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5. Hilbert geht nach Göttingen

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Die Karrieren der drei Spaziergänger nahmen ihren normalen Lauf. Hermann Minkowski trat 1887 eine Lehrstelle an der Universität Bonn an und die gemeinsamen Ausflüge zum Apfelbaum fanden nur noch in seinen Ferien statt. In Preußens äußerstem Westen entwickelte er eine heimliche Leidenschaft für die Physik, seit er zunächst aus Langeweile (mathematisch war in Bonn nicht viel geboten) und später mit immer größerem Interesse bei Heinrich Hertz Vorlesungen hörte und sogar Experimente machte. An Hilbert berichtete er eher beiläufig davon. Er sei gelegentlich sogar im blauen Laborkittel anzutreffen, nannte sich einen »Praktikus, wie Sie ihn sich schändlicher gar nicht vorstellen können«,30 und schlug vor, sich vor seinen Besuchen im reinvernünftigen Königsberg mindestens zehn Tage von aller Praxis zu entgiften, um so wieder Anschluss zu finden an die dortige Gedankenwelt. Bei Hertz hatte er dessen Unbehagen an Maxwells Elektrodynamik und Newtons Mechanik mitbekommen, ebenso wie eine Begeisterung für die Gleichungen der Physik. Aus dieser Zeit hatte er sich ein Verständnis für experimentelles Vorgehen auch in der Mathematik bewahrt und betonte auch später immer wieder seine Erwartung, eines Tages werde die Zahlentheorie in der Physik Anwendungen finden.31

In Königsberg wurde Hilbert, der den eigentlich üblichen einjährigen Wehrdienst irgendwie vermieden hatte, 1886 mit 24 Jahren Privatdozent. Er verhielt sich aber nach wie vor eher wie ein Student als wie eine akademische Respektsperson, denn er hatte irgendwann, als die mathematischen Spaziergänge weniger wurden, wohl doch den Reiz der Tanzcafés am Königsberger Schlossteich entdeckt. Er tanzte gern und legte sich dabei nur selten auf eine bestimmte Partnerin fest, wie es damals die Sitte verlangt hätte. Er stellte fest, dass er bei den jungen Frauen recht gut ankam, und entwickelte daraus eine Überzeugung, die er bis ins hohe Alter beibehielt.

Zur Ausbildung eines Jung-Akademikers gehörten auch Reisen an die Hotspots des Faches. Also machte er sich 1885/86 zu den Größen des Fachs auf, nach Leipzig, wo zu dieser Zeit Felix Klein eine größere Gruppe von vielversprechenden oder bereits arrivierten Köpfen um sich versammelt hatte. Hilbert machte dort offensichtlich Eindruck und wurde weitergereicht nach Paris, wo der geniale Henri Poincaré lehrte. Viel gab es nicht zu berichten über das Treffen mit dem schüchternen und oft nervösen Franzosen (der einige Jahre unter preußischer Besatzung gelebt hatte und daher gut Deutsch sprach). Hilbert musste das nicht persönlich nehmen, denn Poincaré hatte zeitlebens nur wenige Schüler. Charles Hermite, der Minkowskis jugendliche Glanztat vor der Akademie verteidigt hatte, war hingegen sehr viel offener und freundlicher. Aber er war alt und allzu viel Neues war ihm in letzter Zeit nicht mehr eingefallen. Hilbert sammelte immerhin Eindrücke und Anregungen, schnupperte in den verschiedensten Ecken seines Fachs und konnte nach einem knappen Jahr zufrieden nach Königsberg zurückkehren.

Zu seinem Herzensthema in dieser Zeit entwickelte sich die Invariantentheorie. Invarianten tauchen an den verschiedensten Stellen auf in der Mathematik, etwa in der Projektiven Geometrie, ein Fach, das von den Malern der Renaissance angestoßen worden war. Diese wollten Bilder von dreidimensionalen Figuren auf gekrümmte Flächen projizieren, in die sie eigentlich nicht gehörten. Malt man eine menschliche Figur in die Kuppel einer Kirche, wie müssen dann die Proportionen im Gemälde sein, damit es aus der Perspektive des Gläubigen in der Kirchenbank einigermaßen realistisch aussieht? Welche Maßverhältnisse ändern sich, und welche bleiben invariant? Ein ähnliches Problem trat bei der Projektion des Globus auf eine ebene Landkarte auf: Wo wird das Bild verzerrt und wo bleibt es invariant? Oder: Winkel sind invariant gegenüber Skalierung, Drehung oder Spiegelung. Die Frage nach dem Gleichbleibenden taucht immer und immer wieder auf.

Diese praktischen Fragen führten zu einer Vielzahl von komplexen Fragestellungen. Dabei hatte sich als ein zentrales Problem die Frage nach der Endlichkeit der Basis eines Invariantensystems herauskristallisiert. Was das genau ist, muss hier nicht interessieren. An der Lösung dieses Problems arbeiteten die Mathematiker mit der größten Ausdauer, denn sie schien seitenlange Rechnungen zu erfordern. Der größte Ruhm warte auf den, der sich am seltensten verrechnete. Hilbert hatte sich mit dem Problem in seiner Habilitationsschrift beschäftigt und konnte ebenfalls als Experte gelten. Da er aber, wie er von sich selbst immer wieder sagte, nicht der Fleißigste war, kam er irgendwann auf die Idee, nach einem einfacheren Weg zu suchen, als nur Papier mit Gleichungssystemen zu füllen. Und diese Idee war sein Durchbruch. Anstatt Gleichungssysteme zu bearbeiten, fragte Hilbert sich, welches die Konsequenzen wären, wenn es keine endliche Basis gäbe, und fand heraus, dass dies zu einem Widerspruch führen würde. Damit konnte er zwar nicht sagen, wie eine konkrete Basis aussah, aber er wusste, dass es sie gab.32

Damit geriet Hilbert in einen Proteststurm aus der Richtung all der Mathematiker, die gerne Gleichungen lösten und Freunde konkreter Konstruktionen waren. Ihnen schien es ein logischer Taschenspielertrick zu sein, was Hilbert sich da erlaubte. Paul Gordan, bis zu Hilberts Auftritt der »König der Invarianten«, nannte Hilberts Vorgehen »Theologie«33 (wo Existenzbeweise in der Tat gerne geführt werden), es habe nichts mit Mathematik zu tun. Und Leopold Kronecker schimpfte sowieso über alles, was nicht nach einem Algorithmus konstruiert wurde. Er war der unbarmherzige alte Mann der deutschen Mathematik, dem Strenge und einfaches Konstruieren in endlichen Schritten über alles ging. Nach dem Muster der Schulmathematik sollte ein Beweis geführt werden, so wie man mit Zirkel und Lineal ein gleichseitiges Dreieck in immer der gleichen Weise konstruieren kann. Die Folge der fest vorgegebenen Schritte, nach welchen auch die Schüler mit den einfachsten Möglichkeiten eine Zeichnung oder Rechnung ausführen konnten, nannte man Algorithmus (jede konkrete schrittweise Handlungsanweisung nach dem Muster eines Kochrezeptes kann ein Algorithmus sein, benannt nach dem Mathematiker al-Chwarizmi, der um 800 in Bagdad wirkte). In der konkreten Einfachheit und Sicherheit der Algorithmen lag für viele Mathematiker ihr Charme. Alles, was ein »unpräzises, logisch-philosophisches Fundament« hatte, war eine intellektuelle Spielerei ohne Boden. Die Mathematik hielt Kronecker für eine Naturwissenschaft, die nicht mit Definitionen beginnen konnte,34 sondern nur mit den gottgegebenen natürlichen Zahlen und der Beobachtung der Natur. Definitionen in der Mathematik mussten »nicht bloß in sich widerspruchsfrei sein […], sondern auch der Erfahrung entnommen«.35 Greifbar und anschaulich sollte die Mathematik sein, kein logisches Formelspiel ohne Grund in der Realität. Er konnte nichts mit Existenzbeweisen anfangen, bei denen aus der Annahme der Nichtexistenz ein Widerspruch entstand. Was war ein Beweis wert, der im Dunkeln ließ, wie die Lösung konkret aussah?

Kroneckers ablehnende Haltung war ein echtes Problem für Hilbert, denn der Beweis, das Herzstück jedes Satzes, ist gerade in der höheren Mathematik abhängig von der Anerkennung durch die Kollegen. Ein Beweis wird praktisch nie vollkommen ausgeführt, mit jedem Zwischenschritt und in jedem Detail. In jeder Argumentationskette wird ein Vorwissen über bereits bewiesene Sätze und ein Konsens über erlaubte Schlusstechniken verlangt. Die höhere Mathematik wird nicht durch eine besondere ästhetische oder metaphysische Qualität zu etwas Höherem, sondern durch ihren freien Umgang mit der niederen Mathematik, deren Ergebnisse sie unkommentiert voraussetzt. Je höher die Mathematik, desto skizzenhafter werden ihre Argumente, damit sie sich nicht über hunderte von Seiten ziehen müssen. Der Beweis wird hier zu einer sehr losen Kette, die ihre Gültigkeit von außen, von der Akzeptanz der anderen Mathematiker erhält.36 So kann es passieren, dass mathematische Ergebnisse und Sätze über längere Zeit akzeptiert und verwendet werden, obwohl sich später herausstellt, dass sie falsch sind. Und umgekehrt kann es vorkommen, dass Beweise, die nur von einem oder wenigen Mathematikern verstanden und akzeptiert werden, sich nicht allgemein durchsetzen.37

Der Streit wurde in aller Öffentlichkeit ausgetragen, mit einer Reihe von Notizen in den Mathematischen Annalen. Am Ende setzte Hilbert sich durch, aber die Auseinandersetzung hinterließ Narben. Von nun an spürte er den Geist Kroneckers bei jeder mathematischen Arbeit über seine Schulter schauen, und insbesondere in seinen späteren Arbeiten zur Logik versuchte er stets den Bezug zur endlichen Konstruktion herzustellen. Aber immerhin war er nun in Mathematikerkreisen berühmt, sogar noch mehr als seine genialischen Jugendfreunde. Nichts fördert die Bekanntheit mehr als ein öffentlich ausgetragener Streit.

Als Hurwitz 1892 eine Stelle als ordentlicher Professor in Zürich antrat, wurde es in Königsberg dennoch erst einmal einsam um Hilbert. Ihm blieben zwar einige begabte Studenten (u. a. Arnold Sommerfeld), aber unter den Professoren fehlten nun die Schwergewichte, mit denen er seine Ambitionen verwirklichen konnte. In eben diese Zeit mangelnder mathematischer Ansprache fiel sein Entschluss, Käthe Jerosch zu heiraten, um deren Gunst er sich schon eine Weile bemüht hatte. Er hatte zwar noch keine gute Stellung, aber hervorragende Aussichten, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er an eine bedeutende Universität berufen würde. Ein gutes Jahr später, 1893, kam ein Kind zur Welt, Franz, drei Jahre später folgte der Ruf als ordentlicher Professor nach Göttingen. Dort hatten die Schwergewichte Gauss, Dirichlet und Riemann gelehrt, die der Stadt und ihrer Universität auf dem Feld der Mathematik im 19. Jahrhundert eine in alle Welt ausstrahlende Aura verliehen hatten. In Göttingen bauten sich die Hilberts bald ein schönes Haus und das Leben war nun wohlgeordnet wie die natürlichen Zahlen. Hilbert hatte eine Frau, ein Kind, ein Haus, für die Vollendung des Idylls fehlte nur noch ein Hund. Mitte 30 war er jetzt, im kreativsten Mathematiker-Alter, er hatte Karriere gemacht und war auf dem besten Wege, ein bedeutender Mann zu werden.

Den Ruf nach Göttingen hatte Hilbert 1895 auf Betreiben von Felix Klein erhalten, der dort seit 1886 Ordinarius für reine Mathematik war. Klein war ein hervorragender, aber vielleicht allzu selbstbewusster Mathematiker, der bereits im Alter von 23 Jahren als Professor berufen worden war und in seiner Antrittsrede die Zunft mit seinem Erlanger Programm verblüfft hatte. Das war nicht nur eine starke Geste, sondern auch tiefgreifende Mathematik. Klein war mit einer Enkelin des Philosophen Hegel verheiratet, was in ihm die Überzeugung befestigt haben mochte, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Jedenfalls war er ein erstklassiger Mathematiker, der jeden Winkel seiner Wissenschaft durchforschen und zu einem einheitlichen Gebäude zusammenfügen wollte.

Der Fanfarenstoß, mit dem Klein in Erlangen den Beginn seiner Karriere eingeleitet hatte, sollte die Welt auf den Zusammenhang zwischen Geometrie und Gruppentheorie aufmerksam machen, ein damals noch neues Thema. Gruppen haben anschaulich viel mit Symmetrie zu tun. Entdeckt wurden sie von dem bereits erwähnten Évariste Galois, als dieser sich an Permutationen von Lösungen algebraischer Gleichungen abarbeitete. Permutationen sind in gewisser Weise symmetrisch, weil man dabei in einer gegebenen Ordnung ein Element so lange an den Ort des anderen schickt, bis alle wieder einen Platz haben im System (wie beispielsweise beim Mischen von Spielkarten oder bei Anagrammen). Portraits von Dürer oder Leonardo da Vinci sind in ihrer Anlage meist symmetrisch, in Form von Spiegelungen der einen Gesichtshälfte auf die andere (Achsensymmetrie). Spielkarten sind symmetrisch in dem Sinn, dass sie sich um 180° drehen lassen und wieder dasselbe Bild ergeben (Rotationssymmetrie). Ebenso verhält es sich mit einem fünfzackigen Stern, einem Drudenfuß, den man um ein Fünftel oder zwei Fünftel oder gerne auch fünf Fünftel dreht und der anschließend wieder genauso aussieht wie vorher. Solcherart symmetrische Transformationen bilden eine Gruppe.38

Diese Gruppen also brachte Klein in seinem jugendlichen Überschwang mit der Geometrie zusammen, indem er behauptete, dass eine Geometrie von nichts anderem bestimmt werde als von ihrer dazugehörigen Transformationsgruppe. Auf eine solche Idee konnte er nur kommen, weil im 19. Jahrhundert die Auffassung ins Wanken geriet, was eine Geometrie im Kern eigentlich war. 2000 Jahre lang hatte als ausgemacht gegolten, dass Euklids Darstellung der Geometrie, wie sie bis heute in den Schulen unterrichtet wird, die einzig richtige sei. Falsch!, so stellte es sich in den Jahren nach der Französischen Revolution heraus. Es gab, bei genauer Betrachtung des Verhaltens von Parallelen im Unendlichen, auch noch andere Geometrien, in welchen sich Maße, Winkel und Verhältnisse ganz anders verhielten, als es die Schulbücher wahrhaben wollten.39

Der Schlussstein von Kleins Programm sollte die Theorie der automorphen Funktionen sein, welche er zunächst in der ruhigen Selbstgewissheit seiner eigenen Genialität verfolgte – bis er plötzlich realisieren musste, dass der damals noch völlig unbekannte, abseits in der französischen Provinz arbeitende Henri Poincaré, noch jünger, noch genialer, dasselbe Ziel wie er verfolgte. Zwischen den beiden entstand eine Korrespondenz, die eigentlich ein Wettlauf um die Krone ihrer Wissenschaft war, bei dem Klein sich nur knapp zu einem Unentschieden retten konnte. Bei diesem Wettstreit hatte er viel Energie gelassen und die Erkenntnis gewonnen, dass er in Poincaré seinen Meister gefunden hatte. Das führte zu einem Zusammenbruch, wie ihn sehr viele Mathematiker irgendwann in ihrem Leben einmal haben. Äußerlich erholte Klein sich zwar, aber er fand nie wieder zur alten Höhe seiner Schaffenskraft zurück. Nach seiner Krise blieb er ein hervorragender Mathematiker, aber angesichts seiner nunmehr selbst erkannten Grenzen versuchte er seine Ziele künftig in Zusammenarbeit mit anderen zu erreichen. So wurde er zu einem Wissenschaftsorganisator, also einem Mann, der viel Zeit damit zubringt, bei Ministern und privaten Geldgebern um zusätzliche Mittel zu bitten, nach geeignetem Personal zur Verstärkung Ausschau zu halten und auf Fakultätssitzungen die feindlichen Kollegen gegeneinander auszuspielen. Er brachte nicht nur den fachlichen Überblick, sondern auch die charakterliche Kompetenz mit, zur grauen Eminenz seines Faches in Deutschland zu werden, und die Universität Göttingen war seine Burg. Klein wurde 1897 erstmals Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, vertrat die Universität ab 1908 im preußischen Herrenhaus, sein Ruhm verbreitete sich aber auch international. In den USA wurde er 1904 zum Mitglied der American Academy of Arts and Sciences gewählt.

Felix Klein war ein schwieriger Charakter mit ausgeprägtem Ehrgeiz und Machtinstinkt, dem man aber zugutehalten musste, dass er eine Schwäche für andere schwierige Charaktere hatte und eine hohe Streitkultur pflegte. Max Born, Doktorand bei Klein und später Mitschöpfer der Quantenmechanik, nannte seinen Lehrer ganz ohne Augenzwinkern den »Großen Felix«.40 Seine Neugierde auf Menschen und seine Offenheit für frische Bekanntschaften war für das Fach so ungewöhnlich groß, dass man ihn bei den strengen, pünktlichen und nicht mehr jungen Kollegen in Berlin für unseriös hielt. Ein »Faiseur« sei er, hieß es in den Protokollen zur Frage der Berufung Kleins in die Hauptstadt, ein »Blender«, der zwar gut vortrug (obwohl »im Feuilletonstil«), aber doch nur »naschte« und seine »Versprechungen nicht halte«, ohne rechte Substanz, ein Mann mit dem ein »Zusammenarbeiten hier unmöglich sei«.41

Der Tradition seit Gauss entsprach es, die Mathematik mit den mathematischen Wissenschaften (ihren praktischen Anwendungsgebieten) zu verschränken, und Klein hatte ein Auge darauf, dass in Göttingen auch bei den Physikern und Astronomen das passende Personal gefunden wurde. So entstand eine ganze Tafelrunde von mathematischen Köpfen der verschiedensten Orientierung, die rasch auf ganz Deutschland ausstrahlte und dem verknöcherten Berlin die Talente abspenstig machte. Dort war um 1890 zwar die größte Ansammlung an großen Namen zu finden (Kronecker, Kummer und Weierstraß), aber es handelte sich dabei um alt gewordene Männer, die ihre schwindende Energie in die Veranstaltung ihrer Werkausgaben investierten. Göttingen hatte dagegen, obwohl die Universität relativ jung war, eine große mathematische Tradition und, wichtiger, die Köpfe der Zukunft vorzuweisen.

Nach und nach gelang es dem »mathematischen Diktator von Göttingen« – auch dies ein Diktum Max Borns –, die größten Talente Deutschlands (und der USA) in seinem Imperium zu versammeln. Und so hatte er auch Hilberts Begabung und seine methodische wie fachliche Breite früh erkannt, sich zu dessen Mentor gemacht und ihn, sobald er gereift war, von Königsberg nach Göttingen gelockt. Und in Kleins Imperium entwickelte sich Hilberts Karriere weiterhin sehr erfreulich.

Hilbert schrieb zunächst mit Minkowski einen Bericht (eigentlich ein Buch) über algebraische Zahlentheorie,42 ein für Laien unzugängliches Thema, welches unter Kennern als besonders abstrakt und tief gilt und Hilbert endgültig in die erste Reihe der deutschen Mathematiker brachte. Für seinen Ruhm und seine Stellung in der Community war der »Zahlbericht« wichtig. Folgenreicher war aber ein kurz danach veröffentlichter Festschriftbeitrag über die Grundlagen der Geometrie,43 der eigentlich ein Reformprogramm für die ganze Mathematik war.

Beinahe jeder Mathematiker findet irgendwann seine Methoden und Themen, zu denen er immer wieder zurückkehrt, das scheint in der menschlichen Natur zu liegen. Manche Historiker verlieren sich in der Alltagsgeschichte und sehen in ihr den Schlüssel zu allem. Es gibt Fußballer, die einen bestimmten Laufweg die Strafraumkante entlang entwickeln, der kaum zu verteidigen ist. Und es gibt Geschäftsleute, die auf jedes Problem mit neuen Schulden reagieren. Die meisten Menschen gehen mit den unterschiedlichsten Problemen auf die immer gleiche Weise um – man kann von Lebenswerkzeugen sprechen, so wie man in anderem Zusammenhang von Lebensthemen sprechen kann.

Auch Hilbert hat einen solchen archimedischen Punkt und er lässt sich erstmals in seinen Grundlagen der Geometrie greifen. Es handelt sich um die axiomatische Methode, die er hier zum ersten Mal deutlich ausbuchstabiert und die von nun an zu einer Art Leitmotiv für seine ganze Arbeit wird. Sie ist die auf den Begriff gebrachte Essenz von Hilberts Lebenswerk.

Im Grunde entdeckt er lediglich eine 2000 Jahre alte Einsicht des berühmten Euklid von Syrakus wieder, die als mathematische Selbstverständlichkeit durchgehen kann: Euklid stellt bestimmte oberste Grundsätze auf, Axiome genannt, deren Wahrheit offensichtlich ist und die damit eigentlich ziemlich langweilig sind. So legt er etwa fest, dass »jede Linie in beide Richtungen unendlich verlängert werden kann« oder dass es »zu jedem gegebenen Punkt und Radius genau einen Kreis gibt«. Dazu kommen noch eine Handvoll Definitionen, was etwa Kongruenz ist oder ein Punkt oder eine Linie. Aus diesen Axiomen und Definitionen lässt sich alles weitere ableiten, all jene Sätze der Euklidischen Geometrie, die wir in der Schule in der 7. Klasse lernen.

Seit der Antike stand dieses Gebäude strahlend und unangetastet als ein Ideal von einfacher Klarheit. Die Methode wollte Hilbert beibehalten, bei der sich aus genau definierten Grundprinzipien die ganze Theorie (in diesem Fall: die Geometrie) systematisch, in endlichen, und auch für einen Kronecker nachvollziehbaren, Schritten entwickeln ließ, als endliches Spiel im unendlichen Universum der Mathematik. Inhaltlich musste sich allerdings einiges ändern. Schon Gauss und einige seiner Zeitgenossen fanden das System zu eng. Und als Hilbert es sich ansah, stellte er fest, dass es nicht nur eng war, sondern auch lückenhaft und anfällig für Widersprüche. Sein Anliegen in der Festschrift war es, an dieser Stelle aufzuräumen und ein System zu finden, in welchem sich die ganze Geometrie lückenlos und widerspruchsfrei ableiten ließ. Im Stil und Geist Euklids sollte am Ende die ganze Mathematik44 auf »ein einfaches und vollständiges System voneinander unabhängiger Axiome« zurückgeführt werden, um die »Tragweite der aus den einzelnen Axiomen zu ziehenden Folgerungen möglichst klar zu Tage« treten zu lassen.45

Also zerlegte er die Geometrie, wie einst schon Euklid, nur gewissenhafter, in ihre grundlegenden Bestandteile. Die Anfangsgründe goss er in saubere Definitionen – und ließ den Rest sich logisch entwickeln. Das war die axiomatische Methode, die zum Dreh- und Angelpunkt von Hilberts Denken wurde, zum Ausgangspunkt eines Denkens in Systemen und Strukturen, das sich keinen Theologievorwurf gefallen lassen musste.

Waren die Anfangsgründe erst einmal genannt, so müsste sich aus ihnen die Wissenschaft wie das Gehäuse einer Schnecke spiralförmig aus einem innersten Punkt konstruieren lassen, in immer größeren (aber endlichen) Windungen, zu einem vollständigen und abgeschlossenen Ganzen. Das Geschäft der Ableitung der mathematischen Sätze war somit wenig mehr als eine automatische Prozedur und könnte, wie später die Pioniere des Computerzeitalters folgerten, auch von einem Rechenapparat durchgeführt werden. Hilberts Traum einer lückenlos geführten Beweiskette für die Mathematik trug als Samen die Idee einer logischen Maschine in sich.

Die mathematische Welt war ernsthaft geschockt, als Hilbert wissen ließ, sie arbeite seit der Antike auf einer ungeklärten Grundlage. Sie hatte sich auf Euklids großen Namen verlassen und sich nie die Mühe gemacht, seine Arbeit im Detail zu durchleuchten. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit, die Hilbert für seinen Versuch erntete, die Geometrie (und damit weite Teile der Mathematik überhaupt) in ein logisch sauberes System zu bringen. Damit war er nun ein in Mathematikerkreisen berühmter Mann.


Hermann Minkowski wurde zur Jahrhundertwende wie Hurwitz Professor, und zwar am Polytechnikum (heute: Eidgenössische Technische Hochschule) in Zürich. Er hatte das frühe Versprechen seiner Genialität eingelöst und sich in der abstraktesten Ecke der Mathematik niedergelassen, dort, wo sich Zahlentheorie und Geometrie trafen.

Die Briefe, die Minkowski in den 1890er Jahren aus Zürich an Hilbert schrieb, handelten von der Mathematik, die beide bewegte, vom Glück, das er in seiner jungen Familie gefunden hatte, und von den frustrierenden Versuchen, seinen begriffsstutzigen Studenten etwas beizubringen. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, wäre seine Hörerschaft in der Vorlesung über Analytische Mechanik nicht ein besonders bunter Haufen gewesen, bestehend unter anderem aus Albert Einstein und dessen Freundin Mileva Marić, dem mit beiden befreundeten Physiker und Sozialisten Friedrich Adler (der 1916 den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Stürgkh erschoss) sowie (vermutlich) Marcel Grossmann, der später wesentliche Teile der Mathematik für die Relativitätstheorie zulieferte. Minkowski sah aber keine Begabungen vor sich: »Die Leute, und auch die tüchtigsten unter ihnen, sind gewohnt […] dass man ihnen alles um den Mund schmiert. Zu jeder ihrer sonstigen Vorlesungen gehören stets Repetitorien und Übungen. Solche soll ich nicht abhalten, da die Leute schon sehr überhäuft sind, und da ich doch nicht immer bloß an der Oberfläche des zu behandelnden Stoffes bleiben kann, ist die Folge, dass ich nur noch ein Drittel feste Zuhörer habe, während die anderen bloß sporadisch auftauchen […] Ich werde in der Popularisierung des Stoffs bis an die äußerst mögliche Grenze gehen müssen; denn auch diejenigen, die mich vielleicht um wissenschaftlicher Leistungen wegen genommen haben, wollen schließlich für ihr Geld auch etwas haben […] Auch die eigentlichen Mathematiker, deren Zahl aber sehr gering ist, sind durch alle Kollegien, die sie sonst hören müssen, so in Anspruch genommen, dass sie nur genießen können, was ihnen zerschnitten und zerlegt nach gewaltsamer Öffnung des Mundes eingetrichtert wird.«46

Die Analytische Mechanik aus dem Munde Minkowskis war die erste und letzte Vorlesung über mathematische Physik, die Einstein als Student in Zürich hörte. Diese schüchtern und oft stotternd gehaltenen Vorträge waren nichts für ihn, auch nicht in der abgespeckten Variante, und so ließ er die feingliedrige mathematische Ausbildung, die Hurwitz und Minkowski in Zürich anboten, liegen wie ein Kind, das auf den Apfel zu Gunsten der Schokolade verzichtet. Sein Interesse galt allein der Physik, den Sachen selbst, nicht ihrer Formulierung – und er meinte in dieser Zeit noch, das eine ließe sich vom anderen trennen. Er ging davon aus, wie er sich kurz vor seinem Tod erinnerte, »dass es für den Physiker genüge, die elementaren mathematischen Begriffe klar erfasst und für die Anwendungen bereit zu haben, und dass der Rest in für den Physiker unfruchtbaren Subtilitäten bestehe – ein Irrtum, den ich erst später mit Bedauern einsah. Die mathematische Begabung war offenbar nicht hinreichend, um mich in den Stand zu setzen, dass Zentrale und Fundamentale vom Peripheren, nicht prinzipiell Wichtigen zu unterscheiden.«47

Es passiert gelegentlich, dass die besten Köpfe einer Generation nicht miteinander reagieren, obwohl sie miteinander über dasselbe Thema reden und dasselbe Interesse haben. Geniale Köpfe sind oft eitel und selbstbezogen und müssen sich immer ganz auf ihr Ding konzentrieren, um nicht die Richtung zu verlieren. Das macht sie manchmal zu schlechten Zuhörern. So war es auch bei Einstein, der viel bei Minkowski hätte lernen können, und bei Minkowski, der nicht realisierte, dass der eigenbrötlerische Einstein über Zusammenhänge brütete, für die er selbst sich auch interessierte. Die beiden sollten freilich noch voneinander hören.

Meine Herren, dies ist keine Badeanstalt

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