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2005 - 10.2., 13:30

Neuseeland,

Coromandel/Peninsula,

Mercuray Bay

Szene 2 - Rückblende

Außenaufnahme: Supermarktparkplatz. Spärlich besucht. Flirrende Mittagshitze. Gleißendes Licht. Weder Bäume, noch Schatten. Dosenmüll und die Scherben zerborstener Glasflaschen reflektieren eine nervös zuckende Sonne. Drei verwilderte Hunde streunen um einen Abfallcontainer. Eine junge Frau in Shorts und T-Shirt bekleidet (langes, schwarzes Haar) schleppt schwere Plastiktüten. Ein etwa 40-Jähriger Mann, in Latzhosen (ungepflegtes Äußeres) mustert sie und grinst verschlagen, während er umständlich die Fahrertür seines Dodge Dakota Pickups öffnet. Eine Kassiererin mit ungesunder Hautfarbe tritt durch die Tür des Supermarktes auf den Hof und zündet sich eine Zigarette an. Sie winkt dem Mann zu und schüttelt verächtlich den Kopf, als die junge Frau unweit des Pickups den Kofferraum ihres roten Toyota Corolla öffnet.

Die Explosion war ohrenbetäubend. Sibel schaute sich Hilfe suchend um. Ihr Herz schlug schnell. Irgendwo hinter den Dünen, dort wo sich ihre Forschungsstation befand, musste sich die Detonation ereignet haben.

Sibel hetzte um den Wagen und verließ wenige Augenblicke später mit quietschenden Reifen den Parkplatz des Supermarktes.

Was verdammt noch mal ist passiert?, fragte sie sich besorgt. Hoffentlich hat diese Explosion nichts mit der Klinik zu tun, murmelte sie. Sibel strich die verschwitzten Strähnen ihres langen, schwarzen Haares hinter die Ohren. Hoffentlich ist mit Jan alles okay!

Sibel biss nervös auf ihre Unterlippe. Sie liebte ihn – noch immer und trotz allem! Doch dann fiel ihr ein, dass Jan bereits am frühen Morgen mit dem Rettungsboot aufs Meer hinaus gefahren war. Alles okay, lächelte sie und schaltete den jaulenden Toyota einen Gang höher.

2010 - 25.6., 21:00

Türkei

Istanbul, Beşiktaş

Yeniyol Straße

Szene 3 – fünf Jahre später

Die Zerschlagung der Macht!

Innenaufnahme: Neonlicht-Atmosphäre. Steriler Tagungsraum einer 5-Sterne plus Hotelkette. Blank geputzte Mahagonitischplatten. Technische Einrichtung: Beamer, Soundsystem, Klimaanlage. Drei Palmen, der geografischen Lage entsprechend drapiert, verlieren sich im 500 Quadratmeter großen Saal. Die boden- und deckenhohen Fenster sind durch blaue Rollos abgedunkelt. Deckenstrahler werfen ein diffuses Licht. Auf den Tischen sind Obst, Wasser und Kanapees eingedeckt.

Aira hatte es sich nicht leicht gemacht. Ihre eiskalten Gedankengänge hatten schlaflose Nächte zur Folge. Doch die Entscheidung, die es zu treffen galt, lag auf der Hand.

Heute hatte sie die Spitze, die Henker, Mörder und Helfershelfer ihrer Mutter zusammengetrommelt.

Es galt, sich neu zu positionieren und die Rollen zu festigen. Schließlich war das Matriarchat Yzuhawa unter ihrer Mutter Zustra zu einer wirtschaftlichen Macht herangewachsen, die es zu schützen galt – so dachten jedenfalls die meisten, der hier anwesenden Sektenmitglieder. Doch Aira hegte andere Pläne. Sie wollte mehr. Die Weltherrschaft ist das erklärte Ziel. Mit diesen Worten hatte sie sich in den letzten Wochen immer wieder gepusht. Aira wusste, dass sie nicht nur Befürworter in den eigenen Reihen hatte. Ja, nach dem Tod ihrer Mutter war es nicht auszuschließen, dass sich gefährliche Strömungen innerhalb des Matriarchats gegen sie formierten. Ihr war zu Ohren gekommen, dass so manche sie für ein verwöhntes, dummes Blondchen hielten, das bei nächstbester Gelegenheit abserviert werden solle. Doch all dem hatte Aira vorgebaut und mit der planerischen Sicherheit ihrer Mutter einen eigenen Stab zusammengestellt. Das weltweite Netzwerk steht, flüsterte sie leise. Hab keine Angst. Tu es!

Sie begrüßte die Teilnehmerinnen und erläuterte die wichtigsten Tagungspunkte.

Es war einfach gewesen, fast zu simpel: Airas rechte Hand Katla hatte den Saal betreten und unter dem Vorwand, ein wichtiges Telefonat gebiete keinen Aufschub, Aira für einen kurzen Moment entschuldigt.

Sekunden später wurden sämtliche Saaltüren verriegelt. Massive Rollläden senkten sich vor die Fensterfront.

Szene 4

Außenaufnahme: Schwarze Nacht. Vorder- und Hintergrund werden durch grelle Flutlichtmasten ausgeleuchtet. 21:35 Uhr: Aira bändigt ihr wehendes, blondes Haar und steckt es unter eine schwarze Wollmütze. Ihre Kleider flattern unter den Propellern des Hubschraubers. Sie spricht in ein Walkie-Talkie: „Jetzt!“

Szene 5

Innenaufnahme: 21:36 Uhr! Kellerraum des Hotels. Steril. Die Neonbeleuchtung wirft ein kaltes Licht auf die Szenerie. Katla (kurz geschorenes schwarzes Haar, Nazischeitel, 1,95 Meter groß, bleich, muskelbepackt und mit weit auseinanderstehenden, grauen Augen) betätigt mit einem Knopfdruck die Umleitung der Gasdruckbehälter in die Klimaanlage des Hotels. Sie grinst zufrieden, als sie wenige Augenblicke später die Tür hinter sich zuschmeißt. Schnellen Schrittes ergreift sie die Flucht.

Szene 6

Innenaufnahme: 21:40 Uhr! Tagungsraum. Verzweifelte Menschen versuchen dem Saal, der den sicheren Tod für sie bedeutet, zu entfliehen. Der Erstickungstod ist grausam. Blut und Schaum treten den Sterbenden aus Mund-, Nasen- und Augenhöhlen.

Mit dem Abheben des Hubschraubers bricht eine neue Zeitrechnung an. Aira betätigt den Fernzünder. Sekunden später explodiert der Hotelkomplex in einem infernalischen Feuerball.

2011 - 15. 3., 10:25

Neun Monate später

Großbritannien

London, Kensington

Stratford Road

Szene 7

Innenaufnahme: Spärlich eingerichtetes Wohnzimmer. Durch verstaubte Jalousien dringen kalte Sonnenstrahlen. Auf einem chinesisch anmutenden Sideboard thront ein großer Flachbildschirm. Auf dem Boden und an den Wänden stapeln sich Bücher, Landkarten und in willkürlichen Farben beschriftete Aktenordner. Mittendrin eine weiße Schlafcouch mit bunten Kissen drapiert. Ein schwarzer Haarschopf schaut unter einer karamellfarbenen Wolldecke hervor. Die zweiflügeligen Türen des alten Kleiderschrankes stehen offen. Davor befinden sich wahllos verstreut T-Shirts, Hosen und Röcke. Die winzige Küchenzeile hingegen wirkt aufgeräumt. Lediglich drei schmutzige Weingläser und eine zur Neige getrunkene Rotweinflasche stören das Bild der Ordnung. Die Appartementtür ist mit sieben Ketten verriegelt.

Schweißgebadet war Sibel auf ihrer Schlafcouch erwacht. Der Straßenlärm drang an ihre Ohren. Zum wiederholten Male war sie nun von diesem Albtraum aus dem Schlaf gerissen worden.

Sie schaute auf den Wecker: 10:25 Uhr. Sie schloss noch einmal für einen kurzen Moment die Lider. Doch Augenblicke später erschienen sie wieder, die Bilder der Explosion!

Als sie das Schildkrötenhospital erreichte, die damals größte Einrichtung Neuseelands zur Rettung verletzter Meeresschildkröten, brannten die Nebengebäude bereits lichterloh.

Etwa zweihundert Meter vom Strand entfernt kreuzte das Rettungsboot. Von weitem glaubte Sibel Jan, zu erkennen. Hatte er ihr zugewunken? Wollte er ihr etwas mitteilen?

Zu spät! Augenblicke später explodierte das Boot mit ohrenbetäubendem Getöse. Zerfetzte Bootsteile und menschliche Gliedmaßen flogen in hohem Bogen auf den heißen Sandstrand. Als Sibel über Jans Turnschuh stolperte, in dem dessen abgerissener Unterschenkel steckte, war sie ohnmächtig zusammengebrochen.

Die Tragödie hatte die Behörden in den kommenden Wochen und Monaten in Atem gehalten. Doch zu einer Aufklärung kam es nie. Nur eine Person schien davon überzeugt zu sein, die Hintermänner des feigen Anschlags zu kennen: Sibels Mutter Vici. Niemand schenkte ihr Gehör, als sie das Matriarchat Zustras für den feigen Anschlag verantwortlich machte. Doch Vici weihte ihre Tochter in die Machenschaften der Sekte Yzuhawa ein. Sie erzählte ihr von ihrer eigenen Jugend und ihrer Flucht vor dem Matriarchat im Alter von 15 Jahren*. „Vici – Auf der Flucht“, Roman Georg Vetten, epubli 2016

Dieser spezielle Geheimbund ist in Frauenhand. Ich war damals eine Schülerin Zustras und bin geflohen. Es ist nicht auszuschließen, dass sie nach wie vor auf der Suche nach mir sind, hatte sie geflüstert.

Sie sprach von Geheimbünden – die der Katholiken, der Moslems, der Mafia, IRA, RAF, Klu Klux Klan und Al-Quida. Ihre Worte klangen Sibel noch immer im Ohr: Es gibt Hunderte von Organisationen, die im Untergrund arbeiten, um die Macht für ihre Ziele zu missbrauchen. Doch das Matriarchat Zustras, Yzuhawa, ist das Schlimmste und Brutalste!!!

Was sind schon ein paar Umweltaktivisten, wenn es um die Ausbeutung von Ölvorkommen vor unseren Küsten geht, hatte ihre Mutter damals die Ermittler mit verächtlicher Miene provoziert. Sie hatte die Aufklärungsarbeit der Institutionen offen kritisiert und sich damit keine Freunde gemacht.

Eines Abends hatte sie schließlich beschlossen: Wir verschwinden! Die stecken hier alle unter einer Decke!

Sibel war dem Ratschlag ihrer Mutter gefolgt. Beide verließen Neuseeland mit Ziel Europa. Sibel, damals 18 Jahre alt, verlor von heute auf morgen ihre Heimat. Zunächst kamen sie bei Bekannten in London unter. Ein Jahr später zog es ihre rastlose Ma schließlich nach Deutschland. Du stehst schon lange auf dem Nestrand und flatterst mit den Flügeln, hatte sie gemurmelt. Du kommst alleine klar, Sibel!

Ab und an telefonierten sie, und wenn es die finanziellen Möglichkeiten erlaubten, besuchte Vici ihre Tochter zwei Mal pro Jahr. Vor vier Jahren dann die unglaubliche Nachricht: Ihre Mutter hatte sich noch einmal verliebt und brachte wenig später die kleine Fernanda zur Welt. Mit einmal hatte Sibel eine Schwester. Bei dem Gedanken an die Kleine, die ihrer Mutter und damit auch ihr so ähnelte, huschte ein Lächeln über ihre Lippen.

Sibel erhob sich. Sie fühlte sich gerädert, öffnete die schwere Tür des roten Kühlschranks und nahm einen ausgiebigen Schluck aus der Milchtüte, bevor sie sich mit schweren Schritten ins Bad des Einzimmer-Appartements schleppte. Ein Blick in den Spiegel genügte: Wer mit Jungs feiert, darf sich am nächsten Morgen nicht beschweren! Sie grinste ihrem Spiegelbild bemitleidend zu: Hmmm und was will dieser Steve von dir? Papperlapapp, ich finde nie mehr einen Mann, brummte sie halblaut. Doch ich kann auch nicht bis zu meinem Lebensende trauern, flüsterte sie, während sie die Wimpern tuschte. Mikel jedoch, der hat was. Sibels Laune hob sich beim bloßen Gedanken an den dunkelblond gelockten Sänger. Er hat ein nettes Lächeln, dachte sie.

Vor fünf Wochen war sie mit ihrer Freundin Liz durch die angesagtesten Live-Klubs in Londons East End gezogen. Schließlich waren sie im 'Drop Club' gelandet. Die Band auf der Bühne spielte eine Mischung aus Trash, Ska und Rock'n'Roll-Punk.

Sie haben ein Auge auf uns geworfen, hatte ihr Liz nach einer Weile ins Ohr geflüstert. Die Jungs hatten die Stimmung aufgeheizt und verließen erst nach einem zweistündigen Programm die Bühne.

Sibel und Liz hatten sich anschließend noch auf einen Drink an der Bar niedergelassen. Und siehe da, Liz hatte den richtigen Riecher. Denn keine fünf Minuten später ließ sich der Drummer mit einem vernehmlichen Grunzen auf dem freien Barhocker nieder. Was folgte, war die übliche Anmache:

Hi, ich bin Steve. Und ich wette, ihr vertragt noch einen Gin Tonic und seid ganz heiß darauf, uns kennenzulernen. Das da ist übrigens Mikel. Habt ihr schon mal solch einen verrückten Sänger und Gitarristen gesehen? Wir sind übrigens keine Brüder, auch wenn es den Anschein machen sollte.

Sibel lächelte unwillkürlich, als sie an die Situation zurückdachte: Brüder? Unmöglich! Beide wiesen mit ihren 1,85 Metern Größe zwar Gardemaß aus, doch optisch unterschieden sie sich wie Ying und Yang. Steve, der Drummer, trug sein pechschwarzes Haar im Johnny-Rotton-Stil. Seine Gesichtszüge waren scharf gezeichnet: kantiges Kinn, drei Tage Bart. Die Hakennase war ein wenig zu groß geraten, die Lippen schmal, die Augen braun und ausdrucksstark. Alles in allem wirkte er ein wenig abgerockt. Dass er jedoch durchaus eitel war, verrieten seine blank geputzten ´Sacho´-Stiefeletten ´Oregon´. Er trug eine abgewetzte, schwarze Röhre von `True Religion´ – und die dazu passende Motorradlederjacke, in Schwarz.

Mikel, der Sänger, wirkte hingegen wie ein großer Junge. Der Bartwuchs auf den Wangen erinnerte an feinen Flaum. Seine naturblonden Locken bändigte er mit einem kleinen Zopf. Unmittelbar ins Auge fiel sein Grübchen im Kinn und das Muttermal, das darüber zu wachen schien. Seine graublauen Augen strahlten ausdrucksstark. Und auch sein Schlabberlook verriet Geschmack, wenn auch einen ganz anderen, als der von Steve. Er trug ´Doc Martens´, Baggy Jeans von ´Cipo & Baxx´ und dazu ein einfaches, weißes T-Shirt – unbedruckt!

Was soll's, hatte Liz an besagtem Abend geflüstert. Sind doch ganz süß, diese kleinen Machos. Schätze sie auf Anfang zwanzig. Liz hatte atemberaubend ausgesehen. Hey du siehst aus wie Sharon Stone in 'Basic Instincts', hatte Steve gelacht und ihr dabei zugeprostet.

Ohne Scheiß, fast ne 1:1-Kopie! Merkwürdigerweise ließ er Liz dann recht bald, links liegen.

Der hat nur noch Augen für dich, hatte Liz geflüstert.

Sie waren zum Fridge weitergezogen. Die Stimmung war ausgelassen. Sie ließen sich anstecken und schmissen sich in die Arme der Nacht: Cooler Klub, heiße Klubsounds, cooles Publikum und coole Drinks – es schneite, mitten im April.

Steve:

Die beiden auf der Tanzfläche! Wow! Ich konnte meine Augen kaum von Sibel losreißen. Ich hatte schon immer eine Schwäche für braun gebrannte, mediterrane Schönheiten. Ihr bauchfreies Top enthüllte einen definierten flachen Bauch. Sie ließ die Hüften kreisen und warf ihre Arme in die Luft. Ihr Bautanz brachte mein Blut in Wallung. Auf ihrem rechten Oberarm trug sie ein Tribal. Ein auffallender Leberfleck zeichnete sich unter ihrem linken Auge ab. Ich ahnte damals schon, dass ihre Anmut nicht rein mediterranen Ursprungs sein konnte. Ihr Teint war einen Tick zu dunkel für eine Griechin, Türkin, Spanier- oder Italienerin. Später sollte ich erfahren, dass die Roma-Wurzeln tief saßen.

Ihre Brüste hüpften im Takt des Sounds und ich stellte mir vor, wie sie sich unter mir bewegen würde. Perfekt, dachte ich. Da muss doch was gehen! Die legt es doch drauf an. Ließen sich ihre Blicke anders deuten?

Mikel:

Wer hätte das für möglich gehalten? Da zogen wir mit den heißesten Mädels der Stadt los. Liz tanzte Sibel von hinten an, legte eine Hand auf ihre Hüften und presste ihre Brüste an Sibels Rücken. Sie tanzten wie Schlangen – synchron. Steve hatte Recht. Liz wirkte wie eine Sharon Stone Kopie und war damit exakt der Typ Frau, der mich noch nie geflasht hatte. Sibel hingegen nahm meine Aufmerksamkeit gefangen. Eine geheimnisvolle Aura umgab sie. In unbeobachtet geglaubten Augenblicken, sah ich hin und wieder den Blues in ihren Augen aufflackern.

Oberflächlich betrachtet gab sie die Partymaus.

Liz:

Ich sah, dass die Jungs Bauklötze staunten, als wir uns auf der Tanzfläche amüsierten. Keine Ahnung, aber wir führten uns auf wie Lesben. Wir hatten unseren Spaß. Mikel erweckte den Eindruck eines großen, unbeholfenen Teddybären. Die Sorte Typ, der ewig braucht, bevor er zur Sache kommt. Genau der Typ Mann, mit dem ich wenig anfangen kann. Dieser Steve hingegen weckte meine Neugier. Ja, er hatte das gewisse Etwas: verwegen, draufgängerisch! Scharfe Gesichtszüge. Endlich mal einer, der die richtige Größe hat, dachte ich. Endlich mal einer auf Augenhöhe. Als Frau mit 1,82 Metern Größe hat man es nämlich nicht leicht. Er rieb seine Hakennase, lachte anzüglich und fuhr mit seiner kräftigen Hand über die harten Stoppeln seines Dreitagebartes. Ich konnte meine Finger kaum bei mir halten. Doch all mein Gegrapsche (ich kniff ihm sogar in den Hintern) hinterließ keinerlei Wirkung. Irgendwann schien er nur noch Augen für Sibel zu haben.

Sibel:

Ich spürte ihre Blicke auf meinem Körper. Doch alles in allem schienen die Jungs harmlos zu sein. Zumindest Mikel hätte niemals ohne ein Okay, eine Hand um meine Hüfte gelegt. Doch seine schüchterne Art gefiel mir. Er drehte das Glas unbeholfen zwischen seinen Händen und warf mir verstohlene Blicke zu. Steve schien der offensivere Typ zu sein. Ein wenig Macho. Weshalb also nicht ein bisschen Spaß haben, dachte ich bei mir. Der Klub war gut gefüllt und der DJ übertraf sich selbst. Habe selten so viel Spaß auf der Tanzfläche gehabt. Erst im Morgengrauen verabschiedeten wir uns voneinander.

Es gibt solche Begegnungen, hatte Liz gelallt. Bei uns Vieren stimmt einfach die Chemie. Okay, die Jungs sind zwei, drei, vier Jährchen jünger als wir, doch was soll das schon heißen? Mit Männern von solch stattlicher Größe können wir uns sehen lassen. Liz hatte Sibel kumpelhaft in die Seite gepufft und dabei verschwörerisch gelächelt.

Als Sibel gegen Morgen die Augen schloss, breitete sich ein breites Grinsen über ihre Lippen. Dieser Mikel, so cool er auf der Bühne auch performen mochte, so tollpatschig schien er im wahren Leben zu sein. Sibel hatte mitgezählt: Insgesamt hatte er sich zwei Mal den Kopf gestoßen, drei Mal Getränke vom Tresen gefegt und zwei Mal die Kippe verkehrt herum angezündet. Irgendwie süß murmelte sie, bevor sie einschlief.

Nach dieser Nacht hatten sie sich mehrere Male zu viert getroffen, einfach so. Tatsächlich hatten es die Jungs sogar fertiggebracht sie zum FC Arsenal mitzuschleppen. Mit denen macht selbst Fußball Spaß, hatte Liz vielsagend gelächelt.

Sibel vermisste ihre Freundin. Seit zwei Wochen war sie nun schon in Ecuador. 18 Monate wollte sie dort in unmittelbarer Nähe von Guayaquil verbringen, um medizinisch-pflegerische Hilfe beim Aufbau einer Großklinik zu leisten.

Sibels Kontakt zu Steve und Mikel war dennoch nicht abgerissen. Nach wie vor trafen sie sich zwei bis drei Mal pro Woche. Irgendwie schon verrückt, murmelte Sibel und warf einen kritischen Blick in den Spiegel. Sie hatte sich zwei Proben der Band in Brixton reingezogen, obwohl sie alles andere als ein Groupie war. Doch die Jungs mit ihrer kindlich naiven Power taten ihr zunehmend gut. „Du musst unter Leute“, hatte Liz nicht lockergelassen. „Dieser Job in der Klapse und deine fast krankhaften Recherchen nach der großen Verschwörung, machen dich am Ende noch ganz kirre!“ Sibel wusste, dass Liz Recht hatte. Und so ließ sie sich auf diese, für sie komplett neue Welt, mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

2011 - 16.3., 19:00

Großbritannien

London, Brixton

Headlam Road

Szene 8

Innenaufnahme: Schwache Lichtverhältnisse. Proberaum. Dunkler Keller. Einzige Lichtquelle ist eine Ampel, die ein Schlagzeug der Marke Pearl anstrahlt. Boden, Decke und Wände sind zum Schallschutz mit alten Teppichen abgehangen. In einer Ecke türmen sich leere Bier- und Weinflaschen. Ein Bass und zwei Gitarren liegen in ihren Koffern. Zwei Mikrofonständer stehen inmitten des Raumes. Das seichte Summen von Gitarren-, Bass- und Gesangsverstärkern erfüllt die rauchgeschwängerte Luft. Der Boden ist bedeckt mit Kabeln und bunten Effektgeräten, Fußpedale für Gitarren und Bass.

Die Probe ist beendet. Ein Joint kreist von Hand zu Hand. Am Wochenende steht ein wichtiger Gig in der ‚Academy‘ an. Steve und Mikel verabschieden die anderen Bandmitglieder mit ‚give me five‘, um in Ruhe die nächsten Promotionmaßnahmen zu bereden.

»Treffen wir uns heute mit ihr?« fragte Mikel, während er mit einem Einwegfeuerzeug eine Bierflasche öffnete.

»Mit wem?« Steve schaute verdutzt und fuhr mit beiden Händen durch seine verschwitzte Johnny-Rotton-Frisur.

»Jetzt tu nicht so, als wüsstest du nicht, über wen ich rede!«

»Sibel?« fragte Steve mit einem Griemeln, das von einem Ohr zum anderen reichte. »Ich dachte, ich treffe mich nachher alleine mit ihr. Wolltest du nicht noch an deinen Texten arbeiten?«

»Alleine? Du und Sibel?« fragte Mikel, warf einen betroffenen Blick ins Nichts des Raumes und nestelte dabei an seinem Zopf.

»Ja, Mann! Fahr mal deine Antennen aus. Ich habe das Gefühl, da geht was, zwischen ihr und mir!«

»Hmm ist mir entgangen«, murmelte Mikel, setzte das Bier ab, und begann einen Joint zu drehen.

»Hey könnte ich da die Augen verschließen? Sie ist ein mediterranes Rasseweib. Dieser Augenaufschlag, dieser Hüftschwung, dieser Arsch. Doch ein bisschen irre ist sie schon, oder? Was denkst du? Ich brauche deinen Rat, mein Freund. Soll ich die Finger von ihr lassen oder soll ich mein Glück versuchen?«

»Im Ernst, was willst du mit einer Vegetarierin anfangen, die sich mit Feminismus beschäftigt? Wenn du mich fragst, passt so ein schräger Vogel eher zu mir«, grinste Mikel.

Steve warf ihm einen überraschten Blick zu:

»So’n Quatsch. Feminismus! Wo hast du das denn aufgeschnappt?«

»Sie hat mit mir drüber geredet.«

»So etwas erzählt sie dir?« Steve rieb mit der Rechten nachdenklich über seine Hakennase. Mikel indes schloss die Augen und zog den Rauch tief durch seine Lungen, bevor er ihn ausstieß und weiterredete.

»Ich mag sie als Mensch, verstehst du? Sie ist eine Powerfrau. Doch dann hat sie auch wieder so etwas Zerbrechliches. Und wie sie mich manchmal anschaut. Diese Augen, tief und geheimnisvoll wie die Spiegelung abendlicher Sommersonnenstrahlen auf einem tiefblauen Bergsee.«

Steve hob erstaunt eine Augenbraue:

»Hey, komm runter von deiner Wolke.«

»Ohne Scheiß, wie geputzter Saphir, wie Aquamarin. Aber nicht kalt, sondern voller Wärme und Liebe! Weißt du, was ich meine? Dein Typ ist doch eher diese Liz, oder?«

»Hmmm«, antwortet Steve nachdenklich und zog dabei am Joint.

»Sind dir ihre dominanten Augenbrauen aufgefallen? Kräftig und schwarz wie die Nacht biegen sie sich zur Stirn, den Flügeln eines Schmetterlings gleich! Stolz, edel und erhaben.«

»Aha!« Steve räusperte sich. »Was hast du denn in den Joint gewickelt?«, schmunzelte er erstaunt.

»Sie ist voller Stolz und Schönheit. Klar, dass DU das nicht erkennst«, feixte Mikel. »Du gaffst ihr nur auf die Titten. Doch sind dir ihre ebenmäßigen Zähne, die blutroten Lippen und diese rosa Zungenspitze aufgefallen, die keck hervorschaut, wenn sie lacht. Und dann dieses Lächeln in ihren Mundwinkeln und Grübchen…«

»Alter, bevor deine Ausführungen die südlicheren Gefilde streifen, lass uns lieber über die Gestaltung der Flyer für die nächsten Gigs reden«, antwortet Steve und kratzte dabei nachdenklich seinen Dreitagebart.

»Und ist dir aufgefallen, wie sich ihre linke Oberlippe hochzieht und fast umstülpt, wenn sie ihr breites Grinsen aufsetzt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Es wirkt so offen, so verführerisch, so herausfordernd und sexy. Sie ist ein klasse Mädchen. Das Schräge an ihr, rührt von inneren Verletzungen. Sie trägt tiefe Narben, das fühle ich. Sie berührt mich sehr.«

»Halt endlich die Klappe. Hättest du mir nicht von Anfang an sagen können, dass du spitz auf sie bist?«

»Und ist dir etwa entgangen, dass du gar nicht ihr Typ bist?«

»Schön wir haben noch nie ein Problem damit gehabt, wer welche Braut abschleppt«, gähnte Steve. »Und wir werden uns auch diesmal nicht wegen einer Frau in die Haare kriegen. Okay? Lass uns entspannt abwarten, in welche Richtung das Pendel ausschlägt«, grinste Steve und wechselte das Thema:

»Ach übrigens, ich habe Karten für das Spiel der Gunners gegen Manu besorgt.

»Geil, Alter!«

2011 - 5.1., 16:00 Griechenland

Pefka/Nähe Thessaloniki

Szene 9 – zwei Monate zuvor

Außenaufnahme: Schwache Lichtverhältnisse. Eine Frau Ende zwanzig, steigt die Treppenstufen zu einem bunt angemalten Gebäude empor. Es sind Kinderzeichnungen, die die Außenwände des Hauses zieren. In einem Fahrradständer stehen zehn Kinder- und drei Erwachsenfahrräder.

Adriana hatte ein merkwürdiges Gefühl, als sie die Treppenstufen zum Kindergarten im Eiltempo nahm. Sie wusste, sie war spät dran. Sehr wahrscheinlich würde sie die Erzieherin auf Spätdienst mit einem langen Gesicht empfangen. Als sie die Eingangstür aufstieß, erfasste sie jedoch ein Schock. Ihre Knie wurden weich. Penelope, Damian rief sie aufgeregt und rannte wie blind und Böses ahnend durch sämtliche Räume. Mein Gott, wo sind sie? Wo sind meine Kinder? Das fünfjährige Zwillingspaar konnte sich doch nicht so einfach, mir nichts dir nichts, in Luft aufgelöst haben. Hatte heute etwa der Ausflug zum Zoo auf dem Programm gestanden – hatten sie sich lediglich verspätet?

War in den Verkehrsnachrichten nicht die Meldung über einen zehn kilometerlangen Stau durchgesagt worden? Bestimmt kommen sie gleich hereingestürmt und fallen mir laut lachend in die Arme!

Doch Adriana brauchte sich nur umzuschauen, um festzustellen, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein heilloses Chaos aus umgeschmissenen Tischen und Stühlen, von der Wand gerissener Bilder und verstreuter Klamotten, tat sich vor ihr auf. Der Boden war übersät mit Lebensmittelresten des Frühstücks, zerbrochenen Tellern und zersplittertem Glas. Und dann fand sie die Wintermütze von Penelope und wenig später einen Schuh von Damian. Mein Gott, entfuhr es ihr.

Szene 10

Rückblende/Einstellung 1

Außenaufnahme: Schwindendes Tageslicht. Eine verlassene Straße. Zwei Lastwagen der Marke Scania (Dreiachser) parken mit laufendem Motor vor einem Flachbau. Es ist ein Kindergarten.

Die Türen öffnen sich. Eine gemischte Gruppe, Männer und Frauen, zehn an der Zahl und schwarz gekleidet, springen aus den Wagen und stürmen zeitgleich das Gebäude.

Szene 11

Rückblende/Einstellung 2

Innenaufnahme: Der Kindergarten ist erfüllt von lachenden und tobenden Kindern. Vier Erzieherinnen sind damit beschäftigt Kakaotassen, Wassergläser und geschmierte Brote an die niedrigen Tische und Stühle zu bringen.

Der Überraschungseffekt ist auf Seiten der Angreifer. Innerhalb von zwei Minuten richten die schreiend durcheinanderlaufenden Opfer ein heilloses Chaos an. Weitere zwei Minuten später haben die Eindringlinge die panische Masse im Griff. Fünf Angreifer halten die schreienden Kinder und Erzieher mit abgesägten Schrotflinten in Schach, während die anderen sich daran machen, ihre Opfer zu chloroformieren.

Szene 12

Rückblende/Einstellung 3

Außenaufnahme: Schwindendes Tageslicht.

Zehn Minuten später ist der ganze Spuk vorüber, als auch die letzten Kinder betäubt in die Dreiachser verfrachtet werden.

Szene 13

Rückblende/Einstellung 4

Innenaufnahme: Das Ende der Erzieherinnen!

Die Injektionen, die sie den Erzieherinnen setzen, sind auf der Stelle tödlich. Bevor sie das Gebäude verlassen, schmeißen die Angreifer ihre Opfer wie nasse Säcke in eine der Toiletten und verriegeln die Tür.

Szene 14

Rückblende/Einstellung 5

Außenaufnahme: Schwindendes Tageslicht. Die Rücklichter der Scania-Trucks entschwinden um eine lang gezogene Kurve.

Ein Vogel kreischt. In der Ferne heult ein wütendes Hunderudel. Die Türen des Kindergartens schlagen im Wind.

2011 - 5.1., 20:30

Mazedonien

E 75, Aracinovo

auf der Höhe von Skopje

Szene 15

Außenaufnahme: Ein Dreiachser mit der Aufschrift „Südfrüchte Athen“ rollt durch einen sternenlosen Abend in Mazedonien. Die Straße ist in einem miserablen Zustand. Die Räder holpern über die Fahrbahndecke. Das Abblendlicht des LKWs zuckt durch die kalte, feuchte Nacht. Ein Grad plus!

Szene 16

Innenaufnahme: LWW-Ladefläche! Ein dunkles Licht zappelt am Dach des LKW. Die Planen schimmern in einem dunklen Grün. Am Boden liegen siebzehn Kinder eng aneinandergeschmiegt.

Penelope nahm Damians Hand und drückte sie fest. Ihr Herz raste. Mit einmal empfand sie furchtbare Angst und schrie:

»Mama! Mama!« Und immer wieder:

»MAMA! MAMA!« (nach ihrem Vater hatte sie noch nie geschrien, sie kannte ihn nicht)

Ein fürchterlicher Gestank drang Penelope in die Nase. Im spärlichen Licht erkannte sie die anderen Kinder aus ihrer Gruppe. Wir sind es, die so stinken! Penelope roch, dass sich ausnahmslos alle - im wahrsten Sinne des Wortes - vor Angst, die Hosen voll hatten. Mit einem betroffenen Blick schaute sie an sich hinab und fühlte sich im nächsten Moment bis ins Mark getroffen. Tränen schossen ihr in die Augen. Was ist passiert? Ihr Herz raste!

Und dann sah sie sie zum ersten Mal. Sie wollte schreien, doch ihr Mund öffnete sich nicht. Sie wollte wegrennen, bekam dabei aber keinen Fuß vor den anderen gesetzt. Sie rang nach Luft, doch der Schrei blieb aus. Eine Hexe, dachte sie. Eine Hexe!

Die Hexe beugte sich zu ihr herab und drückte ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Sekunden später fiel Penelope in sich zusammen.

Szene 17

Innenaufnahme LKW-Führerhaus: Das Führerhaus des Wagens ist technisch hochgerüstet. Der Boden ist übersät mit willkürlich fallen gelassene Verpackungen und leere Plastikflaschen.

»Alles klar?«, fragte der schwarze Schatten, dessen Hände das Lenkrad fest umschlossen.

»Alles klar! Eines der Blagen war aufgewacht«, antwortete eine Frau mittleren Alters und zog dabei die Hexenmaske vom Kopf.

Diez Hermanas

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