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Oft bekommt man zu hören: Das ist gut, doch es ist von gestern. Ich aber sage: Das Gestern ist noch nicht geboren. Es war noch nicht wirklich da.

Ossip Mandelstam, Das Wort und die Kultur (1921)

1. Vorwort

Es gibt einen im Grunde liebenswürdigen Menschenschlag, der beim Nachdenken über die Welt bereit ist, über die Intuition hinauszugehen und sich allein von der Form und der inneren Logik der Phänomene leiten zu lassen. Diese Menschen sind phantasievoll und mutig im Angesicht strenger Logik und selbstbewusst genug, um unvermeidliche Niederlagen nach kurzer Trauer einzugestehen – denn die Wahrheit der formalen Überlegung geht ihnen über alles. Sie erlangen selten den Status eines öffentlichen Intellektuellen, sind wenig ruhmsüchtig und meistens mit einem stillen Kämmerchen zufrieden, in welchem sie gleichwohl nichts Geringeres herstellen als den Schmierstoff der modernen Welt. Die Rede ist, natürlich, von den Mathematikern.

Wir alle wissen, wie groß der Einfluss ihrer Arbeit ist. Unter den Begriffen Big Data, Künstliche Intelligenz und Kryptographie haben mathematische Techniken das tägliche Leben einer Menschheit durchdrungen, die sich auch bei noch so guter Schulbildung oft wenig darunter vorstellen kann, was unter moderner Mathematik zu verstehen ist und wer sich so etwas ausdenkt. Der Draht der Mathematiker zu großen Teilen der gebildeten Schichten ist, trotz ihres stark gewachsenen Einflusses, weitgehend verlorengegangen.

Das war nicht immer so. Im 18. Jahrhundert konnte ein Philosoph wie Voltaire ein Buch über Newtons Physik schreiben und große Mathematiker wurden hoch gehandelt in den Salons von Paris, London und Berlin. Dichter wie Novalis machten sich ausgiebig Gedanken über Euklids Axiomatik und die Bedeutung der binomischen Formeln. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ein gebildeter Mensch könnte ohne Kenntnisse der neuesten Mathematik auskommen. Dann aber, um 1800, verlor sie ihre Selbstverständlichkeit, denn durch die furchterregend abstrakten Arbeiten von Carl Friedrich Gauss und einigen seiner Zeitgenossen büßte sie ihre Anschaulichkeit ein und wurde zu einem Fach, das unmöglich von Kavalieren nebenher, als amüsanter Zeitvertreib, betrieben werden konnte. Die Dilettanten in der Mathematik starben langsam aus. Heute ist sie nicht mehr Teil der Allgemeinbildung und es gibt sehr kultivierte Menschen, die ohne Furcht vor sozialer Ausgrenzung bekennen können, keinen blassen Schimmer von moderner Mathematik zu haben. Sie nehmen den Anspruch der Mathematik auf Unbedingtheit, Ewigkeit und Schönheit von Ferne interessiert zur Kenntnis, sehen als Zugang aber nur ein Nadelöhr, das Ihnen unpassierbar erscheint. An diese richtet sich das vorliegende Buch.

Der durchschnittliche Mathematiker weiß genau, dass die Allgemeinheit die konkreten Inhalte seiner Wissenschaft weder sucht noch findet. Sosehr er es sich auch wünschen mag, dem nächsten Passanten auf der Straße zu erklären, was es mit Topologie oder algebraischer Geometrie auf sich hat, er wird am Ende bestenfalls graue Erinnerungen an die Schulzeit wecken und keine reichhaltigen Ideen transportieren. Über Inhalte kann daher in diesem Buch nicht geredet werden, es hätte keinen Sinn. Ich kann nur versichern, dass es ein wunderschönes Erlebnis sein kann, logische Zusammenhänge zu begreifen, dass auch in jener Gedankenwelt jenseits der Intuition und der bunten Vorstellungen noch Leben ist. Allerdings lässt sich über die biographische Konstellation reden, über die Denkweise und die Aufgaben, aus der die Mathematik hervorgeht – und dann lässt sich umso besser darüber staunen, wie eine rein geistige Übung so tief in die Realität hineingreifen kann.

Wie tief dieser Eingriff ist, hat am stärksten die um 1900 geborene Generation erfahren. In ihrer Kindheit bezeichneten Glühbirnen und Dampfmaschinen den Stand der Technik. Fünfzig Jahre später gab es Autos, Flugzeuge, Atombomben, Computer, Radar, Radio und Fernsehen und die Welt erkannte sich kaum wieder. Die Physik hatte die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik hervorgebracht und es gab völlig neue Wissenschaftszweige wie die Spieltheorie und die Kybernetik. In diesem halben Jahrhundert hat sich die Welt so dramatisch gewandelt wie in fast keiner anderen Periode. Gegen diesen Sturm sind die Veränderungen, welche die westliche Welt heute erlebt, bestenfalls ein leises Ziehen.

Sucht man nach der einen Figur, welche häufiger als alle anderen an den Quellen dieser Umwälzung auftaucht, trifft man schnell auf David Hilbert in Göttingen, den einflussreichsten Mathematiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war die graue Eminenz hinter den naturwissenschaftlichen Köpfen, die die Welt in dieser Zeit auf ihre Weise erschütterten. Bei niemandem trafen so viele der später entscheidenden Wissenschaftler aufeinander und auf keinem anderen Schreibtisch kreuzten sich so viele Verbindungslinien und Ideen, aus denen schließlich, ungeplant, eine neue Zeit entstand. Er gab der ganzen Entwicklung der Mathematik im 20. Jahrhundert die Richtung vor. Viel von dem, was wir heute davon im täglichen Leben sehen, wie etwa die Entwicklung des Computers, ist in der Auseinandersetzung mit seinen Ideen entstanden. Und es ist auch kein Zufall, dass viele der Physiker, die später die Atombombe bauten, sich in den 1920er Jahren in Hilberts Göttingen kennenlernten.

»Zwei Einflüsse haben meiner Meinung nach vor allen anderen das 20. Jahrhundert geprägt. Der eine ist die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technologie – gewiss die größte Erfolgsgeschichte unserer Zeit […] Der andere besteht zweifellos aus den großen ideologischen Stürmen, welche das Leben fast der gesamten Menschheit verändert haben«,1 schreibt Isaiah Berlin, einer der besten Zeugen seiner Zeit. Besteht der Mantel der Geschichte des 20. Jahrhunderts nach außen hin aus Krieg, Vernichtung und Vertreibung, aus Ideologien, Rassismus und blindem Eifer, so ist sein Innenfutter aus der phänomenalen Entwicklung der mathematischen Naturwissenschaft gewoben, welche die Gestalt des Jahrhunderts mindestens so sehr geprägt hat. Über die Tyrannen, denen im 20. Jahrhundert niemand aus dem Weg gehen konnte, ist viel geschrieben und gestritten worden – womöglich mehr, als sie es verdient haben. Vielleicht stellt man in 200 Jahren aber fest, dass die Ideen und Methoden, die in dieser Zeit in Mathematik und Physik erdacht wurden, den Gang der Geschichte nachhaltiger verändert haben als die Grausamkeit der Ideologen.

In einer für die Mathematik glorreichen Zeit war Hilbert das überragende Oberhaupt einer Schule, die Naturwissenschaften und Technik die Mittel an die Hand gab, die Welt neu zu begreifen. Diese Schule zog begabte junge Menschen aus der ganzen Welt an, einen sehr bunten und genialen Haufen von Menschen, unkonventionell in jeder Hinsicht. Für seine Schüler setzte er sich bedingungslos ein, wie etwa für Emmy Noether, die er als Dozentin kaum durchsetzen konnte gegen seine dem Frauenbild des Kaiserreichs verpflichteten Kollegen von der Philosophischen Fakultät (und auch das nur unter dem Verweis auf den Unterschied zwischen Fakultät und Badeanstalt). Sein Markenzeichen war die im Sinne des großen Euklid benannte axiomatische Methode, in der sich der Ehrgeiz ausdrückte, des Pudels Kern nicht nur zu verstehen, sondern das Tier auch auf logisch einwandfreie, formale Weise wieder zusammenzusetzen. Sie ist der Versuch, die Dinge von ihrer inneren Logik her zu verstehen. Gedanklich war das eine Revolution, der Bruch mit einer romantischen Tradition, die den Mathematiker nur seiner genialen Intuition verpflichtet sah.

Das mathematische Wissen hat den Aufbau einer Pyramide. Die meisten von uns haben in der Schule eine im Kern dunkle Wissenschaft erlebt, die aus der richtigen Anwendung auswendig gelernter Formeln besteht und erst durch den Einsatz von Taschenrechnern erträglich wird. Diese Schulmathematik ist die breite Basis der Pyramide und objektiv langweilig – diese Ahnung der Amateure kann jeder Profi bestätigen. Mathematik ist aber, wie die Profis im selben Atemzug beteuern, auch interessant und schön. Interessant wird es dort, wo die Mathematik mit der Realität in Berührung kommt und anschaulich wird. Ein sehr großer Teil der Mathematik ist aus der Beschäftigung mit konkreten Problemen entstanden und an dieser Nahtstelle zwischen Geist und Natur wird sie greifbar. Etwa wenn sich die Orientierungsleistung von Tunesischen Wüstenameisen am besten als ein Operieren mit Vektoren begreifen lässt, oder wo das klügste Vorgehen im Glücksspiel Thema der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird. Schön ist die Mathematik an der Spitze der Pyramide, wo sie zu einer ästhetischen Erfahrung werden kann, wenn der mühevolle Aufstieg in Zahlentheorie, Topologie oder Algebra mit einer Ahnung von ewiger Wahrheit und Harmonie belohnt wird. Sie hat dort viel mit Inspiration und einem freien Spiel der Formen zu tun, die von alters her mit der sinnlichen Erfahrung von Schönheit assoziiert werden. Wenn das strenge Gerüst der mathematischen Begriffsbildung erst einmal gemeistert ist, bietet sich ein völlig anderes Bild. Es ist, als rage die Spitze der Pyramide aus einem Wolkenmeer unscharfer und unzusammenhängender Begriffe heraus.

Laien sind in der Mathematik gut beraten, sich nicht durch das Formelgestrüpp zu hauen, welches zwischen ihnen und den guten Gedanken an der Spitze der Pyramide wuchert, sondern zunächst auf den Stil und den Weg achten. Wie liest man also als Laie ein Buch über einen Mathematiker? In jeder Fachsprache finden sich Wendungen, die den Praktikern erst durch lange Übung so vertraut geworden sind wie dem Tänzer seine Schrittfolge. Wenn nun im vorliegenden Buch Begriffe und Passagen vorkommen, die undeutlich bleiben, bitte ich den Leser um die Nachsicht und den Mut, über das Schwierige zunächst hinwegzulesen und sich an die Essenz zu halten. Es geht hier nicht um exakte Definitionen, sondern um eine Reihe großartiger Ideen, die zum Wirkungsmächtigsten gehören, was das vergangene Jahrhundert zu bieten hatte. Das meiste von dem, was über die Schulmathematik hinausgeht, habe ich daher in Fußnoten verbannt, die mit dem Kürzel FfF, Fußnote für Fortgeschrittene, gekennzeichnet sind.

Eine zunächst oberflächliche Lektüre ist unter Mathematikern nicht ehrenrührig. Auch sie springen gerne, wenn sie eine Abhandlung lesen, über schwierig erscheinende Passagen hinweg. Zunächst lesen sie gewöhnlich nur die Sätze, die das Destillat der Überlegungen sind. Sie wissen zwar, dass oft nur die Begründung den Sinn eines Satzes klarmacht. Aber dennoch, erst wenn sie das Gefühl haben, es steckt eine gute Idee darin, vollziehen sie die Beweisketten nach. Nicht jeder Mathematiker ist fleißig und leidenswillig. Ihre Leser müssen es nicht anders halten.

Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt

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