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3. Zwei Vögel, ein Frosch und der Erzengel des Fortschritts

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Königsberg, wo Hilbert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufwuchs, war ein wohlgeordneter, stolzer und offener Ort, Ostpreußens Hafen zur Welt und Krönungsstadt der zu dieser Zeit modernsten Nation in Europa. Gleichwohl lagen die besten Tage dieser Stadt schon eine Weile zurück. Der Hafen und die Börse waren zwar groß und bedeutend, Königsberg konnte sich rühmen, der weltgrößte Umschlagplatz für Erbsen zu sein und Deutschlands größter Hafen für Getreide und Holz.6 Aber diese Güter hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihre Stellung verloren. Häfen der Zukunft waren Liverpool und New York, wo die Erbse eine untergeordnete Rolle spielte. Stahl, Kleidung und Maschinen wurden anderswo produziert, Ostpreußen konnte dieser Entwicklung nur zusehen. Das Hinterland von Königsberg war sozial, wirtschaftlich und kulturell zurückgefallen, dominiert von sittenstrengen landbesitzenden Familien, welche die neuen Techniken und die kapitalistische Wirtschaftsweise wie eine bedrohliche Schlechtwetterfront im Westen Deutschlands aufsteigen sahen. So war die Stadt im 19. Jahrhundert bedeutend geblieben, aber in einem Landstrich am Rande des Reichs, der kontinuierlich an wirtschaftlichem und kulturellem Gewicht verlor. Die Festungsanlagen, die gemauerten wie die geistigen, waren groß (was der Nähe zu Russland und dem Stolz der Könige geschuldet war), aber ungepflegt.

Auswärtige Besucher spürten schnell die relative Stagnation. Königsberg (wie auch seine Universität, Albertina genannt) zehrte von den Legenden um Kant, war in seiner Liberalität und Pünktlichkeit realer Ausdruck der Gedankenwelt ihres größten Sohnes geworden, eine »Stadt der reinen Vernunft und der schmutzigen Straßen«.7 Insgesamt waren die Königsberger Professoren gut, aber meistens wären sie lieber in Berlin oder noch weiter weg gewesen, am Puls einer sich im Westen immer schneller verändernden Welt. Die Albertina war die viertkleinste von Preußens zwanzig Universitäten und zählte bis in die 1870er Jahre nur etwas mehr als 300 Studenten. In der Figur und im Werk Immanuel Kants besaß sie ein großartiges Erbe, einen über sämtlichen Fächern schwebenden Geist, auf den man sich in jedem Vortrag berufen musste. Aber drei Generationen nach dem Tod des Philosophen wirkte dieser permanente Bezug auf den immer selben geistigen Fixpunkt nicht mehr besonders originell.

Der Zustand des mathematischen Seminars passte in diese vernachlässigte Forschungslandschaft. Es hatte keine eigenen Räumlichkeiten und war im Karzer untergebracht, der universitätseigenen Ausnüchterungszelle. Die Bibliothek bestand im Wesentlichen aus den Bänden der Mathematischen Annalen. Es gab keine großen Tafeln im Vorlesungssaal, auf denen sich längere Formeln oder Beweise hätten aufschreiben lassen – was zu pointierter Kürze einlud, dem Thema aber nicht immer gerecht wurde. Die Belegung des Vorlesungssaals folgte keinem festen Stundenplan, sondern richtete sich nach der Seniorität des Professors, der dort unterrichten wollte, als wäre es jedenfalls interessant, was alte Männer zu sagen haben. In dieser Situation war es fast unausweichlich, dass die eigentliche Mathematik außerhalb der Universität stattfand, bei gutem Wetter an der frischen Luft und wenn es regnete in Wirtshäusern.


Im Sommer 1884 trafen sich drei junge Männer, der Privatdozent Adolf Hurwitz und zwei Doktoranden, Hermann Minkowski und David Hilbert, beinahe täglich um fünf Uhr nachmittags auf dem Paradeplatz vor dem Hauptgebäude der Albertina, um in der Sonne spazieren zu gehen und dabei das mathematischnaturwissenschaftliche Wissen ihrer Zeit zu durchmessen. Für Hurwitz, den jüngsten und in der Hackordnung niedrigsten Privatdozenten am mathematischen Seminar, war die Belegung eines Hörsaals beinahe unmöglich, und so lag es nahe, sich lauffreudige und trinkfeste Studenten zu suchen, für den Unterricht außerhalb des Universitätsgebäudes. Mehr als zwei fand er zunächst nicht, aber bei einer Revolution der Ideen kommt es ohnehin weniger auf die Zahl der Brandstifter an als auf den Erschöpfungszustand des alten Regimes.

Es waren drei magere Gestalten, die gewaltige Schnauzbärte und eng geschnittene Anzüge aus schweren Stoffen trugen, ganz nach der Mode ihrer Zeit. Sie waren tief in ihr Gespräch versunken, und die Konzentration, mit der ein jeder von ihnen dem anderen zuhörte, um auch nicht eine Nuance des Mitgeteilten zu verpassen, wirkte, als liefen sie unter einer unsichtbaren Käseglocke, die sie von der Welt um sie herum weitgehend isolierte. Ihr Weg führte sie durch den Königsgarten zum Schlossteich, wo die Studentenverbindungen und Rudervereine ihre Quartiere hatten. Der Teich war zu jener Zeit etwas über einen Kilometer lang und erstreckte sich von der Stadtmitte bis zu den nördlichen Befestigungsanlagen. Seit einer Weile war es für die jüngeren Damen möglich und sogar üblich, dort in der Nachmittagssonne zu rudern, und in ihren weißen Blusen und weit ausladenden Hüten mochten sie dem einen oder anderen Flaneur einen unverkennbaren optischen Reiz bieten, aber die drei Spaziergänger waren keine gedankenlosen Müßiggänger und hatten, in der intensivsten und wichtigsten Stunde ihres Tages, keinen Blick dafür. Sie gingen, ohne nach rechts oder links zu blicken, durch den »Börsengarten«, vorbei an der gleichnamigen Gastwirtschaft im Stil eines bayerischen Bierausschanks unter freiem Himmel, der als das größte Alltagsvergnügen in dieser protestantisch-pünktlichen Stadt gelten konnte. Die Promenade um den See war von zahlreichen Parkbänken gesäumt, die eine ideale Gelegenheit boten zum Verweilen, zum Dösen, zum Plaudern. Für die drei kam es aber nicht in Frage, wie selbstzufriedene Besitzbürger auf einer Bank zu sitzen, denn die Schritte waren der Takt und die Erdung ihrer Gedanken, die ununterbrochen fortgesponnen und geprüft werden mussten, damit nicht, als hätte sich plötzlich von der Ostsee her eine herbstliche Nebelwand über die Spaziergänger gesenkt, ihre Richtung und ihr Zusammenhalt verlorengingen. Der Gang, die Bewegung, das Ritual waren wesentlicher Teil des Gesprächs, der körperliche Spiegel ihres geistigen Fortschreitens.

Der Spaziergang führte am Seeufer entlang nach Norden, vorbei an den prominenten Häusern der Freimaurerlogen »Drei Kronen«, »Zum Todtenkopf und Phönix« und »Immanuel«, vorbei am Wilhelms-Gymnasium und der Baptisten-Kirche und vorbei schließlich auch am gewaltigen Dohnaturm, der den Punkt markierte, wo die neueren Festungsanlagen zwischen Schlossteich und Obersee hindurchführten. Hier ließen sie die Altstadt hinter sich und gingen durch die Parkanlagen, die an der Stelle der mittelalterlichen Stadtmauern angelegt worden waren, bis sie endlich an einen Apfelbaum gelangten, das Ziel des täglichen Gangs.8 Dort war es wohl an der Zeit, innezuhalten und erste Ergebnisse ihres Gesprächs zu fixieren, dessen Inhalt nicht eben leicht verdaulich war. Denn mathematische Gegenstände eignen sich am Ende nur bedingt für Wirtshäuser und Spaziergänge. Man muss sich furchtbar konzentrieren, darf nichts auslassen, hat alles vorsichtig und richtig abzuleiten und zusammenzufügen, darf nichts zittrig im Ungefähren belassen, kann weder mit einem unbegründeten Anfang noch einem offenen Ende leben. Eine Rechnung ist keine Rechnung und ein Beweis kein Beweis, wenn es unerklärte Sprünge oder Hilfsmittel aus dem Nichts gibt. Mathematiker können da schrecklich humorlos und pedantisch sein, weshalb es sich anbietet, irgendwann in geschlossenen und beruhigten Räumen auf einem Blatt Papier zu arbeiten, sodass der Gedankengang nachvollziehbar und in der richtigen Ordnung bleibt. Das Argument langer Rechnungen oder Beweisketten im Kopf präsent zu halten, während gleichzeitig daran weiter gewirkt wird, sprengt ab einem gewissen Punkt den Kopf. Auch die Begabtesten geraten irgendwann unweigerlich an die Grenze des Fassungsvermögens. Spätestens an diesem Punkt wäre der Spaziergang abzubrechen oder die Tafel im Wirtshaus aufzuheben und ein Schreibtisch aufzusuchen, um zu verifizieren, ob die Gedanken wirklich so gut waren, wie sie sich eben noch anfühlten.

Hurwitz, nur wenig älter als die beiden Studenten, hatte störrisch nach oben gesträubte Haare, von der Art und Länge einer Schuhbürste, und einen etwas grimmig nach unten gezogenen Oberlippenbart im Walross-Stil, wie man ihn heute nur noch von Nietzsche-Fotografien kennt. Er machte insgesamt keinen gesunden Eindruck, seit er als Student an der TU München an Typhus erkrankt war. Er litt oft an Migräne, wirkte schmal, feingliedrig und zerbrechlich, hatte dabei aber lebhafte und fröhliche Augen. Seine Erscheinung war unauffällig und »nichts hätte Hurwitz ferner gelegen, als bohemehaft oder exzentrisch zu erscheinen. Er war immer korrekt, reserviert, unauffällig, über die Maßen bescheiden, er zog den Hut noch vor der Dienerschaft der Nachbarn. Ein Fremder hätte nicht vermuten können, dass sich hinter dieser unscheinbaren Fassade etwas anderes als ehrenwerte Bürgerlichkeit verbarg.«9 Und nur wer etwas Sinn für Mathematik hatte, konnte in dieser etwas kränklichen und zarten Erscheinung den ihr vorauseilenden Ruf bestätigt finden, ein Wunderkind zu sein. Höchst musikalisch war er übrigens auch.

Der jüngste der drei Spaziergänger, Hermann Minkowski, war noch mehr Wunderkind als Hurwitz. Seine maßlose Begabung ließ ihn mit 15 sein Abitur machen und bereits mit 17 Jahren seinen ersten großen internationalen Auftritt absolvieren, als er 1881 die Preisaufgabe der Pariser Akademie im Wettbewerb um den Grand Prix des Sciences Mathématiques löste (es ging um die Darstellung einer ganzen Zahl als Summe von fünf Quadrat(zahl)en). Amüsant ist diese Episode, weil das Problem bereits 14 Jahre früher von Henry Smith, einem durchschnittlich begabten Professor in Oxford, gelöst worden war, ohne dass man in Paris davon Kenntnis nehmen wollte. (Dass dieses Ergebnis aus Oxford der Pariser Akademie durchrutschte, war nichts Ungewöhnliches, denn die Wissenschaftler dieser Epoche vermieden es, die Publikationen des jeweils anderen Landes ohne Not zur Kenntnis zu nehmen.) Bedeutend wird sie durch das Schlaglicht, welches sie auf den jungen Minkowski warf. Er löste die Aufgabe in einer Brillanz, dass die Akademie ihm gerne den Preis zuerkannte, obwohl national gesinnte Franzosen und Engländer jeweils eigene Einwände formulierten. Aber Charles Hermite und Camille Jordan, die zu dieser Zeit bestimmenden Köpfe ihres Fachs in Paris, wussten den biederen Zugriff Smiths von dem Genialen bei Minkowski wohl zu unterscheiden und hielten an ihrem Urteil fest. Jordan erkannte das Talent in dem jugendlichen Autor wie ein Künstler die Skulptur im Marmorblock und schrieb ihm: »Travaillez, je vous prie, à devenir un géomètre éminent.«10 Die Bitte ging in Erfüllung.

Die Familie Minkowski war erst wenige Jahre zuvor aus Alexoten (das heute zu Kaunas in Litauen gehört) eingewandert. Sie hatte sich unter der Herrschaft des Zaren nicht mehr wohl gefühlt, seit die Polnisch-Litauischen Gebiete nach dem Aufstand von 1862 unterdrückt, geknebelt und besteuert wurden. Die besseren schulischen Perspektiven und die Größe der polnischen Gemeinde im nahegelegenen Königsberg trugen wohl ein Übriges zur Umsiedlung bei.11 Der älteste Bruder, Maxim, war bereits zuvor nach Insterburg, nahe Königsberg, aufs Gymnasium gegangen.

Hermann Minkowski wird als ein – trotz seiner offensichtlich außerordentlichen Begabung – sehr bescheidener, schüchterner, zum Stottern neigender Mensch beschrieben, als wäre ihm sein Talent unangenehm gewesen. Was fängt man als Junge mit so einem gewaltigen Verstand an, der die Schuljahre zu Monaten eindampft und zum Kinderspiel werden lässt, was den anderen die Krönung jahrelanger müheseliger Arbeit ist? Man muss wohl Bücher über Mathematik und Naturwissenschaften lesen und zur Erholung Shakespeares Othello und Goethes Faust aufführen. Sein Humor, der in seinen späteren Briefen immer wieder aufblitzte, war von der Art, wie man ihn in einer zurückhaltenden Beobachterrolle kultiviert, die Minkowski in Gesellschaft, halb gesucht, halb gezwungen, einnahm. Jedenfalls bedauerte er es später, in seiner Jugend für Übermut und Sorglosigkeit nie Zeit gefunden zu haben.

»Kein Mathematiker sollte je vergessen, dass die Mathematik, mehr als jede andere Wissenschaft, ein Spiel für junge Leute ist.« Sie ist kein Ort, an dem alte Menschen noch etwas bewegen können, und »ich weiß von keinem bedeutenden mathematischen Fortschritt, der von einem Mann über 50 begonnen worden wäre«,12 schreibt G. H. Hardy, der exzentrischste unter den hervorragenden Mathematikern des 20. Jahrhunderts. Junge Menschen sind noch nicht von den Gewissheiten des Alters verbaut, sind noch nicht erfahrungssatt und eitel, haben keine Verpflichtungen gegenüber Methoden und Schulen, können sich in aller Freiheit irren und auf wenig respektable Abwege begeben. Sie sind naiv genug, um auch das furchtbar Einfache zu probieren, welches manchmal die Lösung ist, wenn die Komplexität einer Aufgabe den Kopf zu sprengen droht. Sie sind mit den Techniken, mit denen ihre Lehrer groß geworden sind, nicht so verwoben wie diese und können unbekümmert etwas Neues probieren. »Es trägt jeder mathematische Soldat den Marschallstab im Tornister, wenn er nicht aus purer Disziplin auf alles Vorhandene schwört«,13 bemerkte Minkowski später. Anders als die historischen Wissenschaften, in denen sich meist eine Gelehrsamkeit erdrückend auf die andere legt, ist die Mathematik durch ihren Fortschritt nicht weniger zugänglich geworden. »Obwohl die Mathematik ja heute einen so gewaltigen und ausgedehnten Bau vorstellt, werden die Zugänge immer offener, die Räume immer heller und durchsichtiger, und dringt man, wenn man nur den richtigen Schlüssel zur Pforte sich geschmiedet hat, alsobald in das tiefste Innerste.«14 Bei diesen Worten hatte Minkowski wohl nicht zuletzt an seine eigenen jugendlichen Heldentaten gedacht.

So gesehen war David Hilbert, der zweite Doktorand, um den sich Hurwitz spazierengehend kümmerte, kein vielversprechendes Talent. Von ihm gab es aus der Schule keinerlei Wunderdinge zu berichten, allenfalls über Probleme mit den alten Sprachen und gute Noten in Rechnen. Das Gymnasium durchlief er ohne besondere Höhen und Tiefen, ohne Enthusiasmus für irgendein Fach, sodass er sich später zu der Entschuldigung genötigt sah, »Ich habe mich auf der Schule nicht besonders mit Mathematik beschäftigt, denn ich wusste ja, dass ich das später tun würde.«15 Er war, wie man es damals in Ostpreußen lautmalerisch auf den Punkt brachte, »dammelig«.16 Nun war er 22 (zweieinhalb Jahre älter als Minkowski, der allerdings ein halbes Jahr vor ihm die Abiturprüfung abgelegt hatte) und hatte dennoch schon das Aussehen eines Bilanzbuchhalters, mit schütterem Haar, Tendenz zum Segelohr, einem Zwicker auf der Nase und spitzem Kinn.

Die Familie Hilbert verkörperte den von Kant formulierten steifen, pünktlichen, ehrlichen und dennoch spekulationsfreudigen protestantischen Geist, der damals in Königsberg seinen letzten Abglanz verbreitete. Es war ein wohlgeordnetes Leben, die Woche gehörte der Arbeit, der Sonntag der Kirche und die Sommerfrische verbrachte man an der nahen Ostsee. Der Urgroßvater war ein wanderlustiger Bursche, der sich vom Barbier in Freiberg in Sachsen zum Feldscher im Siebenjährigen Krieg und schließlich zum »Stadtchirurgus, Operateur und Accoucheur«17 in Königsberg emporarbeitete. Die Söhne der Familie hießen gerne David, das war das äußere Zeichen eines innerlich verblassenden pietistischen Erbes. Ihre Frauen waren Töchter von Schulmeistern, die mehr Erziehung als Bildung mitbrachten und ihren Kindern mehr Pflichtbewusstsein als Kultur mitgaben, um mitzuschwimmen in einer Gesellschaft, deren stetig wachsende Mittelschicht den Zweifel den Philosophen überließ und den Traum von einer besseren Welt den Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten. Der Vater des mit Hurwitz und Minkowski spazierengehenden Hilbert war wie schon dessen Vater Amtsrichter, gutbürgerlich, streng, »ein etwas einseitiger Jurist, von so regelmäßigen Gewohnheiten, dass er täglich den gleichen Spaziergang machte, verwachsen mit Königsberg«.18 Die Mutter war eine respektable Amtsrichtersfrau aus einer Kaufmannsfamilie, die sich in stillen Stunden wohl auch mit Astronomie und dem Ausrechnen von Primzahlen beschäftigte. Sonst gab es über sie nichts von Bedeutung zu berichten, nichts über besondere Interessen, weder an Kunst noch an Musik oder an Politik. Das alles war so gewöhnlich wie bildungsbürgerlich, so wohlgeordnet, so herzhaft grau, dass es einem Wunder gleichkam, dass der jüngste David Hilbert nicht dem Wunsch des Vaters nachkam und ebenfalls preußischer Staatsdiener wurde.

Dies war die Konstellation, die zum Nährboden für einige der besten Ideen des 20. Jahrhunderts wurde. Der wenig bemerkenswerte Hilbert und der früh großartige Minkowski wurden von Hurwitz unter die Fittiche genommen und durch das weite Feld der Mathematik geführt. Und die beiden Wunderkinder erkannten in Hilbert nicht nur einen dammeligen Jungen, sondern eine tiefe, langsam reifende Begabung. »Der Umstand, dass ich es in der Mathematik zu etwas gebracht habe,« meinte Hilbert später, »ist dem Umstand geschuldet, dass ich sie immer so schwierig fand. Wenn ich etwas las oder über etwas hörte, schien es mir immer so schwierig und praktisch unmöglich zu verstehen. Und dann fragte ich mich, ob es nicht auch einfacher ginge – und häufig stellte es sich tatsächlich als einfacher heraus!«19 Hurwitz und Minkowski erkannten Hilberts Tiefe in seiner Langsamkeit und die Originalität in seiner naiven Herangehensweise. Tatsächlich war er, wie sich bald herausstellte, mit ausreichend Talent gesegnet, um auf den Spaziergängen um fünf Uhr zum Apfelbaum mithalten zu können.

»Manche Mathematiker sind Vögel, andere sind Frösche. Vögel fliegen hoch in der Luft und überschauen weite Teile der Mathematik bis weit hinaus zum Horizont. Sie haben Spaß an Begriffen, die unserem Denken eine Einheit geben und verschiedene Probleme aus unterschiedlichen Gegenden der Landschaft zusammenbringen. Frösche leben im Schlamm und sehen nur die Blumen, die in der Nähe blühen. Sie freuen sich an den Details bestimmter Objekte und haben immer nur ein Problem vor Augen«,20 so teilt Freeman Dyson, ein bekennender Frosch, seine Zunft ein. Legt man diese Charakterisierung zu Grunde, war Hurwitz ein Frosch und Minkowski und Hilbert waren Vögel. Hurwitz war nicht in erster Linie ein Mann für die ganz neuen, revolutionären Ideen, aber er ging den Dingen so lange auf den Grund, bis er sie von allem Beiwerk, allen dunklen Referenzen befreit hatte und zu ihrem schönen Kern vorgedrungen war. Er konnte ganze Felder so verdichten und Lösungen so weit vereinfachen, bis nur noch die Essenz, ein Aphorismus übrigblieb: »Ein Aphorismus ist ein prägnanter, gewichtiger Ausspruch. Der Aphorismus ist kurz, aber sein Urheber mag lange daran gearbeitet haben, um ihn so kurz zu machen. Hurwitz pflegte seine Ideen mit liebevoller Sorgfalt, bis er zum einfachsten möglichen Ausdruck gelangte, frei von überflüssiger Dekoration oder Ballast und vollkommen klar […] Er beherrschte die ganze Breite des mathematischen Wissens seiner Zeit, soweit dies möglich war zu Beginn des 20. Jahrhunderts.«21

Er war ein idealer Lehrer für die beiden Vögel, die er Thema für Thema und Problem für Problem ganz auf die Höhe ihrer Zeit brachte. Von dort aus konnten Hilbert und Minkowski dann, alles überblickend, Geometrie und Physik, Algebra und Zahlentheorie und was ihnen sonst noch in den Sinn kam, im Kopf zusammenbringen.

Acht Jahre dauerte das Ritual des Spaziergangs, mit gewissen berufsbedingten Unterbrechungen und Absenzen. Aber wann immer sich die Möglichkeit bot, gingen die drei den Schlossteich entlang zur Stadt hinaus und durchleuchteten dabei »wohl alle Winkel mathematischen Wissens«.22

Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt

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