?« rief Damian.

»Na wir wollen doch wissen, ob ihr das Abenteuer bislang gut überstanden habt«, ertönte die Antwort.

Wenig später wurden die ersten Kinder in den Nachbarraum gerufen. »Ich habe Angst«, flüsterte Damian.

»Ich auch«, antwortete Penelope mit zittriger Stimme. Doch die beiden fühlten sich schwer wie Blei. Und auch den anderen Kindern schien es nicht besser zu ergehen. Sie hockten vor den Flachbildschirmen und nickten immer wieder ein.

Kein Zeitgefühl und nicht wissend, der wievielte Cartoon dort in der Wiederholungsschleife lief, schlummerten Penelope und Damian ein, bis sie von der nächsten Ansage geweckt wurden:

»So und jetzt die Zwillinge bitte zu uns. Penelope und Damian.«

Voller Angst nahmen sie sich bei den Händen und schlichen mit schweren Beinen zur Tür. Sie wollten nicht noch einmal die Hexen herbeirufen. Sie sahen, dass es den anderen Kindern, die schon beim Doktor gewesen waren, gut ergangen sein musste.

»So wir wollen doch mal sehen, ob nach der langen Reise mit eurem Bauch alles okay ist«, sprach eine leise, vertrauensvolle Stimme.

»Ich bin euer Onkel Löwenherz.«

Der alte Mann lächelte sie an. Er trug seine weißen Haare halblang. Sein weißer Schnauzbart wirkte penibel gepflegt.

»Wir machen zuerst eine Röntgenaufnahme und danach einen Ultraschall. Das wird ein bisschen kalt und glitschig auf euren Körpern, wenn ich euch mit dem Gerät abtaste, doch dann habt ihr es auch schon geschafft. Dauert alles in allem nicht länger als zwanzig Minuten – und danach gibt es Eiscreme! Ist das ein Leben«, lachte die freundliche Stimme. »Und soll ich euch noch etwas verraten? Na? Na? Ich glaube, wir gewinnen das Spiel gegen die Erwachsenen!«

2010 - 10.11., 22:00

zehn Monate zuvor

USA, Boston,

Atlantic Avenue

Szene 26

Rückblende: die Geburtsstunde von ‚Diez Hermanas‘

Innenaufnahme: Luxussuite über den Dächern von Boston. Die einzelnen Bereiche der 450 Quadratmeter großen Etage werden durch bis zu fünf Meter hohe Palmen separiert. Boden- und deckenhohe Fenster verleihen der Fläche etwas von einem riesenhaften Ufo. In der Mitte des Raumes befindet sich eine überdimensionale Sitzecke aus weißem Leder. Weiße Berberteppiche bedecken Mahagoni- und Marmorböden.

In drei offenen Kaminen lodert heller Feuerschein. Ein 11 x 5 Meter großes Schwimmbecken mit integriertem Whirlpool säumt die Stirnseite der Suite. Auf der gegenüberliegenden Seite wird ein reichhaltiges Buffet aufgefahren: Speisen aus sämtlichen Erdteilen warten darauf verköstigt zu werden. Draußen tobt ein heftiger Sturm. Starker Regen peitscht gegen die Fensterscheiben. Die anwesenden Personen unterhalten sich in gedämpftem Ton. Sie warten darauf, dass Aira den Raum betritt.

»Wir werden die Welt beherrschen! Wir werden ewig leben!«

Unter donnerndem Applaus hatte Aira den Raum gemeinsam mit ihren drei Bodyguards betreten. Ihr martialisches, Angst einflößendes Auftreten, stand im krassen Gegensatz zu ihrer elfenhaften Erscheinung. Ihre grünen Augen funkelten:

»Wir werden die Welt beherrschen! Wir werden ewig leben«, wiederholte sie mit klarer, lauter Stimme.

Aira trug ihre hüftlangen, weizenblonden Haare offen. Ihre Modellfigur zeichnete sich unter einer transparenten, weißen Tunika betont ab. Doch niemand der Anwesenden ließ sich durch ihr unschuldiges Bild blenden. Sie wussten um Airas Brutalität. Ihre sexuellen Obsessionen führten nicht selten zum Tod ihrer Mitspieler.

»Eine neue Ära bricht herein. Das Yzuhawa meiner Mutter ist tot. Es wird auch kein Yzuhawa 2.0 geben! Unsere Gemeinschaft wird die Welt retten und von diesem elenden Pack säubern! Zum Dank Gottes werden wir ewig leben! EWIG! Das Paradies wird unser sein! Bereits jetzt sind die Arbeiten in vollem Gange um die Infrastruktur in unserem eigenen Land hochzuziehen. Wir besitzen eine bislang kaum beachtete Inselgruppe im Pazifik vor der Küste Südamerikas. Nennen wir sie der Einfachheit halber Osomo. Doch Osomo wird nur der Beginn sein. Von dort werden wir uns ausbreiten! Weiter und weiter!«

Aira schaute herausfordernd in die Runde. Ihre perlweißen Zähne blitzten wie chemisch gereinigt.

»Wer aussteigen will, der soll die Hand heben. Jeden erwartet ein schneller, schmerzfreier Tod. Mehr kann man nicht erwarten, von diesem Leben.«

Sie schaute provozierend in die Runde. Ihr Brustkorb hob und senkte sich heftig. Ihre harten Brustwarzen drückten durch den weißen Stoff der Tunika.

»Eine Vielzahl an Fachgruppen und Untergruppierungen werden sich nach diesem Treffen konstituieren. Sie alle werden zum Wohl der Gemeinschaft handeln!«

»ZUM WOHL DER GEMEINSCHAFT!«, ertönte es im Chor.

»Ich werde heute das Organigramm und die Strukturen vorstellen. Nichts von dem, was ich jetzt befehle, steht zur Diskussion. Verstanden?«

Ein kurzer Blick in die Augen ihrer Untergebenen sprach Bände. Aira fuhr fort:

»K-DH ist meine rechte Hand. DH, es liegt auf der Hand, ist ab nun unser Kürzel für Diez Hermanas! K-DH ist in meiner Abwesenheit Folge bis zum Tod zu leisten. Ihr unterstehen alle nun folgenden Untergruppierungen unseres Matriarchats!«

K-DH nickte kaum merklich in die Runde und fixierte jeden der Anwesenden. Ihre weit auseinanderstehen, grauen Augen schimmerten kalt. Ihre Erscheinung wirkte Furcht einflößend: Mit einer Größe von 1,95 schaute sie auf die meisten mit brutaler Arroganz herab. Ihr muskelbepackter Körper war, den Narben nach zu urteilen, kampferprobt! Die Haare trug sie kurz, zum Nazischeitel gekämmt. Doch wer konnte schon ahnen, dass dieser Muskelberg seinen Doktor in Physik, Medizin und Biochemie mit Auszeichnungen abgelegt hatte? Aira räusperte sich.

»K-DH unterstehen spezialisierte Diez Hermanas. Du, F-DH, bist zuständig für die weltweiten Finanzgeschäfte. Damit meine ich Banken und Börsen. PM-DH ist verantwortlich für die Bereiche Pharma und Medizin. Ihr angegliedert ist O-DH. Was es damit auf sich hat, dazu kommen wir später. Du (Aira deutete auf eine vollbusige Blondine, die als Marilyn Monroe Double hätte durchgehen können) übernimmst als P-DH die weltpolitischen Geschäfte. Dazu gehören organisierte Kriminalität und Drogenhandel. W-DH kontrolliert die weltweit wissenschaftliche Entwicklung in den Bereichen Bildung und Erziehung. I-DH setzt sich mit der internationalen Großindustrie auseinander. S-DH (eine schwarz gelockte, rassige Spanierin trat vor) befasst sich mit Satellitentechnik, Spionage und Raumfahrt. PR-DH wird die weltweiten Kommunikationskanäle kontrollieren. Zur Army-DH sind wohl keine weiteren Ausführungen notwendig! Nur soweit, die Themen Kernwaffen, Giftgas und biologische Waffen fallen unter anderem in diesen Zuständigkeitsbereich. Ich will alle Ebenen kontrolliert wissen. At least benötigen wir ein soziales Netzwerk, auf dem sich die Menschen jederzeit und weltweit manipulieren lassen. Zu diesem Thema setzen wir uns morgen in kleiner Runde zusammen.«

Aira warf einen prüfenden Blick in die Runde.

»Fragen?«

»Aus wie vielen Gruppenmitgliedern bestehen die einzelnen DH’s – und wie sieht es mit der finanziellen Ausstattung aus?«, fragte die zuständige PR-DH, eine klein gewachsene Engländerin in den Dreißigern mit ausladenden Hüften.

»Jede DH stellt weltweit bis zu 200 Kräfte ein. Sie bilden den inneren Kreis. Jede dieser 200 Schwestern beschäftigt wiederum so viele Helfer und Helfershelfer, wie notwendig sind. Eine Ausnahme bildet die Army-DH. Hier können wir jederzeit aufstocken. Und noch etwas«, Aira schaute bestimmend in die Runde. »Es gibt keine Vor- und Nachnamen mehr. Ich verlange, dass ihr euch mit euren DHs anredet. Ist das klar? Fragen?«

Der Großteil der Mitglieder blickte schweigend. Einige nickten, andere applaudierten.

»Gut! Sehr gut! Ich sagte zu Beginn, dass Yzuhawa mit meiner Mutter gestorben ist! Die Bezeichnung unseres Matriarchats wird ab heute weniger kryptisch klingen. Man wird den Namen fürchten und in Ehrfurcht flüstern: Diez Hermanas! Wir alle werden zum Wohl der Gemeinschaft handeln. Zum Wohl von Diez Hermanas

»ZUM WOHL VON DIEZ HERMANAS« ertönte die Gemeinschaft im Chor.

»Ab heute sprecht ihr mich mit Aira Divus an. Ist das klar?« Alle nickten. »Gut, dann nur noch eines«, Airas Blick wurde eiskalt. »Das sind meine drei Bodyguards.«

Sie deutete auf zwei Frauen und einen Mann, die versteinerte Blicke in die Runde schmissen. Die stiernackigen Kampfmaschinen mit Oberarmen wie Rinderschenkel und Fäusten so groß wie Bratpfannen, waren deutlich über zwei Meter gewachsen.

»Die Drei sind beweglich wie Schlangen. Sie besitzen Auszeichnungen in sämtlichen asiatischen Kampfsportarten. Wer ihren oder den Anweisungen von K-DH nicht Folge leistet, stirbt auf der Stelle. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«

Ein schneller Blick in die Runde verriet Aira, dass die Anwesenden verstanden hatten.

»Sehr gut! Dann wollen wir jetzt den alten Caligula erblassen lassen.«

Mit diesen Worten ließ Aira ihre Tunika zu Boden gleiten und winkte A-, P- und S-DH sowie ihren männlichen Bodyguard Hassan zu sich. Sie wusste, dass diese Zeremonie das Band der Gemeinschaft noch enger knüpfen würde. Sämtliche Anwesenden würden ihr zu Füssen liegen. Alle, auch der letzte Zweifler, würde ihr danach aus der Hand fressen. So funktioniert die Welt, flüsterte sie, als sie die Peitsche auf das Marilyn Monroe-Double alias P-DH richtete.

2011 - 14.4., 18:00

Großbritannien, London

Royal Nurse Hospital

Szene 27

fünf Monate später

Außenaufnahme: Die Parkanlage der psychiatrischen Klinik liegt im dichten Nebel. Die uralten Bäume des Parks zeigen das erste, zarte Grün. Dichtes Laub vom Vorjahr bedeckt die großzügig angelegten Rasenflächen und Wege. Die Backsteingebäude aus dem vorherigen Jahrhundert mit ihren vergitterten Fenstern liegen ruhig im schwindenden Licht des Tages. Sibel, den Mantelkragen hochgeschlagen, zieht ihren Mitarbeiterausweis durch den Scanner der ersten, von drei Schleusen.

Szene 28

Innenaufnahme: Sibel passiert dunkle, unwirtliche Flure. Die Wände sind im tristen Grau gehalten. Eine nicht zu definierende Farbe blättert großflächig von Zargen und Türblättern ab. Verblichene Zeichnungen, überquellende Stehaschenbecher und drei verkümmerte Gummibäume dominieren das Ambiente. Sibels Schuhsohlen quietschen auf dm abgelaufenen Linoleumbelag.

Es riecht nach menschlichen Exkrementen und Desinfektionsmitteln. Durch die verschlossenen Türen dringen die Geräusche laufender Radios, nervtötender Fernsehprogramme und die Klagelaute verlorener Seelen. Die Tür des Pflegerzimmers ist angelehnt.

»Und? Irgendwelche besonderen Vorkommnisse. Irgendetwas zu beachten?« fragte Sibel mit ausdrucksloser Miene, als sie ihren Mantel in den Spind hängte.

»Die in Zimmer sieben haben sich vor etwa einer Stunde in den Haaren gehabt. Ich habe ihnen eine kräftige Dosis Haldol verpasst«, antwortete Paul. Paul, ein grauhaariger Pfleger Ende fünfzig, war desinteressiert, desillusioniert und verbittert. »Ansonsten ist soweit alles ruhig. Auf dem Schreibtisch liegen die Nummern der Bereitschaftsärzte. Sollte jemand zicken, lass ihn fixieren und auf die Geschlossene verlegen. Am besten direkt das volle Programm! Elektroschocks haben noch niemandem geschadet! HAHAHA! Gute Nacht, Kleines.«

»Gute Nacht«, antwortete Sibel und unterdrückte dabei ihre angewiderte Miene.

Sie hatte den menschenverachtenden, brutalen Macho Paul noch nie ausstehen können. Ekel, murmelte sie, als sie sich einen Filterkaffee einschenkte, der geschätzte drei Stunden auf der Warmhalteplatte vor sich hingeköchelt hatte. Schwarz wie Erdöl seufzte sie. Sibel ließ sich an den Schreibtisch nieder, um das Stationsbuch zu studieren. Im Tagesbericht las Sibel von einer Neuaufnahme: männlich, geschätztes Alter 42. Verwirrt. Klagt über Gedächtnisverlust. Schwere Amnesie, las sie. Es folgte eine Liste von Psychopharmaka, die man ihm verabreicht hatte. Der Patient erklärte bei seiner Einlieferung am frühen Morgen (6:15 Uhr), er sei selbst Arzt, erinnere sich aber nicht an seinen Namen. Es macht den Eindruck, als sei der Patient obdachlos. Eine Anfrage bei den Behörden und der Polizei nach einer vermisst gemeldeten Person blieb bislang erfolglos. Wir empfehlen ... (es folgte eine weitere Liste mit Psychopharmaka). Der Patient verhält sich seit 12.45 Uhr ruhig. Wir haben ihn auf Einzelzimmer drei gelegt. Wir empfehlen eine stündliche Kontrolle.

Als Sibel den Raum betrat, lag der Patient mit der Patientennummer 251011M9 ruhig auf seiner Matratze und starrte an die Decke.

»Hallo«, flüsterte Sibel, als sie sich auf einen Stuhl neben seinem Bett niederließ. Zu ihrer Verwunderung antwortete der verwahrlost aussehende Mann postwendend.

»Hallo, junge Frau.«

»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte Sibel vorsichtig.

»Pssst!«

»Wie heißen Sie? Kennen Sie ihren Namen?«, versuchte sie es erneut.

»Nenn mich Löwenherz«, antwortete der sich gewählt ausdrückende Mann Anfang 50. Er trug einen weißen Oberlippenbart und weißes, halb langes und leicht gelocktes Haar.

»Richard? Sie heißen Richard?«

»Pssst! Löwenherz!« Der Atem von Patient 251011M9 roch unangenehm und streng nach Medikamenten. Sibel wurde von einer leichten Übelkeit erfasst, als er sich näher zu ihr beugte.

»Sie können sich an nichts erinnern?«

»Pssst! Ich bin nicht blöde!« Löwenherz rollte die Augen und setzte sich auf. Sibel zuckte automatisch zurück. Ein Reflex.

»Pssst! Ich bin harmlos. ICH bin harmlos!!! Die denken, sie haben es geschafft. MICH geschafft! Doch ich bin noch nicht ganz meschugge!«

»Was meinen Sie?«, fragte Sibel mit angespanntem Unterton in der Stimme.

»Ich habe Dinge gesehen, die glauben Sie nie. NIE! NIEMALS!«

»Was ist geschehen?«

»Die haben mich vollgepumpt. Mit Psychopharmaka abgeschossen, den totalen Gedächtnisverlust provoziert. Dann haben sie mich ausgesetzt, auf die Straße. Wollten einen Penner aus mir machen. Doch bevor sie dazu kamen, habe ich meine eigene Gegentherapie eingeleitet! Weißt du, ich bin selbst Arzt. Ein Professor! Jedes Mittel hat sein Gegenmittel! Auf diese Weise habe ich mich gerettet«, antwortete er, indem er die Augen nach oben drehte und die Stirn krauszog. Irre, dachte Sibel.

»Was ist passiert, Richard?«

»Psst! Löwenherz«, keuchte Nummer 251011M9.

»Ich habe zwei, drei Tage auf der Straße gelebt. Ich weiß nicht mehr genau! Weiß gar nichts mehr! So hat es sich jedenfalls angefühlt – und so habe ich auch gestunken.«

»Hmm ...«, antworte Sibel leise und bot ihm einen Plastikbecher mit Wasser an.

»Doch schau dir meine Hände an. Sind das die Hände eines Mannes, der auf der Straße lebt?«

»Was ist passiert?«, fragte Sibel geduldig weiter.

»Ich weiß selbst nicht so genau. Ich habe Lücken. Bilder kommen hoch. Sie bedrohen mich! Ich erinnere mich an meinen Beruf. Ich bin Arzt. Ich weiß allerdings nicht mehr, wo ich wohne. Ob ich verheiratet bin. Ob ich am Wochenende zu Chelsea oder Arsenal gehe! Doch ich bin guter Dinge, dass mein Gedächtnis zurückkehrt.«

»Löwenherz, sie sprachen davon, dass sie bedroht werden. Wer sind SIE?« »Psst! Um Gottes willen!!! Wenn die wissen, dass ich mein Gedächtnis zurückgewinne, bin ich verloren!!! Und jedem, dem ich erzähle, was ich weiß, muss auf der Hut sein!«

»Und?« Sibel ließ Löwenherz Zeit. Sie fühlte, dass er sich einiges von der Seele reden wollte.

»Sie sind gefährlich. SIE kontrollieren alles. Unsere Gedanken ... die Börsen ...«

»Wer sind SIE?« Sibel ließ nicht locker. Sie wusste, dass sie Löwenherz nur helfen konnte, wenn der Erinnerungsprozess wieder in Gang gesetzt wurde.

»Ich weiß es nicht! Man wollte mich in Italien engagieren, eine Testreihe an Kindern durchzuführen – mit nicht freigegebenen Pharmazeutika. Medikamente zur Gehirnmanipulation: Die Bezahlung war zu verführerisch! In einem Monat, ein komplettes Jahresgehalt! Wer kommt da nicht in Versuchung? Doch, als ich diese Kinder sah, da habe ich mich geweigert!«

»Mein Gott«, entfuhr es Sibel.

»Es waren doch noch Kinder«, schluchzte Löwenherz.

Sibel legte ihm eine Hand auf die Schulter:

»Ich behalte all das erst einmal für mich.«

»Ich weiß«, hauchte Richard Löwenherz. »Ansonsten hätte ich Ihnen auch nichts erzählt. Man spürt schließlich, wem man vertrauen kann. Selbst Ihnen als Frau, traue ich!«

Als Sibel die Tür schloss, starrte Patient 251011M9 bereits wieder zur Decke. Retrograde Amnesie, murmelte sie und schüttelte den Kopf. Sibel wurde neugierig. War Löwenherz ein neuerlicher Beweis dafür, dass die dunklen Mächte ihre weltweite Manipulation vorantrieben? Seit ihrem Schicksalsschlag in Neuseeland vor mehr als sechs Jahren, sammelte sie abnorme Vorkommnisse und Ungereimtheiten, die sich täglich rund um den Erdball ereigneten: Umwelt, Medizin, Börse und Politik. Es vergeht keine Stunde, in der nicht irgendwo auf der Welt Menschenrechte mit Füßen getreten werden und skrupellose Machthaber sich die Taschen vollstopfen, dachte sie. Die Lobby der Arzneimittelindustrie, die mit Apothekern und Ärzten unter einer Decke steckt, um zum Beispiel Antibiotika wie Fassbrause zu verabreichen, ist nur ein kleines, wenn auch fatales Beispiel. Mittlerweile sind die Keime resistent! Ein Hoch auf den Fortschritt, murmelte sie.

Solche Gedankengänge beschäftigten Sibel unablässig. Unter Freunden wurde sie als Verschwörungstheoretikerin belächelt. Doch waren Jans Tod und die Vernichtung des Hospitals wirklich Zufall? Und war es nicht ihre eigene Mutter gewesen, die ihr geraten hatte, immer einen Blick über die Schulter zu werfen? Und was hatte die Aussage von Löwenherz zu bedeuten „auch wenn Sie eine Frau sind.

»Ist er ein Frauenhasser? Hat er schlechte Erfahrungen gemacht? Sind SIE, Frauen? Was hat Vici dir damals über diese Sekte, dieses Matriarchat erzählt? Denk nach!« Die Fragen laut vor sich hinmurmelnd, begab sich Sibel auf Kontrollgang. Alles schien ruhig, keine besonderen Vorkommnisse.

Als sie das Pflegerzimmer schließlich wieder betrat, zog sie die Schuhe aus, streckte sich auf der Liege aus und legte den Piepser für etwaige Notfälle in Reichweite. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf.

2011 - 17.4., 19:00

Großbritannien,

London, Kensington,

Stratford Road

Szene 29

Innenaufnahme: Apartment Sibel. Sibel, ihre langen, gelockten Haare zum Zopf gebunden, schiebt einen Hoover durch ihr Einzimmer-Apartment. Sie trägt ein schwarzes, knielanges T-Shirt mit dem Aufdruck 'Ramones'. Darunter schauen die langen Beine im naturbraunen Teint der Südländerin hervor. Sie wirft einen Blick auf den Digitalwecker und legt einen Zahn zu, indem sie mit dem Hoover in die Ecken kurvt. Die weiße Schlafcouch ist drapiert mit wahllos verstreuten Klamotten. Über dem Flachbildschirm hängt ein BH und in der Spüle stapelt sich das schmutzige Geschirr der letzten beiden Tage.

Sibel hatte sich ein wenig gehen lassen.

Drei freie Tage am Stück sind ein Traum, murmelte sie entspannt. In einer Stunde würden die Jungs auftauchen. Sibel hatte sie zum Essen eingeladen und lange überlegt, was sie auftischen würde. Schließlich war sie Vegetarierin. Zwei Monate hatte sie überdies vegan gelebt; am Ende jedoch festgestellt, dass der Verzicht auf Milchprodukte für sie nicht in Frage kam. Sie entschloss sich schließlich dazu, Spaghetti mit Pinien Pesto sowie einen Waldorfsalat aufzutischen. Nudeln gehen immer, dachte sie und schaute auf die Uhr. Es wird Zeit, und unter die Dusche muss ich auch noch, stöhnte sie.

Steve trug Schuld, dass sie in Zeitnot geraten war. Ihm war nach einem Schwätzchen und er wollte partout nicht auflegen. Wir sehen uns später, hatte Sibel ihn schließlich nach fünfzehn Minuten abgewürgt.

Verrückt, mit Steve hatte sie telefoniert, doch ihre Gedanken waren bei Mikel. Sibels Blick verdunkelte sich, als das Telefon erneut läutete. Verdammt, was ist denn heute los, fluchte sie und nahm das Gespräch an.

»Hi hier ist Bob! Bist du das Sibel?«

»Wer sonst«, antwortete Sibel eine Spur zu schroff.

Bob war ein junger Kollege aus der psychiatrischen Anstalt. Er hatte sie noch nie zu Hause angerufen.

»Können wir uns treffen, Sibel?« Seine Stimme klang gehetzt.

»Was ist los?«

»Nicht am Telefon!«

»Hmmmm... Stichwort?«

»Löwenherz!«

Sibel verspürte eine aufkommende Unruhe.

»Ist es wichtig?«, fragte sie mit angehaltenem Atem.

»Sehr!«

»Gut, dann komm vorbei.«

Puuuuhhh, drei Jungs auf einmal, stöhnte Sibel, als sie auflegte. Macht nix, es gibt Schlimmeres, murmelte sie. Drei knackige Jungs zum Dinner, was will Frau mehr, grinste sie. Zeitgleich fühlte sie jedoch ein verräterisches Kribbeln in der Magengegend. Bobs innere Unruhe war auf sie über gesprungen.

Sibel sah atemberaubend aus, als sie den Jungs die Tür öffnete. Sie hatte ihren Körper eingeölt. Ihre Haut schimmerte bronzefarben. Das Tank-Top saß knapp und der seitliche Ansatz ihrer Brüste war unschwer zu übersehen. Steve schluckte.

»Hier, bester Chianti, meinte zumindest der Typ im Supermarkt«, schmunzelte er, drückte ihr den Karton in die Hand und küsste ihre Wangen.

»Schön, dass ihr da seid.« Indem sie das sagte, nahm sie auch Mikel in die Arme. Vielleicht eine Spur zu heftig?, schoss es ihr durch den Kopf.

»Das Essen ist gleich fertig. Und wir bekommen später noch Gesellschaft. Bob hat sich angesagt.«

»Wer is'n das?«, fragte Steve ein wenig erstaunt.

»Ach, mein neuer Lover, wisst ihr. Er wollte euch kennenlernen«, flunkerte Sibel und werkelte so geschäftig am Herd, dass die schätzungsweise zehn silbernen Armreifen, die ihr rechtes Handgelenk zierten, laut klimperten.

Es schien, als würde den Jungs für einen kurzen Moment alles aus dem Gesicht fallen. Sibel grinste:

»Nur ein Kollege. Es gibt wohl irgendwelche Probleme auf der Station. Ihr dürft Musik auflegen. Drüben liegen die CDs (Sibel deutete auf ein chinesisch anmutende Sideboard).« Zehn Minuten später, als John Cooper Clarkes ‚Night People‘ aus den Boxen waberte, servierte Sibel die Pasta. Mit einer flüssigen Bewegung ließ sich im Schneidersitz auf den abgewetzten Flokati nieder und goss Wein ein. Amüsiert beobachtete sie Mikel, der offensichtlich zu steif war, seine Glieder im Schneidesitz zu sortieren.

Nachdem er zwei Mal gegen die Tischbeine gestoßen und dabei fast den gesamten Rotwein verschüttet hatte, kniete er schließlich mit einem Murren nieder.

»Aus dir wird nie ein Yogi«, feixt Steve – und im gleichen Moment: »Hey, hier ist ja gar kein Fleisch drin.«

»Hab‘ ich‘s dir nicht gesagt, Sibel ist Vegetarierin«, schmunzelte Mikel.

»Warum um alles in der Welt, bist du Vegetarierin? Was hast du davon?« fragte Steve mit erstauntem Blick.

»Das musst du global sehen«, schmunzelte Sibel. »Um Fleisch zu produzieren, benötigst du Unmengen an Wasser um riesige Monokulturen hochzuziehen, mit deren Erträgen die Nutztiere gefüttert werden. Um die Monokulturen zu entwickeln, benötigst du wiederum Unmengen an Pestiziden. Die hingegen sind wieder sehr schädlich für das Grundwasser. Die Gifte gelangen obendrein ins Fleisch und somit in den menschlichen Kreislauf.

Darüber hinaus furzen die Rinder Methanlöcher in die Ozonschicht, was wiederum Ursache für die Klimaerwärmung ist.«

»Ich dachte ja nur an ein bisschen Schinken«, wehrte sich Steve.

»Die Energieverschwendung innerhalb der gesamten Produktionskette ist unglaublich. Die Produktion von einem Kilo Rindfleisch verursacht 36 Kilogramm Kohledioxid. Das ist so, als würdest du 250 Kilometer mit dem Auto zurücklegen. Und warst du schon mal auf einer Geflügelfarm oder hast dir angeschaut, wie Schweine gehalten und mit Unmengen von Antibiotika vollgepumpt werden – ich meine nur mal so vom ethischen und gesundheitlichen Standpunkt aus«, ereiferte sich Sibel und bot ihrem eigenen Redefluss schließlich mit einer gebieterischen Geste Einhalt:

»Schluss jetzt! Essen! Ich will die Pasta in Frieden genießen – schlemmen, trinken, lachen. Okay?«

»Na, wenn du Ansagen machst«, grinste Steve. »Wer wagt da schon, zu widersprechen?«

Als die zweite Flasche entkorkt wurde, machten es sich die Drei auf dem Boden bequem. Steve schaute sich um und erblickte einen Stapel feministischer Magazine. Kopfschüttelnd blätterte er eine Weile die Seiten durch. Sibel beobachtete ihn amüsiert und grinste, während sie Wein nachschenkte:

»Nein, ich bin keine Lesbe, auch wenn ich mich für die Rechte der Frauen einsetze. Vor einem Jahr war ich allerdings radikaler, habe mich in Gruppen engagiert. Doch irgendwann wurde mir der ganze Kram zu ideologisch«, erklärte sie und zuckte dabei ihre nackten Schultern.

Mikel bestaunte derweil die Unterwasserfotos, die nahezu die komplette Stirnwand einnahmen: Motive mit Muränen, Haien, Rochen, Schildkröten, Schiffwracks, bizarre Ansichten von Krustentieren – und Sibel als Taucherin.

»Darauf bin ich ein bisschen stolz«, lächelte Sibel.

»Hast du die etwa selbst geschossen?«

»Japp! Ich tauche seit meinem zwölften Lebensjahr. Eine große Leidenschaft.« Sibel zwinkerte ihm zu.

»Und mich interessiert, was diese ganzen Aktenordner zu bedeuten haben?« Steve musterte Sibel voller Neugier. »Klar, so ungefähr haben wir eine Ahnung. Ich meine, was du da über Verschwörungen sammelst. Ist das dein Hobby?«

»Hobby?«, schnaubte Sibel verächtlich. »Jungs, bevor ich mit euch darüber rede, möchte ich Folgendes klarstellen: Ich bin keine Psychotante! Ich bin nicht meschugge!«

»Und diese Ketten vor der Tür?«, fragte Mikel. »Paranoia?«

Sibel schaute ihn forschend an, schließlich antwortete sie:

»Wer weiß, vielleicht übervorsichtig. Aber Paranoia? Ich weiß nicht. Manchmal habe ich einfach Angst!«

Sibel band ihre schwarze Mähne zum Pferdeschwanz und griff scheinbar wahllos in einen Stapel Papiere.

»In den roten Ordnern finden sich von Menschenhand provozierte Naturkatastrophen. Alles, was ich zusammentragen konnte, habe ich hier festgehalten. Ich sammle weltweit erscheinende Artikel zu den Ereignissen und versuche, dort wo es geht, zu recherchieren«.

»Um was geht’s im Kern?«, fragte Steve, während er einen Joint drehte.

»Im Kern?« Sibel runzelte die Stirn und schlang die Arme um ihre perfekten Beine. Sie trug einen kurzen, bordeauxfarbenen Minirock. Ihre dunklen Schenkel waren eine Augenweide, im wahrsten Sinne des Wortes.

»Im Kern geht es um die Herrschaft über die Ressourcen. Wasser! Öl! Energiegewinnung jedweder Art. Wenn du dir die Macht über diese Elemente verschaffst, dann kontrollierst du alles – Industrie, Börsen, Politik – weltweit!«

»Und solche Dinge passieren tatsächlich? Außerhalb von politischer Kontrollinstanz?« Mikel schüttelte ungläubig den Kopf.

Sibel schlug den ersten Ordner auf und zeigte dann auf eine Reihe weiterer Akten, die sich unter dem Fensterbrett türmten.

»Alleine beim Thema Wasserkraft, haben wir es mit einer schier endlosen Manipulationskette zu tun. Wer im Besitz von Wasser ist, der überlebt. Wer keines hat, stirbt. So einfach ist das. Ich habe hier endlos viele Beispiele, die mit der Energiegewinnung durch Wasserkraft zu tun haben. In jüngster Zeit nimmt die Häufung der Fälle zu, wo gegen den Willen der Bevölkerung Dämme errichtet werden. Es gibt ein klares Bild, das sich abzeichnet: Die Bevölkerung leidet, hat aber nichts von der 'fortschrittlichen' Errungenschaft der Wasserkraft. Im Gegenteil, absurderweise leiden viele Menschen in diesen Ländern unter Wassernot. Talsperren und Absperrwerke gibt es Unzählige und es werden immer mehr – natürlich auf Kosten der naturbelassenen Wasserläufe. Vor allen Dingen in Afrika. Es häufen sich die Fälle, der Masseninfektionen, Epidemien, Vergiftungen und Massensterben im Vorfeld des Dammbaus innerhalb der Bevölkerungsgruppen, die in den Tälern heimisch sind. Dort wo ihre Dörfer standen, befinden sich heute riesige Wasserflächen. Jüngste Beispiele sind der Reires-Damm im Sudan, der Kainji in Nigeria, Massingir in Mosambik, Gilge Gibe III in Äthiopien oder der Kase in Lesotho. Die Vorgänge haben System und begegnen uns schablonenartig in anderen Erdteilen wieder. Der Shuangijangkon in China, der Enguri in Georgien, der Sajano-Schuschenkskaya in Russland, der Kishan und der Bhakra in Indien, der Kamuak im Iran, der Cipasang in Indonesien, San Roque auf den Philippinen, Toktogul in Kirgistan. Die Spitze eines Eisbergs!«

»Na komm, das geht ein wenig zu weit. Weltweite Mordkomplotts, Enteignungen – das glaubst du doch selbst nicht«, warf Steve ein und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Findest du?«, fragte Sibel ein wenig angesäuert. »Wir brauchen gar nicht so weit in die Ferne zu schweifen. Ändern wir den Industriezweig. In Deutschland entsteht im Rheinland die größte Braunkohlengrube der Welt. Das tiefste Loch der Erde wird später mit Wasser aufgefüllt. Es entsteht ein künstlicher See, der größer sein wird als der Bodensee! Die Energieart ist mehr als umstritten. Meint ihr ernsthaft, das alles geschieht zum Wohle der Menschheit? Die Bevölkerung im Rheinland wurde zwangsenteignet und umgesiedelt, an die 50 Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Fragen?«

Sibel nahm einen tiefen Zug vom Joint und fuhr unbeirrt fort.

»Zugegeben die Beispiele mit der Eliminierung ganzer Bevölkerungsgruppen sind extrem. Doch es geht auch subversiver. Nehmen wir Südamerika. Alles nicht koscher. Ob in Venezuela beim Guri-Stausee, ob in Brasilien beim Santo Antonia mit einer Staumauer von 3.100 Metern länge, ob in Paraguay, Mexiko und Kolumbien. Nimm Ecuador: Bei gleich zehn Stauseen, darunter die Bauwerke Ingapata, Almaluza und Guayllaba, kam es zu Unregelmäßigkeiten. So auch beim Bau des Ponte Masar. Hier soll es laut unabhängigen Medienberichten nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Manipulierte und gefälschte Boden- und Gesteinsgutachten, Zwangsevakuierungen der Bevölkerung, massive politische Umwälzungen. Neue Machthaber mit Blankoscheck, eleminieren Demonstranten! Die Brutalität, mit der vorgegangen wird, scheint keine Grenzen zu kennen. Bleiben wir auf dem Kontinent. In Argentinien entstand die natürliche Talsperre Chapetòn durch Bergrutschungen. Darf man einigen Quellen glauben, so handelte es sich um keine natürliche, sondern um eine künstliche, durch Menschenhand eingeleitete Bergrutschung. 120.000 Menschen kamen ums Leben. Der Chapetón wird mit 224.000 Metern Länge, die längste Talsperre der Welt werden.«

»Puuuh!« Mikel ließ sich mit einem langen Seufzer nach hinten kippen und holte dabei die kümmerliche Yucca-Palme von einem wackligen Beistelltisch aus Bambus. Der Topf blieb zwar heil, doch die ausgetrocknete Erde verstreute sich im Flokati. »Sorry, sorry, sorry«, beschwor er und half Sibel dabei das Malheur zu beseitigen.

»Sibel, das passt nicht zu unserer westlichen Zivilisation.« Steve schüttelte den Kopf und goss Wein nach. »Wir leben in Demokratien! Freie Meinungsäußerung, freier Presse und freien Wahlen!«

»Ich weiß, das ist schwer zu verstehen und noch schwieriger zu akzeptieren«, antworte Sibel, die das Kehrblech wieder unter der Spüle verschwinden ließ. »Wir werden ganz gezielt durch Medienberichte manipuliert. Wir schließen uns einem Netzwerk an, das millionenfach unsere Gedanken lenkt, Stimmung macht und Massen steuert. Schau dir die Politik der Kernenergie auf unserem Kontinent an. Gegen den Willen der Bevölkerung und gegen alle politischen Interessen werden parlamentarische Beschlüsse über den Haufen geworfen.« Sibel machte eine Handbewegung in Richtung des großen Regals, das bis zur Decke mit Ordnern gefüllt war. »Solartechnik, Windenergie – zum großen Teil in mafiösen Händen. Ich sag ja nicht, dass wir grundsätzlich verraten und verkauft sind. Doch die Tendenz ist steigend und die Gefahr der Manipulation nimmt von Tag zu Tag, zu. Oder glaubt ihr etwa das, was die Medien uns vorgaukeln?«

»Aber es sind doch nicht alle käuflich«, warf Mikel kopfschüttelnd ein.

»Das Ganze ist komplizierter, als es dem ersten Anschein nach aussieht. Für die einen gibt es Drogen und für die anderen den Gameboy. Es sind oft die kleinen unscheinbaren Dinge und Vorgänge, an die wir uns schon wie selbstverständlich gewöhnt haben. Wir fragen uns, weshalb den Irren die Elefanten, Nashörner, Haie, Delfine, Meeresschildkröten, Robben oder Wale abschlachten, kein Einhalt geboten wird. Das sind die regionalen Konzessionen, die man eingeht, um vor Ort die Bevölkerung bei der Stange zu halten. Umweltaktivisten und Organisationen, die anderer Meinung sind, denen wird das Leben schwer gemacht. Dann opfert man halt die Weltmeere und die Ozonschicht«, sinnierte Sibel. »Oder auch Menschen, die im Wege stehen und unbequem sind«, flüsterte sie. Sibel schenkte sich noch ein Glas Wein ein, atmete tief durch und wurde mit einmal sehr ruhig. Steve und Mikel wechselten einen beunruhigten Blick.

»Nein ihr habt recht. Mit Sicherheit sind nicht alle käuflich. Doch es scheint Mittel und Wege zu geben, auch die letzten Freigeister zu enteiern.«

»Weshalb sammelst du das alles?« Mikel machte eine ausladende Handbewegung.

»Ich habe meine persönlichen Gründe«, antwortete Sibel fast tonlos und fixierte dabei das verblichene Poster einer Umweltorganisation aus Neuseeland. »Meine Ma«, fuhr sie fort, und schien gedanklich mit einmal sehr weit weg zu sein: »Meine Ma war in ihrer Kindheit Gefangene einer Organisation, die es sich auf die Fahne geschrieben hatte, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Ich bin sicher, dass dieses Matriarchat nach wie vor besteht und ich fürchte, dass es seinen Einfluss seitdem ausgebaut hat.«

»Hmm... Matriarchat. Also Frauenpower?«, grinste Steve.

»Nein, mit Frauenpower oder Feminismus hat das ganz und gar nichts zu tun. Und ich fürchte, es ist nicht halb so lustig, wie du denkst. Wir reden von höchst kriminellen und brutalen Strukturen.«

»Und weshalb sollten Typen dabei mitmischen?«

»Sie werden dahin gehend manipuliert, ganz einfach«. Sibels Lächeln schien gequält.

»Und wie?«

»Nun auf vielerlei Arten. Die Kooperation verhilft ihnen zu Reichtum und Macht. Doch der größte Manipulator ist Sex. Die Frauen dieser Gemeinschaft verstehen sich darauf, mithilfe von Sex, zu manipulieren und Gewalt auszuüben. Jeder, der sich auf sie einlässt, verfällt ihnen. Es ist wie eine Droge.«

Sibel drehte eine Zigarette.

»Doch nun erzähl Steve, weshalb warst du am Telefon dermaßen aufgebracht?«

Steve wurde nachdenklich und nickte Mikel zu.

»Du glaubst nicht, was uns heute passiert ist«, legte Mikel stockend los. »Wir hatten einen Termin bei unserem A&R und haben über dies und das gesprochen – über die einzelnen Nummern, Plattencover, Tour und so weiter.«

Sibel hörte Mikel konzentriert zu. Sie mochte die Art, wie er seine Lippen bewegte, wenn er redete. Seine Gesten, seinen Augenaufschlag und das Muttermal am Grübchen seines Kinns.

»Na ja, dann passierten gleich mehrere absonderliche Dinge. Zunächst machte er für drei Songs, darunter die Single, neue Textvorschläge.«

»Ungewöhnlich?« fragte Sibel neugierig, den Kopf auf eine Hand gestützt, während die Finger der freien Hand ihre Locken drehten.

»Schon«, antwortete Steve. »Doch was er uns vorlegte, war oberflächliche Scheiße.«

»Mit den Lyrics hätten wir das Wahlprogramm von Maggy Thatcher ankurbeln können. Unglaublich!!!«, warf Mikel ein. »Hey und wir stehen für was ganz anderes, das weißt du!«

»Er sprach davon, dass wir uns in Kürze vor Groupies nicht mehr retten könnten.« Bei der letzten Feststellung grinste Steve.

»Er sprach von der Vorbildfunktion, die wir für die Jugend hätten. Für ein starkes und sauberes Königreich ... blablabla.«

»Hmm was habt ihr ihm geantwortet?«

»Natürlich, dass das mit uns nicht zu machen sei. Wir werden uns nicht prostituieren«, antwortete Mikel aufgebracht.

»Wir sollten es uns reiflich überlegen, antwortete unser A&R und verdoppelte den Vorschuss auf das Album«, präzisierte Steve. »Doch als ich ihn dann beim Hinausgehen eröffnete, dass wir einen Charity-Gig für die Organisation Lost Children spielen, zu dem er herzlich eingeladen sei, da ist er uns fast an den Hals gesprungen. Er schrie: Wenn ihr das macht, dann seid ihr raus. Dann seid ihr tot für uns. Ich werde dafür sorgen, dass ihr kein Bein mehr an den Boden bekommt!

»Er war außer sich«, versicherte Mikel.

»Könnt ihr euch keinen Reim darauf machen, weshalb euer Label so einen starken Einfluss ausüben will?«, fragte Sibel nachdenklich.

»Wir haben uns umgehört«, antwortete Steve sichtbar erregt. »Auf diese Weise wollten sie auch den Headliner des Labels sowie drei Nachwuchsbands ficken.«

»Was denkt ihr? Konservativer Rechtsruck im Mäntelchen des Rock'n'Roll?«

»Das ist doch scheiße«, polterte Steve. »Du kannst doch auch keinem Maler vorschreiben, wie er sein Bild, zu malen hat oder einem Autor das Thema seines neuen Romans vorgeben!«

»Nein?«

»Ich weiß! Verdammt. Das kann doch nicht angehen, Sibel. Deine Verschwörungstheorie geht mir echt zu weit!«

»Menschen lassen sich aber nun mal über Bildung, Erziehung und Kunst manipulieren!«

»Hmm …«

»Hey«, Sibel hob beschwörend die Hände, »vielleicht ist das auch nur ein einsamer Wichser, der seine Ideale durchrücken will. Vielleicht steckt aber auch die Company dahinter – oder der Konzern, der die Strippen hinter der Company zieht! Jedenfalls scheinen sie ja eine ganz klare Botschaft durchdrücken zu wollen, oder? Doch, was ist mit diesem Charity-Auftritt?«

»Das klang echt bedrohlich. Ich dachte, gleich kriegt er nen Herzkasper, so hat er sich aufgeregt. Dabei geht’s doch um eine gute Sache.«

»Lost Children... habe ich schon drüber gelesen«, murmelte Sibel.

»Ja, Barbara Butcher ist die Tochter einer Bekannten meiner Mutter«, erklärte Mikel. »Ihr Sohn Ben verschwand vor einem Jahr gemeinsam mit drei Freunden, als sie sich vom Sportunterricht auf den Heimweg machten. Niemand hat je wieder etwas von ihnen gehört. Die Jungs waren zwischen sieben und acht Jahren alt. Könnt ihr euch diese Verzweiflung vorstellen? Seitdem schreibt Mrs. Butcher Betroffene an. Die Veranstaltung soll so etwas wie ein konstituierender Auftakt sein. Barbara Butchers psychischer Zustand lässt es allerdings nicht zu, die Gesamtverantwortung zu tragen. Seit etwa zwei Monaten hält nun eine Griechin das löchrige Netzwerk zusammen. Sie wird als Gastrednerin erwartet. Immer wieder verschwinden Kinder und diese Organisation bemüht sich um Aufklärung. Da kann selbst ein konservativer Arsch keine Einwände haben.«

»Da hast du recht. Das begreife ich auch nicht.« Sibel seufzte und legte eine neue CD ein.

Zehn Minuten später, als Manu Chao's 'Je ne t'aime plus' aus den Boxen säuselte, klingelte es an der Wohnungstüre. Sibel erhob sich bedächtig, schaute durch den Sucher, entriegelte die Tür und begrüßte einen sichtlich aufgebrachten Bob. Er brummte ein ‚Hi‘ in die Runde und schnauzte lautstark die Nase. Bob war ein untersetzter Typ Mitte zwanzig. Seine halblangen, feuerroten Haare trug er zum Zopf gebunden und kaute sichtlich erregt auf einem Kaugummi. Er sah aus wie das Abziehbild eines typischen Iren. Sibel bot ihm ein Glas an.

»Willkommen zur 'du glaubst nicht, was mir heute alles passiert ist'-Gruppe!«

»Willkommen zu unserer konspirativen kleinen Runde«, frotzele Steve. »Wir decken hier und heute eine globale Verschwörung auf. Die Aliens werden uns angreifen. Doch padapapapadapapapaaaah kommt in allerletzter Sekunde die Kavallerie um die Ecke gebrettert und rettet die Welt.«

Sibel verdrehte die Augen zur Decke und deutete auf die Akten:

»Alles nur Spinnerei?«

»Ich weiß ja nicht, um was es hier geht«, schaltete sich Bob ein. »Doch mir ist echt nicht nach Scherzen zumute!«

»Erzähl, was ist los!«

»Es geht um 251011M9.«

»Was ist los, mit ihm?«

»Du hast mich gebeten, ein Auge auf ihn zu werfen. Hast mir erzählt, er glaube, Arzt zu sein und, dass er sich verfolgt fühlt.«

»Richtig. Er verriet mir, dass er mittels nicht frei gegebener Psychopharmaka Experimente an Kinder durchführen sollte.«

»Seine Erinnerung scheint zurückzukommen. Er hat sich mir anvertraut«, raunte Bob. »Er sprach von einer Organisation, die Experimente im Bereich der Gehirnmanipulation durchführt, um Menschen aus dem Verkehr zu ziehen. Auch an Privates konnte er sich erinnern. Er glaubt, Single zu sein und in Brighton als Arzt zu praktizieren. Er habe Todesangst. Er glaubt, man wolle eine transorbitale Lobotomie bei ihm durchführen!«

»Was?« entfuhr es Sibel. »Wo? In unserer Klinik?«

»Ja«, antwortete Bob. Er war mittlerweile kreidebleich.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Steve und zupfte nervös an seiner Nase.

»Das ist eine neurochirurgische Operation und schon lange aus der Mode gekommen. Diese Therapie wurde durch Psychopharmaka ersetzt. Oh Gott, so eine brutale Scheiße. Das kann nicht sein!« Sibel war aufgebracht.

»Was passiert dabei?« fragte Mikel neugierig.

»Es ist eine Gehirn-OP, bei der die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen sowie Teile der grauen Substanz durchtrennt werden.«

»Das ist doch Papperlapapp. Wir sind doch hier nicht in Frankensteins Laborküche«, stöhnte Steve.

»Da bist du leider falsch informiert, mein Lieber. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, Frankenstein war immer unter uns. Ich schaue noch mal genau nach, antwortete Sibel und griff nach einem medizinischen Schinken.«

Nach zwei, drei Minuten peinlichen Schweigens, wurde sie fündig:

»Hier: Die Hirnoperationstechnik wurde von dem Italiener Mario Fiamberti und dem Portugiesen António Egaz Moniz vorangetrieben. 1936 wurde sie erstmals am Menschen durchgeführt. 1949 erhielt Moniz den Nobelpreis für Medizin. Anfang der 40er Jahre entwickelte vor allen Dingen der Amerikaner Walter Freeman die Methode zu einer populären Standardtechnik der Psychiatrie. Wurde bis 1955 in den meisten Industriestaaten eingesetzt«, las Sibel weiter. »Die massenhaften psychischen und psychiatrischen Erkrankungen waren in den USA eine Folge des Zweiten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise ...«

»Die haben also operiert, was das Zeug hält?« fragte Bob ungläubig.

»Hier steht«, fuhr Sibel weiter fort: »Walter Freeman schrieb ohne Beschönigung: Die Psychochirurgie erlangt ihre Erfolge dadurch, dass sie die Fantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft. Walter Freeman ließ jedoch auch nach der Einführung von Psychopharmaka und der weitgehenden Ablehnung der irreversiblen operativen Methoden in der Praxis nicht von seiner transorbitalen Lobotomie ab. Sein Wille, die Methode zu verbreiten und Kollegen zu überzeugen, erreichte dabei bizarre Auswüchse: So operierte er vor den Augen zahlreicher Zuschauer sowohl im Fernsehen als auch in Hörsälen Patienten im Akkord (mehrere Dutzend pro Tag). Zeit seines Lebens pries er die Lobotomie als optimale Behandlungsform und operierte bis zu seiner Pensionierung 1962 weiter, insgesamt ca. 3600 Patienten.« *P.R. Breggin: Elektroschock ist keine Therapie, 1989, Urban & Schwarzenberg, S. 175.

»Und das ist auch heute noch erlaubt?«

Mikel schien wie vor den Kopf gestoßen.

»Verboten ist es jedenfalls nicht, so weit ich weiß.« Sibel kaute nervös auf einer Haarsträhne. »Hier steht es: Bei der Lobotomie werden die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontlappen sowie Teile der grauen Substanz durchtrennt – und zwar im Nerotex-Abschnitt. Angewendet zur Schmerzausschaltung, bei Psychosen und Depressionen. Folgen: Persönlichkeitsveränderung mit Störung des Antriebs und der Emotionalität.«

»Am Hirn herumschnipseln, wo gibt’s denn so was?« Steve verzog angewidert das Gesicht.

»Das ist ganz normal«, erwiderte Sibel. »Heute macht man das mit Hilfe von Lasern, Ultraschallaspiratoren und Neuronavigationssystemen. Das Laserzielgerät wird dabei am Mikroskop angeschlossen. Setzt man vor allen Dingen bei Gehirntumoren und Hirnblutungen ein. Wie immer kann man diese Methode zu guten Zwecken nutzen oder zu schlechten missbrauchen. Doch eine Lobotomie verheißt meines Erachtens nichts Gutes!«

Sibel musterte Bob nachdenklich. »Was hat Löwenherz noch gesagt?«

»Er fantasierte von Manipulationen apokalyptischen Ausmaßes. Auf allen Ebenen haben sie uns bei den Eiern, sagte er wortwörtlich. Auch hier in eurer Klinik sind sie unterwegs. Immer wieder wiederholte er den Begriff Diez Hermanas. Keine Ahnung, was er damit andeuten wollte, oder was es damit auf sich hat.«

»Hmmm,« Sibel schaute nachdenklich. »Diez Hermanas ist Spanisch und heißt übersetzt zehn Schwestern.«

»Noch jemand einen Zug?« fragte Steve, der liegend mit dem Kopf unter den Couchtisch abgetaucht war.

Erneut entstand eine längere Redepause.

»Sie müssen es sein«, durchbrach schließlich Sibel das Schweigen. Diez Hermanas. Zehn Schwestern. Das Matriarchat lebt. Zustra zieht nach wie vor die Strippen.« Wie ferngesteuert ging ihr Blick zur Tür. »Vielleicht schieben wir auch grundlos Panik.« Mikel hustete, als er den Rauch ausblies. »Wahrscheinlich hat dieser Löwenherz einfach nur Panik. Schaut, er hat sein Gedächtnis zumindest teilweise verloren. Klar, dass der am Rad dreht. Aber diese fixe Idee mit der Lobotomie kann er ja auch einfach so in seinem kranken Hirn erdacht haben.«

»Sein Hirn ist nicht krank«, stellte Bob tonlos fest.

»Hat er sonst noch irgendetwas von sich gegeben?« Sibel wurde zunehmen nachdenklicher.

»Er wollte mir noch etwas zuflüstern. Doch als Paul das Zimmer betrat, verstummte er und schloss im gleichen Augenblick die Augen.«

»Paul«, murmelte Sibel. »Paul!«

»Du hast morgen frei. Versuch, den Abend zu genießen«, lächelte Bob, als er sich erhob und seinen roten Zopf band. »Ich melde mich, falls es irgendwelche besonderen Vorkommnisse geben sollte.«

»Halt ich komme mit«, echote es unter dem Couchtisch hervor. »Ich bin im Eimer. Ich muss ins Bett«. Steve gähnte herzzerreißend und dachte, mit Blick auf Sibel: Mikel hatte recht. Die ist ja komplett hysterisch. Nein, die Braut ist mir zu chaotisch. Nicht meine Kragenweite. Kurve kratzen und weg!

»Oh großer Aufbruch?« Mikel, der in einen Aktenordner vertieft war, schaute erstaunt auf.

»Wenn du magst, bleib noch. Ich würde mich freuen.« Sibel legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Nachdem sie die beiden verabschiedet hatte, verriegelte Sibel geräuschvoll die Tür und atmete tief durch. Mikel schaute auf und lächelte:

»Bin ich jetzt dein Gefangener?«

»Wenn du willst«, entgegnete Sibel mit rauchiger Stimme. Ist es nicht an der Zeit, mal auf andere Gedanken zu kommen und sich angenehmeren Dingen zu widmen. Dann erschrak sie, unsicher ob sie das nun laut gesagt – oder tatsächlich nur gedacht hatte.

»Ich öffne noch eine Flasche Wein. Magst du?« fragte sie daher mit Unschuldsmiene.

Mikel nickte:

»Gerne.«

»Oasis?«

»Klingt gut.«

»Hatte ganz schön einen sitzen, der Gute«, murmelte Sibel und hockte sich im Schneidersitz neben Mikel.

»Ganz schön krass, was du zusammengetragen hast. Was treibt dich dazu?« fragte Mikel so mitfühlend wie nur irgend möglich.

»Lange Geschichte.« Sibel nahm einen tiefen Schluck Wein und fixierte das Poster der Umweltorganisation Save Turtles. »Mit Ausnahme von Liz habe ich noch niemandem in London davon erzählt.«

Mikel breitete die Arme aus, als wolle er sagen nur zu. Schieß los, ich kann zuhören. Das Werfen des rechten Armes zur Seite kam allerdings eine Spur zu schwungvoll. Ergebnis: Die Schüssel mit Chips hob ab und flog durch die Luft wie eine Rakete beim Start, am Ende des Countdowns.

»Oh no!«

»Halb so wild«, grinste Sibel. »Ich werde morgen saugen.«

»Bekomme mich heute schlecht koordiniert. Sorry, ich bringe das gleich in Ordnung.«

»Nein, bleib sitzen.« Sibel atmete tief durch. »Ich bin ein wenig vorbelastet durch die Geschichte meiner Ma. Und was ich erzähle, ist keine Spinnerei. Ich bin auch nicht halb so labil, wie das manchmal den Anschein haben mag. Doch die Geschichte rund um diese radikale Sekte ist nicht herbeifantasiert.«

Sibel brach ab, umfasste ihre Knie und bog den Oberkörper durch. Mikel ertappte sich dabei, wie sein Blick an ihren straffen Brüsten hängen blieb, die durch das Tank-Top nur schwerlich gebändigt wurden. Ein leises Stöhnen und ein verzweifelter Blick signalisierten, wie schwer Sibel die kommenden Sätze fallen würden.

»Meine Ma war eine Schülerin der Sektenführerin. Sie befand sich also im inneren Zirkel. Früh lernte sie die Regeln des Matriarchats. Eine hieß Unterwerfung des Gegners durch Sex. Darin waren die Mitgliederrinnen wohl spitze.« Ein kleines, gequältes Lächeln spielte in ihren Mundwinkeln.

»Und dann?« fragte Mikel mit leiser Stimme.

»Sie ist geflohen. Sie hat sich an den Hals des Nächstbesten geschmissen und ist mit ihm durchgebrannt. Sie war damals 15 Jahre alt. Diese Geschichte hat mich natürlich sensibilisiert.«

»Und dann hast du angefangen zu recherchieren?« Mikel deutete fragend auf die Ordner.

»Nein! Der Auslöser war ein anderer.«

Sibel schluckte, Tränen traten ihr in die Augen. Ihre Stimme wurde brüchig. Mikel nahm ihre Hand:

»Lass dir Zeit.«

Sibel sah ihm tief in die Augen und stöhnte auf:

»Ich habe in Neuseeland gelebt, das habe ich dir ja schon erzählt. Ich arbeitete mit meinem Freund Jan für die Umweltorganisation Save Turtles. Das schien nicht allen zu gefallen. Irgendwem waren wir im Weg. Frag mich nicht nach den genauen Hintergründen. Ich weiß, dass die Regierung damals Schwierigkeiten mit den Maori hatte. Deren Probleme als unterdrückte Ureinwohner und Minderheit waren natürlich vielschichtig. Unser Ziel war es, den Fang und den Verzehr von Meeresschildkröten zu unterbinden. Damit ging es den Maori gleichwohl an eine weitere Tradition. Für das, was dann allerdings geschah, tragen diese armen Menschen keine Schuld.« Sibel schluckte schwer. »Die hatten damit nichts zu tun, das habe ich recherchiert – und meine Ma auch.«

»Was passierte?« fragte Mikel mitfühlend und legte den Arm um Sibel. Wie gut sie riecht, dachte er. Sie fühlt sich gut an.

»Eines Tages, Jan war mit einem Schnellboot unweit der Küste unterwegs, um durch Schiffsschrauben verletzte Schildkröten zu bergen, gab es plötzlich eine riesige Explosion. Ich bin sofort hin. Das Turtle-Hospital brannte lichterloh. Ich sah das Rettungsboot sich im schnellen Tempo dem Strand nähern. Jan winkte mir aufgeregt zu. Im nächsten Moment ...« Sibel schluckte, dann rollten Tränen über ihre Wangen. Sie begann, zu schluchzen. »Im nächsten Moment explodierte das Boot.« Sibel wurde nun von einem Weinkrampf geschüttelt und lehnte den Kopf an Mikels Schulter. Sie versuchte, die aufkommenden Bilder zu verdrängen.

»Die Explosion zerriss Jan«, flüsterte sie leise, nachdem sie sich wieder ein wenig gefangen hatte.

»Mein Gott!«

»Es ereigneten sich noch eine Reihe harmloser, aber merkwürdiger Vorkommnisse. Ma's Bauchgefühl signalisierte Aufbruch. Dann sind wir Hals über Kopf weg und nach London gekommen.« Sibel schaute Mikel mit tränenunterlaufenen Augen an.

»True Story!« Sie begann erneut zu schluchzen und schmiegte sich Hilfe suchend an Mikels Schulter. Er nahm sie noch inniger in die Arme und begann ihren Kopf zu streicheln. Es ist ein wunderbarer Zauber, der von ihr ausgeht, dachte er.

»Seitdem sammle ich alle abnormen Ereignisse, die sich weltweit zutragen. Es ist wie eine Sucht, fast krankhaft. Ob Erdbeben oder Vulkanausbrüche, überall vermute ich die große Verschwörung. Es ist zum Kotzen!«

»Pssst...« Mikel wiegte sie in seinen Armen, während im Hintergrund die Gallagher-Brüder die ersten Töne zu 'Wonderwall' anstimmten.

»Du hast schöne Hände«, murmelte Sibel und zog ihn noch ein wenig näher zu sich heran.

So verharrten sie lange zehn Minuten, bis Sibel sich schließlich löste. Schniefend setzte sie sich auf und rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Lange her«, seufzte sie. »Aber manchmal kommt es einfach hoch. Ich habe Lust auf einen Tee. Magst du auch?«

Mikel fühlte sich sichtlich mitgenommen.

»Gerne«, antwortete er mechanisch.

»Und was passiert jetzt mit eurem Gig für Lost Children?«, fragte Sibel, indem sie sich über die Schulter drehte.

Sie sieht atemberaubend aus, dachte Mikel. Doch halt, sie ist auch der Traum deines besten und ältesten Freundes! Finger weg, mahnte er sich.

»Den werden wir spielen, ist doch klar«, antwortete er kämpferisch. »Wir lassen uns von einem idiotischen Plattenheini doch nicht vorschreiben, für wen wir auftreten, und für was wir stehen!«

»Gut gebrüllt Löwe«, schmunzelte Sibel und reichte ihm eine Schale mit schwarzem Samowar-Tee.

»Ich habe seit dem Tod von Jan keinen Freund mehr gehabt.«

»Keinen Festen?«

»Japp! Und auch keine Affären. Nichts! Kannst du dir das vorstellen?«

Mikel musterte sie verstohlen, sein Mund wurde trocken und plötzlich zog es in seinen Lenden.

»Nein, ehrlich gesagt unvorstellbar«, antwortete er mit belegter Stimme.

»Jetzt erzähl mal was von dir.«

»Ach da gibt es nichts besonders«, legte Mikel stockend los. »Brav und bürgerlich und wohl behütet an der Südküste, in Chichester aufgewachsen. Mit neun Jahren lernte ich Steve kennen, wir gingen in die gleiche Klasse. Im Alter von zehn Jahren begannen wir gemeinsam im Klub zu kicken, beide im Mittelfeld. Mit zwölf begann ich Gitarre zu spielen. Steve erstand ein gebrauchtes Schlagzeug. Als wir fünfzehn waren, spielten wir in der ersten Band. Steve zog mit neunzehn nach London. Ich brauchte noch ein Jahr, hatte damals eine Trennungsgeschichte laufen. An meinem zwanzigsten Geburtstag packte ich schließlich meinen Kram und zog bei Steve ein. Wir schrieben uns für Journalismus und Kunst an der Uni ein. Im Grunde genommen haben wir aber immer nur Musik gemacht. Immer wieder in unterschiedlichen Bands gespielt. Diesmal muss es klappen. Ich meine, wir haben nicht ewig Zeit, ich werde nächsten Monat dreiundzwanzig Jahre alt.«

»Hey keine Panik, das ist doch kein Alter«, lächelte Sibel. »Schau mich an, ich werde nächstes Jahr siebenundzwanzig. Ich bin schon ganz verrunzelt«, grinste sie.

»Stimmt«, faxte Mikel. »Ich schenke dir bei Gelegenheit Oil of Olaz, das soll helfen.«

Sibel knuffte ihn mit aufgesetztem Entsetzen in die Rippen und ließ sich gegen ihn fallen. Schon wieder dieses Kribbeln dachte Mikel. Wie gut sie sich anfühlt! Sibel schloss für einen kurzen Moment die Augen und genoss: Welch schönes Gefühl, ihn zu spüren.

Einen Augenblick später versteifte sich jedoch Mikels Körper. Was tust du hier?, schoss es ihm durch den Kopf. Du bist verrückt!!! Steve ist in Sibel verknallt! Du kannst unmöglich deinen besten Freund betrügen!

»Alles okay, mit dir?« Sibels Gesicht war jetzt Mikels sehr nahe. Sie konnte seinen Atem spüren. Hört er mein Herz pochen, fragte sie sich. Mikel konnte die innere Anspannung kaum noch ertragen. Instinktiv rückte er ein wenig von Sibel ab. Er wusste sich nicht anders zu helfen und schaute umständlich auf seine Armbanduhr.

Sibel:

In diesem Moment zersprang der Anfang von etwas, das sich sehr schön angefühlte, mit einem leisen Klirren. Es tat weh. Ich war verwirrt. Was hatte ich falsch gemacht? Hatte ich zu offensiv agiert?

Mikel:

Oh Mann, ich bin ein Idiot. Sie ist so verletzlich. So allein. Und jetzt enttäusche ich sie. Sibel ich möchte dich gerne weiter im Arm halten. Doch das darf nicht sein!

Mikel warf einen erneuten Blick auf die Uhr.

»Spät?« fragte Sibel mit unsicherer Stimme.

»Halb zwei, ich muss los«, antwortete Mikel mechanisch, während er sich erhob.

»Pass auf, schmeiß mir nicht den Tisch um«, witzelte Sibel, um die Situation zu überspielen. Mikel ging darauf ein:

»Haha immer auf die Kleinen«, äffte er. »Soll ich dir noch helfen, das Chaos zu beseitigen?« Mikel deutet mit einer Handbewegung durch den Raum.

»Nein, lass gut sein, das erledige ich morgen. Ich leg mich gleich hin.« Sibel druckste und drehte Mikel den Rücken zu. Sein Blick blieb an ihrer Wespentaille hängen. Haftete auf ihrem perfekten Hintern, der vom Minirock wie eine zweite Haut umspannt wurde. Wäre er seinem Instinkt gefolgt, so hätte er nun einen Arm um ihre Hüfte gelegt.

»Der letzte Teil des Abends war sehr schön«, lächelte Sibel, indem sie sich über die Schulter drehte. »Hier (sie streifte einen Armreif über ihr Handgelenk) – ich möchte ihn dir schenken. Einfach so, weil wir Freunde sind. Okay?«

»Okay«, antwortete Mikel sichtlich perplex. »Vielen Dank! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Gute Nacht könntest du noch sagen«, lächelte Sibel, als sie die Wohnungstür entriegelte. Mikels Blick verfing sich an ihrem kirschroten Mund. Dieses Hochziehen der linken Oberlippe bis kurz vor dem Umstülpen, war ihm damals als Erstes ins Auge gesprungen. Anfangs hatte er es als leicht arroganten Zug interpretiert. Doch jetzt erschien ihm diese, auf den ersten Blick verunglückte Mimik offen, verführerisch, herausfordernd und hoch erotisch.

»Und jetzt raus mit dir, die alte Frau muss schlafen.«

Im Hausflur stehend, dreht sich Mikel noch einmal über die Schulter und knetet unbeholfen seine Baseballkappe. Dann hängte er ihr spontan seinen Gunners Schal um den Hals.

»Vielen Dank, Sibel! Es war sehr schön! Kommst du übermorgen zum Gig?«

»Denke schon«, antwortete sie mit einem Augenzwinkern.

»Aber ich wollte dir noch etwas sagen.«

»Was?«

»Du fühlst dich gut an.«

»Du auch«, stammelte Mikel, drehte sich zur Treppe um und nahm stolpernd die Stufen bis zum Erdgeschoss.

2011 - 17.4., 2:30

Großbritannien

London,

Royal Nurse Hospital,

Szene 30

Innenaufnahme: Abgedunkeltes Pflegezimmer. Lediglich eine schwache Schreibtischlampe wirft ein fahles Licht auf Schränke voller Medikamente.

»251011M9 wird zum Problem! Was sollen wir tun? Seine Kollegen in Brighton haben herausgefunden, dass er hier ist. Was nun? Exitus?«

Die Leitung am anderen Ende knackte, dann rauschte es.

»Nein, zu gefährlich. Zu offensichtlich. Zu viele unnötige Fragen, die unter Umständen Untersuchungen nach sich ziehen. Sprecht von einer schweren Krise, die eine schnelle Lobotomie unumgänglich machte! Danach hält ihn sowieso niemand mehr für zurechnungsfähig. Dann ist er erledigt. Das wird zwar auch unangenehm, aber damit kommen wir durch. Wir halten euch den Rücken frei.«

Sibel plagte währenddessen ein unruhiger Schlaf. Sie träumte von ihrer Mutter Vici.

VICIS PROLOG

2008 - 15.10., 20:10

Rückblende

Deutschland

Köln, Spichernstraße

Niemals hätte ich damit gerechnet, noch einmal ein eigenes Baby im Arm zu halten. Doch nun ist sie da, unsere kleine Fernanda. Na ja, es war Winnis Wunsch, ihr diesen Namen zu geben.

Wir erleben einen wunderbaren Oktober. Die alten, majestätischen Platanen im Stadtgarten strahlen in herbstlichen Farben. Vor einem Jahr entdeckten wir diesen wundervollen Altbau in der Spichernstraße. Wer hätte gedacht, dass Winni und ich noch einmal zueinanderfinden würden? Unglaublich nach all den Jahren und nach all dem, was sich zugetragen hatte!

Es war mir nicht leichtgefallen, Sibel im Januar 2006 in London alleine zurückzulassen. Einerseits hatte sie schon lange auf dem Nestrand gehockt. Andererseits war sie nach den Vorkommnissen in Neuseeland und nach Jans Tod in einer jämmerlichen Verfassung. Zu allem Unglück hatte sie sich seit dieser Zeit in den Kopf gesetzt, gegen Zustras Matriarchat vorzugehen. Den Job, in der Klapse, sitze ich auf einer Backe ab, hatte sie mir beim letzten Besuch erzählt. Voller Stolz hatte sie eine Reihe von Ordnern und Festplatten präsentiert: gesammeltes Material! Sibel trug dieses gefährliche Funkeln in den Augen, für das ich einst in meiner eigenen Jugend bekannt, berüchtigt und gefürchtet war.

Es war im Januar 2006, als ich ohne große Erwartungen nach Köln zurückkehrte. Hört sich das jetzt an, wie nach Hause kommen? Dann habe ich mich falsch ausgedrückt, denn ich war in dieser Stadt nie heimisch gewesen. Ich hatte die gesamte Welt bereist und es gab eine Handvoll Orte, die ich eher als Heimat bezeichnet hätte. Als ich jedoch über die Severinsbrücke fuhr und den Dom erblickte, fühlte sich das vom ersten Moment, richtig an.

Es war bitterkalt und der Himmel von einem trostlosen Grau. Doch entgegen allen Erwartungen waren die Menschen in prächtiger Stimmung. Sie feierten die fünfte Jahreszeit: Karneval!

Als mich schließlich nichts mehr in meiner Pension auf der Bonnerstraße hielt, erstand ich ein Piratenkostüm und ließ mich durch die Kneipen und Straßen treiben.

Plötzlich schunkelte ich mit wildfremden Menschen. Ja, so ist es: Schunkeln ist gut gegen Einsamkeit und Traurigkeit und vertreibt das Gefühl des Alleingelassenseins.

Ich genoss die oberflächlichen Berührungen und ließ mich von der Freude der Jecken anstecken.

2006 - 28.2., 14:00

Rückblende, zwei Jahre zuvor

Deutschland

Köln, Friesenstraße

Szene 31

Innenaufnahme: Eckkneipe. Karnevalsdienstag gegen 14 Uhr. Eine Unzeit. Die lustigen Tage sind gezählt. Am Abend wird der Nubbel verbrannt, und am nächsten Tag ist Aschermittwoch. Der Tag, an dem nach einem berühmten Karnevalsschlager, alles vorbei ist. Hinter der Theke stehen ein abgekämpfter Indianer, ein Lappenclown und eine Hexe mit Sonnenbrille. Aus den Boxen erklären uns die Bläck Fööss, weshalb es „in unsrem Veedel“ so schön ist. Über dem Tresen hängen drei Cowboys im Koma. Eine sichtlich gealterte Prinzessin knutscht währenddessen mit einem übergewichtigen Schornsteinfeger, was das Zeug hält. Am Ecktisch hat eine Gruppe von Clowns, Generälen und Meerjungfrauen dermaßen die Kontenance verloren, dass ihr Anblick geradezu das Auge beleidigt. Seibernd, lallend, schnarchend, sich mit Kölsch und Erbsensuppe besudelnd, stecken einige trotz allem begierig ihre Zunge in den Hals des jeweiligen Nachbarn. Ein Geruch nach Sauerem, nach Erbrochenem, nach Schweiß, Zigarettenqualm und abgestandenem Bier liegen in der Luft. Der Boden ist mit Kippen, Scherben und Resten von zertretenen Frikadellen übersät. Am Ende der Theke hockt ein belämmert dreinschauender Willi (das ist der Mann von Biene Maja) in einem gelb-schwarz geringelten Kostüm vor einer frisch gezapften Cola.

Als ich die Kneipe betrat, hatte ich den festen Vorsatz gefasst: noch ein Bier und dann heim. Unglaublich, doch ich hatte mich vom Karneval anstecken lassen und schmetterte „Du bess Kölle“ mit voller Inbrunst und dem Brustton der Überzeugung. London, Neuseeland und alles, was davor lag, schien Welten entfernt.

Ich steuerte auf das Ende der Theke zu und signalisierte der Hexe hinter dem Zapfhahn: „en großes Kölsch“! Alleine und etwas belämmert hockte eine männliche Ausgabe von Biene Maja vor einer Cola. Der Typ sah zum Schreien aus. Das Kostüm kleidete ihn unvorteilhaft. Die schwarze Badekappe mit den seitlich vom Kopf abstehenden Bömmeln (sagen wir Fühler) machte den Anblick nicht besser. Das Gesicht hingegen war wohl auf „Sams“ geschminkt. Ich konnte nicht anders und prustete los:

»Na du fette Hummel. Gut drauf?«

Biene Maja schaute mich entgeistert an. Ihre Augen weiteten sich. Das Insekt stammelte irgendetwas in Richtung Lappenclown. Hörte sich an wie „nen Doppelten“! Dann griff er mit zittrigen Fingern nach seinen Zigaretten und fegte beim Versuch, die Kippe verkehrt herum anzuzünden seine Cola vom Tresen. Ich gab einen spitzen Schrei von mir und spürte, wie das Zuckergemisch vom Thekenbrett auf meine Piratenhose tropfte. Er starrte mich an und zog im Zeitlupentempo seine Badekappe ab. Und plötzlich bewegten sich seine Lippen, während er vom Barhocker zu kippen drohte:

»Oh mein Gott!!! Vici? Vici bist du das?!!!«

Kaum zu glauben! Doch so traf ich meine Jugendliebe Winni nach Jahrzehnten wieder. Wir waren gemeinsam vor den Killer des Matriarchats um die halbe Welt geflüchtet. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und Winni dreiundzwanzig. Was soll ich sagen? Winni war immer noch der Alte:

FC-Fan und Dachdecker, von Grund auf ehrlich und auf liebenswürdige Art unbeholfen und tollpatschig.

Wir entdeckten unsere Liebe aufs Neue. Und nun halte ich Fernanda im Arm. Zum Glück hat sie deine Gene, feixten unsere Freunde. Nur diese überdimensionalen Segelohren hat sie von Winni geerbt, hatte meine Tochter Sibel beim letzten Besuch gelacht. Macht nix, da lassen wir Haare drüber wachsen, hatte ich glücklich gelächelt.

2011 - 17.4., 14:00

Großbritannien

London, Brixton,

Sudbourne Road

Szene 32

Innenaufnahme: Die Küche von Steve und Mikel ist das reinste Chaos. Die zum großen Teil aus Sperrmüllmobiliar zusammengestellte Einrichtung macht einen erbarmungswürdigen Eindruck. Durch ein verschmutztes Fenster scheint trübes Zwielicht. Draußen regnet es in Strömen. Zwei gurrende Tauben tänzeln auf dem Fensterbrett. Der wacklige Campingtisch, der als Küchentisch dient, ist mit Gläsern übersät. In der Spüle türmt sich schmutziges Geschirr. Mikel betritt das Zimmer und legt eine CD der 'Strokes' ein.

Mikel goss Tee auf und versuchte seine Gedanken zu ordnen, als er aus Steves Zimmer Gelächter vernahm. Verwundert sah er zur Tür seines Freundes. Darauf konnte der sich keinen Reim machen. Steve war doch gestern Nacht vor ihm aufgebrochen, war ziemlich angeknockt und wollte nach Hause … (?)

Was immer das zu bedeuten hat, ich werde es bald erfahren. Mikel fühlte sich gerädert. Wilde Träume hatten ihn verfolgt – und immer wieder war Sibel darin aufgetaucht. Mit einem Seufzer ließ er sich auf der alten, durchgesessenen Couch aus braunem Cord nieder und streckte die Arme zur Seite, um sie auf der Rückenlehne abzulegen. Wenig später stutzte er, als seine Hände zuerst einen BH und wenig später einen weiblichen Schlüpfer ertasteten. Was ist das? fragte er halblaut, und betrachtete die Objekte wie Eindringlinge von einem anderen Stern.

Unglaublich! Er hat eine Braut abgeschleppt, das ist die einzige Erklärung.

Wie zur Bestätigung öffnete sich im gleichen Augenblick Steves Tür.

»Hi, ich bin Suzanne! Hast du vielleicht meine Unterwäsche irgendwo gesehen?«

Mikel blieb für einen Moment die Spucke weg. Da stand eine nackte Frau vor ihm. Nicht schwer zu erraten, dass sie Inderin war: dunkle Haut, tutti kompletti enthaart und mit verwischtem Make-up.

Mikel reichte ihr den BH und hob den Slip mit spitzen Fingern an.

»Willst du duschen?« fragte er mechanisch.

»Nein, lass gut sein, ich muss zur Spätschicht«, säuselte sie. »Tu deinem Freund einen Gefallen und bring ihm ein Aspirin – nein zwei. Am besten drei« grinste sie.

Mikel gönnte sich einen ausgiebigen Blick auf ihren nackten Schoß und prostete ihr mit der Teetasse zu:

»Na dann, guten Morgen!«

Fünf Minuten später fiel die Wohnungstür ins Schloss.

»Alter, brauchst du Aspirin?«

»Eine ganze Schachtel«, stöhnte Steve und baute sich im Türrahmen auf.

»Zieh dir was an, ich frühstücke«, stöhnte Mikel, ging zum Küchenschrank und fischte eine Packung Schmerztabletten aus einer zerbeulten Blechdose.

»Ich war noch im Fridge, als ich bei Sibel weg bin. War zu aufgedreht. Und geil! Und konnte nicht schlafen«, stammelte Steve. »Suzanne lief mir über den Weg. Hast du nichts gehört?«

»Nichts!«

»Erstaunlich! Sie hat geschrien wie am Spieß«, grinste Steve.

»Na dann hast du ja `ne nette Nacht verbracht«, feixte Mikel. »Und was ist mit deiner großen Liebe zu Sibel? Oder hast du dich gerade frisch verknallt?«

»Gestern Abend ist mir klar geworden, dass Sibel zu kompliziert ist«. Steve massierte seine Schläfen mit einem vor Schmerz verzerrten Gesicht. »Mit Suzanne das war ein One-Night-Stand, schätze ich. Und in Sachen Sibel ist die Bahn für dich frei«, grinste er gequält.

»Was meinst du denn damit schon wieder?«

»Ach Alter, glaubst du im Ernst, ich bemerke nicht, was ab geht? Aber Vorsicht, verrenn dich nicht. Das wird nicht einfach. Irgendwie tickt die nicht ganz sauber. Lass dich in nichts reinziehen.«

»Du machst mich fertig«, stöhnte Mikel und schaufelte drei Löffel Zucker in seinen Tee.

2011 - 17.4., 14:45

Großbritannien

London, Kensington,

Stratford Road

Szene 33

Innenaufnahme: Die Fenster des Apartments sind geöffnet. Draußen regnet es ohne Unterlass. Sibel mit Schlüpfer und T-Shirt bekleidet versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen. Im Hintergrund läuft Neil Young. Auf dem Herd pfeift ein altmodischer Wasserkessel.

Sibel war in Gedanken beim gestrigen Abend, beim Abschied von Mikel. Doch das plötzlich einsetzende Läuten des Telefons ließ sie aus ihrem Tagtraum schlagartig aufschrecken.

»Hi, hier ist Bob!«

Seine Stimme klingt gehetzt. Innerhalb von Sekunden übertrug sich seine Anspannung auf Sibel.

»Sie haben Löwenherz verlegt!«

»Was ist passiert?«

»Keine Ahnung! Ich fürchte, die machen Ernst! Ich konnte noch kurz mit ihm reden.«

»Was hat er gesagt?« Sibel hielt den Atem an.

»Er erzählte, dass sich das Böse irgendwo in Südamerika zusammenbraue. Dass das jetzt aber sowieso keine Rolle mehr spiele. Das Spiel ist aus, sagte er. Er bat mich, Gnade wallten zu lassen und ihm die Todesspritze zu setzen, wenn er nicht mehr klar denken könne.«

»NEIN!« schrie Sibel in den Hörer hinein. Hat er sonst noch irgendetwas gesagt?«

»Er sprach vom ewigen Leben. Immer wieder stammelte er D.H.!D.H.! Dann erschien Paul. Löwenherz verstummte wie am Tag zuvor und dieser Fascho warf mir düstere Blicke zu. Zehn Minuten später rollten sie 251011M9 Richtung OP-Trakt.«

»Hast du seine Klamotten durchsucht? Irgendwelche Anhaltspunkte gefunden?«

»Ja, da war ...« Bob unterbrach abrupt seinen Satz. »Sibel ich muss auflegen, Paul beobachtet mich. Er hat einen merkwürdigen Blick drauf! Mein Gott, sie sind dabei Löwenherz einer Lobotomie zu unterziehen!«

Sibel starrte den Hörer entgeistert an. Das kann nicht sein, flüsterte sie. Mit fliegenden Fingern wählte sie Mikels Nummer.

»Was soll ich nur tun, Mikel?«, stöhnte Sibel, nachdem sie ihn auf den neuesten Stand der Dinge gebracht hatte.

»Du solltest dich krankmelden, Sibel. Das Ganze fühlt sich nicht gut an. Okay? Ich muss jetzt zur Probe und anschließend zum Soundcheck. Sehen wir uns morgen?«

»Ja«, flüstere sie. »Ich komme vorbei.«

2011 - 19.4., 19:00

Großbritannien

London,

Royal Nurse Hospital

Zwei Tage später

Szene 34

Innenaufnahme: Pflegezimmer im Halbdunkel. Paul steht inmitten des Zimmers mit dem Telefonhörer am Ohr und gießt sich mit der freien Hand einen Kaffee ein. Im überquellenden Aschenbecher liegt eine brennende Zigarette.

»Alles planmäßig verlaufen?«

»Alles okay«, antworte Paul. »Habe allerdings keine Ahnung, was diesen Bob umtreibt. Ich glaube, der hat Lunte gerochen.«

»Ist er wichtig? Kann man ihn drehen?«

»Zwei Mal nein!«

»Okay, wir kümmern uns.«

2011 - 19.4., 23:00

Großbritannien

London,

Farringdon Road

Szene 35

Innenaufnahme: Ein in Plüsch gehaltenes Varieté. Caféhaustische eingedeckt mit bordeauxroten Tischdecken und kleinen Gaslampen. Seitlich der kleinen Bühne hängen schwere, rote Samtvorhänge. An der Decke rotiert eine silberne Diskokugel. Die Bar, ebenfalls mit rotem Leder ausgepolstert, ist spärlich beleuchtet.

Nach einer Stunde war der Gig beendet. Es hatten sich ungefähr achtzig Leute an diesem Abend eingefunden. Bedauerlicherweise hatte kein Blatt auf die Veranstaltung 'Lost Children' hingewiesen. Kein Wunder, dass kaum Leute erschienen sind, raunte Steve. Das schummrige Licht wurde nun hoch gedimmt, ein tagheller Spot erleuchtete die Bühne. Die Band räumte ihr Equipment zur Seite, um der folgenden Rednerin Platz zu machen.

Steve:

Als ich sie sah, traf mich der Schlag! Vor mir auf der Bühne, zum Greifen nah, stand eine blondierte Griechin. Als Erstes fielen mir ihre Lippen ins Auge. Wie Julia Roberts, schoss es mir durch den Kopf. Sie lächelte ein wenig unsicher. Ein Lächeln, das von einem zum anderen Ohr reichte. Sie trug einen hellroten Lippenstift. Ihre hellblau-grauen Augen, denen eines Huskys in ihrer Intensität um nichts nachstehend, funkelten in einer Tiefe, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ein Perlmutt schimmernder Lidschatten unterstrich die Intensität ihres Blickes. Die Augenbrauen waren sichelartig gezupft. Sie war nicht groß, vielleicht 1,70. Ihr mediterraner Teint war mit einigen Sommersprossen durchsetzt, die ihr etwas sehr Frisches und Jugendliches verliehen. Doch so ganz taufrisch war sie augenscheinlich nicht mehr. Ich entdeckte die ersten Krähenfüße in ihren Augenwinkeln. Das halblange, blondierte Haar, hatte sie hinter die Ohren gesteckt. Sie trug goldene Blattohrringe. Ich war wie gebannt. Selbst ihr teurer Businessfummel konnte mich nicht abschrecken. Sie trug ein blaues Kostüm, eine weiße Bluse und hautfarbene Nylonstrümpfe. Darunter zeichnete sich eine sehr weibliche Figur ab.

Sie brauchte eine Minute um sich zu sammeln. Dann räusperte sie sich. Sie stellte sich als Adriana vor und nach den üblichen Begrüßungsfloskeln, folgte Klartext:

»Weltweit verschwinden jeden Tag Hunderte von Kindern und tauchen nie wieder auf. Und das ist nicht nur ein Phänomen, das sich auf Kontinente wie Afrika, Asien oder Südamerika beschränkt. Nein, auch bei uns, in der westlichen Welt, verschwinden täglich Kinder. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie das ist.« Ihre Stimme stockte, sie räusperte sich und fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar. »Meine beiden Kinder Damian und Penelope wurden zusammen mit fünfzehn weiteren Kindern vor etwas mehr als drei Monaten aus einem Kindergarten in der Nähe von Thessaloniki entführt. Ich weiß, dass es einigen hier im Saal genauso ergangen ist. Dass sie auf der Suche nach ihren Kindern sind. Zehn Nationalitäten sind heute vertreten – und damit die Sprache kein Verständigungsproblem wird, habe ich Dolmetscher engagiert. Ich möchte ein umfassendes Netzwerk und eine Datenbank aufbauen, damit wir uns organisieren können. Jeder von uns ist verzweifelt, und wenn die Behörden das Problem ignorieren, so müssen wir zur Selbsthilfe übergehen. Dazu ist der Abend gedacht. Abschließend möchte ich mich noch bei der Band bedanken, die auf Bitte unserer Leidensgenossin Barbara, heute Abend ohne Gage aufgetreten ist.«

Im Anschluss fanden sich die Betroffenen zu kleinen Gruppen zusammen und diskutierten engagiert.

Adriana gesellte sich zur Band.

»Noch einmal persönlich, herzlichen Dank!« Ihr Englisch klang gebrochen.

Sie ist voller Tatendrang und voller Stolz, eine Powerfrau, dachte Sibel. Sie beobachtet, wie Steve und Adriana sich die Hände reichten. Hoppla, da funkt‘s aber gewaltig, war ihr erster Gedanke. So hatte sie Steve noch nie erlebt. Er hatte mit einmal diesen unbeholfenen Ausdruck, den sie von Mikel kannte. Doch auch Adriana schien beeindruckt. Sie lächelte von einem Ohr zum anderen und zeigte dabei ihre strahlend weißen Zähne.

Mit steigendem Interesse, beobachtete Sibel den Funkenflug zwischen Adriana und Steve. Der coole Typ lässt tatsächlich die Maske fallen, grinste sie still in sich hinein.

»Ich bin ihnen auf der Spur!« In Adrianas Augen stieg ein bedrohliches Funkeln. »Und ich werde nicht eher Ruhe geben, bis ich Gewissheit habe, was mit meinen Kindern geschehen ist. Sie sind diesem Ring zum Opfer gefallen, da bin ich sicher. Genauso wie ich mir sicher bin, dass Damian und Penelope noch leben!«

Sibel hielt den Atem an.

»Von welchem Ring sprichst du?«

»Sie sind organisiert. Ich denke, dieser Kinderhändlerring verkauft die entführten Kinder weltweit an elternlose Supereiche.«

»Oder missbraucht sie für eigene Interessen«, warf Sibel ein. »Doch wie und wem willst du auf der Spur sein?«

»Mein Onkel Sirius ist Chef bei der E.Y.P.«

»E.Y.P., was ist das?«, mischte sich nun Steve in das Gespräch ein. Es fiel ihm sichtlich schwer, seine Augen von Adriana zu lassen. »Das ist die Bezeichnung für den griechischen Geheimdienst, besser bekannt unter der englischsprachigen Bezeichnung N.I.S. Das steht für National Intelligence Service. Mein Onkel Sirius hat mich einen Blick auf seinen Schreibtisch werfen lassen. Ich habe mir Zugang zu geheimen Dossiers verschafft. In Europa soll es eine zentrale Sammelstelle geben. Alle Spuren führen nach Italien, nach Ponte di Legno. Dort, in der Lombardei, an der Grenze zu den Provinzen Sondrio und Trentino soll es ein Lager geben – gut versteckt in den Alpen, Richtung Bozen. Es gibt allerdings untrügliche Anzeichen, dass auch ein Lager in der Nähe Londons existiert.« Adriana strich die Haare hinter die Ohren und schaute nachdenklich.

»Was hast du vor?«

»Sibel, was wir brauchen, ist Öffentlichkeit. Ich werde denen auf die Pelle rücken. Ich (sie stockte) will (erneutes Stocken) meine Kinder zurück!«

Zum ersten Mal an diesem Abend zeigte Adriana so etwas wie Schwäche. Sie biss sich auf die Lippen, um einen Schluchzer zu unterdrücken.

»Wie können wir dir helfen?« Sibel legte eine Hand auf ihre Schulter.

»Helft mir dabei, Augen und Ohren offen zu halten. Ich brauche Leute, die mir dabei helfen die Großräume der Flughäfen unter die Lupe zu nehmen. Kommt es dort zum Beispiel irgendwo zu regelmäßigen Großeinkäufen, abweichend von den bekannten Abnehmern. Einkäufe, die darauf schließen lassen, dass eine größere Gruppe außerplanmäßig versorgt wird. Der kleinste Hinweis könnte wichtig sein. Und wie sieht die Situation in den Heimen, Krankenhäusern und Kliniken aus. Gibt es verschlossenen Stationen, hinter deren Türen unbekannte Gruppen untergebracht sind?«

»Heime, Krankenhäuser«, murmelte Sibel.

»Ich möchte hier ein Netzwerk aufbauen!«

»Du kannst auf mich zählen«, murmelte Sibel und wandte sich dann zur Überraschung aller schnell ab. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte mit verbissener Miene eine Nummer.

»Was ist los? Wo willst du hin? Wen rufst du an?« Mikel war ihr nachgeeilt.

»Ich versuche, Bob zu erreichen. Nach dem Anruf aus der Klinik habe ich nichts mehr von ihm gehört.« Sibel hob beunruhigt eine Augenbraue und fixierte Mikel. »Was soll ich tun, wenn er sich nicht meldet? Er geht schon wieder nicht ran!« Mit verstörter Miene ließ Sibel das Handy in die Seitentasche des offenstehenden Kapuzenpullovers gleiten.

»Hey ihr beiden Turteltäubchen!« Steve grinste und rieb sich die Hände.

»Was haltet ihr davon, wenn wir noch zu uns fahren? Adriana würde sich gerne anschließen.«

Gute Idee, hatte Mikel geantwortet. Sibel nickte zustimmend. Zehn Minuten später verließen sie den Klub. Es nieselte. Sibel schlotterte. Sie schlugen die Kragen ihrer Mäntel und Jacken gegen die Kälte hoch und zogen die Schultern ein, unschlüssig, ob sie nach einem Taxi Ausschau halten sollten.

»Lasst uns bis zur nächsten Station laufen«, hatte Steve schließlich vorgeschlagen und war dabei Adriana nicht von der Seite gewichen. Die beiden hätten gegensätzlicher nicht sein können. Doch augenscheinlich zogen sie sich wie gegenpolige Magnete an.

Sie gingen nebeneinander her und schwiegen. Das Quietschen und Klackern der Sohlen und Absätze auf den verwitterten Gehwegplatten waren die einzigen Geräusche, die an ihre Ohren drangen. Die Stadt schien wie ausgestorben. Bei diesem Scheißwetter, kein Wunder, dachte Sibel. Schließlich durchbrach Mikel das Schweigen, als er einem einsamen Straßenverkäufer, der vor dem stärker werdenden Regen Schutz in einem Hauseingang gesucht hatte, die aktuellste Ausgabe des Mirror aus der Hand pflückte.

»Mal schauen, was es Neues bei den Gunners gibt«, feixte Mikel um die Stimmung ein wenig aufzulockern und wischte dabei mit der Linken durch sein regennasses Gesicht.

Der Himmel hatte sich pechschwarz verfärbt. Die ehrwürdigen Straßenlaternen suggerierten ein Licht, das dem von trüb ausgeleuchteten Aquarien ähnelte. Im Eilschritt legten sie nun die letzten Meter bis zur U-Bahnstation zurück und umkurvten dabei die immer tiefer werdenden Pfützen. Als sie schließlich die Rolltreppen erreichten, atmeten sie erleichtert durch. Mikel drehte sich über die Schulter und reichte nach einem flüchtigen Durchblättern die Gazette an Sibel weiter.

»Hier hast du was zu studieren, auf der Suche nach Auffälligkeiten«, zwinkerte Mikel.

Sibel schüttelte unmerklich den Kopf und hing ihren Gedanken nach: Weshalb macht er jetzt auf locker und oberflächlich? Es scheint, als habe er mit Steve die Rollen getauscht. Dann fiel ihr Blick auf den Mirror und im nächsten Moment gefror ihr das Blut in den Adern.

Mord in Kensington: Gestern gegen 0:30 wurde ein junger Mann an der Haltestelle High Street Kensington von einer herannahenden Bahn aus Hammersmith erfasst. Er war auf der Stelle tot. Es scheint sich dabei jedoch offensichtlich nicht, um einen Unfall gehandelt zu haben. Augenzeugen wollen gesehen haben, wie der Mann von zwei schwarz gekleideten Personen vor die herannahende Bahn gestoßen wurde. Bei dem Getöteten handelt es sich um den 25-Jährigen Pfleger Bob Salt.

Sibel drückte Mikel die Zeitung in die Hand und ließ sich auf die nächststehende Holzbank niedersinken. Sie wurde kreidebleich. Sie zitterte. Mikel legte den Arm um Sibel und sie bettete schluchzend ihren Kopf an seine Schulter. Geschlagene zehn Minuten saßen sie schweigend, während die U-Bahnen ein und ausfuhren und ständig neue Passagiere auf den schmutzigen Bahnsteig ausspuckten.

Später hatten bis in die frühen Morgenstunden in der Sudbourne Road zusammengesessen. Es gibt keine Zusammenhänge, es kann keine Zusammenhänge geben, hatten Mikel und Steve am Ende jeder Diskussion resümiert. Doch Sibel wusste, dass Adriana das gleiche, seltsame Gefühl wie sie beschlich. Konnte man vor diesen Fakten die Augen verschließen:

o Entführungen

o ein Arzt, der sich weigert, Testreihen mit verbotenen Psychopharmaka an Kindern durchzuführen und dafür lobotomiert wird

o ein Zeuge, der dem Verbrechen zu Nahe kommt, wird vor den Zug gestoßen

Wie sicher kann ich mich überhaupt noch fühlen? fragte sich Sibel.

Am frühen Morgen, als die anderen schliefen (Steve einen Arm um Adriana geschlungen), rief Sibel ihre Mutter an und bat um Rat. Nachdem sie Vici die Geschehnisse der letzten Tage geschildert hatte, war die sonst so starke Stimme ihrer Mutter in ein Flehen gewechselt:

Sibel! Bitte! Du meldest dich weiterhin krank! Sibel! Ist das klar? Treffe dich mit niemandem mehr aus der Klinik. Schau, dass du da rauskommst. Ich weiß, du denkst, dass ich überreagiere, doch es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die können wir nicht verstehen, erklären oder beeinflussen. Es gibt Dinge, die entziehen sich unserer Vorstellungskraft! Du solltest für eine Zeitlang das Land verlassen. Flieg zu Jefferey, deinem Vater. Du weißt, wo du ihn findest. Dort unten in Kanada, am Winnipeg Lake, bist du sicher.

Sibel fühlte sich zwar unwohl in ihrer Haut, doch ihre Mutter hatte für ihren Geschmack mal wieder überzogen hysterisch reagiert. Im Grunde genommen wollte sie sich Mikels und Steves Meinung anschließen: Dieser ganze Verschwörungsscheiß soll mir gestohlen bleiben, murmelte sie still in sich hinein. Sie beobachtete Mikel, der im Schlaf lächelte, und strich ihm eine Locke aus der Stirn.

2011 - 15.4., 15.00

Ecuador/Osomo,

Pazifischer Ozean,

auf halbem Weg zum

Galápagosarchipel

Szene 36

Außenaufnahme: Die Plattform auf der Klippe bietet einen imposanten Blick auf den tosenden Pazifik und auf eine Reihe von bereits neu entstandenen Gebäuden, die sich im Hinterland der hügeligen Dschungellandschaft nahezu perfekt einschmiegen. Am Fuß der Klippe, im neu errichteten Hafen, werden Öltanker und Frachtkähne gelöscht. Im nahe liegenden Yachthafen dümpeln eine Handvoll Luxusschiffe und drei von insgesamt sieben U-Booten der Klasse ‚Seawolf‘ vor sich hin. Vom nahe gelegenen Hubschrauberlandeplatz steigt ein voll bewaffneter Apache AH-64 E auf.Nordwestlich erheben sich aus einer gerodeten Fläche von insgesamt 25 Quadratkilometern unzählige Baukräne. Hier wird die neue Stadt Ramin in Höchstgeschwindigkeit hochgezogen. Geografisch gegenüberliegend, im Südosten der Insel, planieren Raupen auf einer Länge von 2,5 Kilometern eine Flugzeugpiste in den Dschungel.

»Geht das nicht schneller?« Aira schrie mit hochrotem Kopf in ihr Mobiltelefon. »Nächste Woche ist die Landebahn fertig! Ist das klar? Ansonsten rollen Köpfe! Und du weißt, das sind nicht nur Worte!«

Mit einem spöttischen Grinsen beendete Aira das Gespräch und ließ ihren Blick von der Plattform aus in die Ferne schweifen.

»Wir werden die Welt beherrschen. Was meinst du Kati?« Aira trat von der Brüstung der Plattform in den Schatten der riesigen Kokospalme und bediente sich an der aus edlem Teakholz gezimmerten Bar. Während die Eiswürfel im Martini klirrten, schaute Katla von ihrem Macbook auf und nickte. Die 1,95 Meter große Lesbe mit Nazischeitel hatte sich an die Verniedlichung ihres Namens noch nicht gewöhnt.

»Die Zahlen sehen gut aus, die Nachrichten, die uns erreichen, sind durch die Bank weg positiv.«

»Sehr gut! Lass uns nach unten gehen und einige Dinge besprechen. Ich möchte mir gemeinsam mit dir die Analysen unserer DHs anschauen.« Aira bog ihren Körper durch und befeuchtete mit der Spitze der Zunge ihre vollen Lippen

»Danach werden wir mit dem Jeep zum Strand runterfahren und uns noch ein wenig amüsieren, Kati.«

Katla zog unmerklich eine Augenbraue hoch und nickte. Beide verließen die Plattform über eine Wendeltreppe zur nächsten Ebene. Von dort nahmen sie einen chromblinkenden Aufzug in das Innere des Felsmassivs.

Szene 37

Innenaufnahme: Der Raum, der sich vor ihnen ausbreitet, als sich die Türen des Lifts mit einem leisen Stöhnen öffnen, misst an die 300 Quadratmeter. Seeseitig ist er durch riesige Boden-Deckenfenster begrenzt. Der Blick über das Meer bis hin zum flirrenden Horizont ist atemberaubend.

»Setz dich Katla und lies mir vor, was die Schwestern im Detail berichten.«

Beide ließen sich, auf indisch anmutenden Sitzkissen, nieder. Und während K-DH, das Laptop auf den Knien, die notwendigen Files öffnete, goss Aira Tee aus einem vergoldeten Samowar in schwarze Teeschalen.

»Unsere Marilyn – sorry, P-DH, berichtet, dass die politischen Flächenbrände, die wir im Nahen Osten und den Vereinigten Staaten gelegt haben, zu den avisierten Anschlägen und Blutbädern geführt haben. In einigen Regionen rechnen wir in Kürze mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Von den 193 Staaten, die Mitglied der UNO sind, tanzen mittlerweile zwanzig nach unserer Pfeife und fünfzig kooperieren. Weiteren fünfundzwanzig werden gerade die Daumenschrauben angelegt. Dazu passt der Bericht von Schwester F-DH über kollabierende Finanzmärkte. Die internationale Großindustrie beschränkt sich mittlerweile auf ungefähr 100 Unternehmen von veritabler Größenordnung. Auf knapp ein Drittel haben wir laut I-DH 'starken Einfluss'. Die Verunsicherung ist immens und wird tagtäglich und weltweit über unsere kleine, dicke Engländerin angeheizt. PR-DH propagiert den Untergang und die Medien steigen darauf ein. Denn wir beeinflussen mittlerweile zweiundvierzig Prozent der weltweiten Medienunternehmen. Die Bevölkerung wird mit Belanglosigkeiten, entertaint und schluckt parallel manipulierte News. Auch in diesem Sinne leistet unser Dickerchen ganze Arbeit. Die enge Vernetzung der Kommunikation mit den S-DH-Bereichen Satellitenüberwachung und Spionage führt zu nie gekannten Möglichkeiten der Infiltration, schreibt unsere rassige Spanierin. Und dann, jetzt kommt das Größte«, Katla schlug sich vor Lachen auf die Schenkel:

»Das Konzept des sozialen Netzwerks geht voll und ganz auf. 1,5 Milliarden Mitglieder! Unglaublich, oder? Wir sind fähig, auf einen Schlag riesige Massen zu mobilisieren. Unser bleichgesichtiger Student hingegen wird als Held gefeiert. Als Erfinder einer neuen Welt. Kannst du dir das vorstellen?«

Katla lachte und klatschte vor Begeisterung in die Hände.

»1,5 Milliarden geben ihre intimsten Daten freiwillig preis. Fantastisch oder?«

Aira fiel in das ausgelassene Gekicher mit ein:

»Ein netter Nebeneffekt. Doch unser wahres Wissen und die damit verbundene Weltherrschaft beziehen wir aus den transatlantischen- und pazifischen Glasfaserkabeln. Wir werden denen immer einen Schritt voraus sein, Schätzchen!« Aira bettete ihren Kopf auf Katlas Oberschenkel.

»Weiter«, befahl sie.

»W-DH gibt sich optimistisch, dass es ihr in den kommenden drei Monaten gelingen wird, fünfzig Prozent der Bildungs- und Wissenschaftsebenen zu infiltrieren. ‚Die Bildungsinhalte der kommenden Generationen legen wir fest ‘, schreibt sie.«

Aira nickte.

»Genau so, wie du es vorausgesagt hast«, flüsterte Katla.

»Weiter meine Liebe.«

Katla legte die Hand auf Airas Schulter und fuhr fort:

»Unsere Army-DH zettelt täglich Unruhen und Massaker in Afrika an. Der Nahe Osten und damit angrenzende Länder wie die Türkei werden in anstehende Auseinandersetzungen hineingezogen. Darüber hinaus berichtet sie von ca. 570 Hinrichtungen, die in der letzten Woche vollzogen wurden. Möchtest du Einzelheiten hören?«

»Nein, das langweilt mich«, grinste Aira. »Was berichtet unsere Pharma- und Medizin-DH. Gibt es Neuigkeiten?«

»Die weltweite Manipulation mithilfe von Psychopharmaka hat ungeahnte Dimensionen angenommen. Psychische Gehirnwäschen und manuelle Gehirnmanipulation wurden um siebzig Prozent gesteigert.«

»Die Götter in Weiß und deren industrielle Helfershelfer lassen sich am einfachsten manipulieren und schmieren.«

Aira klatschte vor Vergnügen in die Hände, eine Gefühlswandlung, die man äußert, selten bei ihr sah.

»Warte ab«, lachte sie. »Das ewige Leben lockt. Das ist unsere Trumpfkarte. Wir werden zu diesem Thema kommende Woche eine Sondersitzung mit allen DH‘s abhalten. Wir müssen Lösungen finden! Bedarf und Nachfrage sind kaum zu decken. Wenn uns auf dieser Ebene der Durchbruch gelingt, liegt uns die gesamte Welt zu Füßen! Schreibe eine Mitteilung an alle DH’s und richte ihnen meinen Dank aus. Und erinnere sie daran, dass Sex der Machtfaktor No. 1 ist!« Noch während des letzten Satzes, schob Aira ohne Umschweife eine Hand zwischen Katlas Beine und grinste sie herausfordernd an.

2011 - 20.4., 23:50

Großbritannien

London, Kensington

Stratford Road

Szene 38

Innenaufnahme: Sibel hat sich auf der weißen Schlafcouch ihres Apartments ausgestreckt. Der Deckenfluter ist gedimmt und wirft ein gedämpftes Licht in den Raum. Sibel trägt ein schwarzes Schlaf-Shirt mit dem Aufdruck „Psychodelic Furs“. Sie hat ihr Tagebuch aufgeschlagen und schreibt:

Das war ein sehr schöner Tag! Wir haben zusammen gefrühstückt. Und nachdem Steve angeboten hatte Adriana zum Hotel zu begleiten, bin ich mit Mikel zum Caton Ridge gelaufen, um über den Brixton Markt zu schlendern. Ich liebe dieses bunte Treiben. Die Reggae-Farben, die Gerüche fremdländischer Küchen. Das Multikulti der Sprachen. Die fliegenden Händler. Die stolzen Turbane. Das duftende exotische Obst. Die bunten, wehenden Kleider und Gewänder. Den verspielten Schmuck, der Duft nach Räucherkerzen und den Gute-Laune-Karibiksound.

Für Momente hatte ich das Gefühl, die einzige Weiße auf diesem Planeten zu sein. Doch ganz blütenweiß bist du ja selbst nicht, du alte Zigeunerin, hatte Mikel geneckt. Ich fühle mich wohl an seiner Seite. (Sibel seufzt wohlig und zieht die karamellfarbene Wolldecke bis unters Kinn). Mikel hat sämtliche Stände nach alten Platten durchstöbert und irgendwann stolz mit einer Scheibe von Third World gewunken. Das Cover war abgegriffen.

Er schien wieder der Alte zu sein. Gefühlvoll, schüchtern, tollpatschig. Er hat drei Mal nach meiner Hand gegriffen und dabei zwei Mal ein Bier verschüttet (Sibel seufzt glücklich und wirft einen Blick auf die Uhr, fast Mitternacht). Und dann habe ich mich tatsächlich getraut (sie schlingt den Gunners-Schal, der nach Mikel riecht um ihren Hals und träumt mit offenen Augen, als sie sich an die Szene vom Morgen erinnert): Darf ich dich umarmen, habe ich gefragt. Mikel lächelte unbeholfen und seine blonden Locken fielen ihm dabei in die Stirn. Du bist das Schönste, was mir je begegnet ist, flüsterte er.

Er zieht mich an seinem Geschenk, dem Gunners-Schal, zu sich heran. Er ist ganz nahe. Ich werfe einen Blick auf sein Grübchen, auf sein Muttermal – und dann in seine Augen. Er lächelt. Darf ich dich küssen, fragte er? Dann berühren sich unsere Lippen. Seine Hände auf meiner Schulter, an meiner Taille, an meiner Wange, in meinen Haaren, an meinem Rücken, auf meinem Hintern. Ich spüre ihn, wie er sich an mich drängt. Mein Herz! Schlägt. Pocht! Heftig! Wir liegen uns in den Armen und strahlen uns an. Es ist der 20. April, die Sonne strahlt wie ein Vorbote des Frühlings: Vögel trillern kraftvoll, Autos hupen fröhlich und Bobbys sehen freundlich nickend weg, während Rastas Joints in die Runde reichen. Ich halte dich fest, hatte Mikel geflüstert. Alles andere ist egal!

Diez Hermanas

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