Читать книгу Ein tödliches Spinnennetz - George B. Wenzel - Страница 10
In der Nacht hatte ich mir weitere Informationen zusammengesucht und in die begonnene Darstellung integriert. Lohr war ein Mittelständler, der mit anderen Firmen Projekte im Bereich IT durchführte. Dabei koordinierten sie die Zusammenarbeit, suchten Fachfirmen oder Fachleute, um Projekte umzusetzen, und agierten dabei wie Makler oder sie verkauften EDV-Maschinen, die speziell für sie gebaut wurden und die sie unter ihrem eigenen Label vertrieben. In wenigen Fällen verkauften sie an Wiederverkäufer, die weiteren Service erbrachten, die Maschinen mit eigenen beziehungsweise Fremdteilen ergänzten oder zusätzliche Software installierten. Auffällig war, dass sie sehr oft mit zwei Firmen in Österreich und der Schweiz zusammenarbeiteten. Offensichtlich waren die Geschäftsführer von Lohr auch Gesellschafter dieser Firmen. Zufall war es nicht, dass ich das herausfand, obwohl die Gesellschafterinformationen keine Namen beinhalteten, sondern diese nur als GmbHs genannt wurden. Die Gesellschafter selbst waren offensichtlich Schweizer Nationalität. Diese Verbindung herzustellen, gelang mir durch eine Suche in sozialen Netzwerken. Charles Fourner und René Bergler, Geschäftsführer der »ConFi-IT Services«, einer IT-Finanzierungsgesellschaft mit Sitz in Zürich, führten auch die Geschäfte bei Lohr in Berlin.
ОглавлениеIn einem Bericht des »Neuen Züricher Wirtschaftstagblatt« und ebenfalls in den »International Finance News«, London, tauchten die beiden Namen im Zusammenhang mit einem Finanzskandal von vor zwei Jahren auf. Damals wurde groß über einen Firmenzusammenbruch in Großbritannien geschrieben, in den die beiden Manager mit Finanzmanipulationen involviert gewesen sein und dadurch den Konkurs der ConFi-IT Services verursacht haben sollten. Knapp dreihundert Leute hatten damals ihre Jobs verloren und das in einer Stadt, in der es ohnehin kaum Jobs gab. Als Folge des Firmenzusammenbruchs hatten sich zwei Familienväter im Alter von achtundfünfzig und sechzig Jahren das Leben genommen. In der »International Finance News« fand ich einen Hinweis auf eine Lokalzeitung, die berichtete, dass ein dreizehnjähriger Junge seinen Vater im Dach erhängt vorgefunden hatte. In Abschiedsbriefen hatten beide Männer ihre ausweglose Situation beschrieben, denn in der strukturschwachen Region waren Jobs so gut wie kaum zu finden. Sie hatten, wie andere ihrer Kollegen auch, Häuser gebaut, die noch nicht komplett abbezahlt waren. Die finanzielle Situation für diese Familien war deshalb mehr als prekär anzusehen. Auch darüber berichtete die Lokalzeitung und warf dem Management Verantwortungslosigkeit und vorsätzlichen Betrug vor. Einer der Verantwortlichen hatte sich unmittelbar nach Bekanntwerden des Konkurses in seinem Büro erschossen. Einen Abschiedsbrief hinterließ er nicht. Auf seinem Schreibtisch lagen viele Papiere, Notizzettel über Telefonate und Ordner. Offensichtlich hatte er noch in den letzten Stunden versucht, die Firma mit privaten Geldern zu retten. Vergeblich. Auch seine Frau und seine drei kleinen Kinder hatten nun alles verloren, doch das wurde nur nebenbei erwähnt. Da keine Beweise für die Beteiligung von Charles Fourner und René Bergler gefunden werden konnten, erging keine Anklage gegen sie. Der Gesamtschaden belief sich auf mehrere Millionen Pfund. Es gab Gerüchte, dass die beiden Schweizer aus diesem Geschäft dennoch mit einem Millionenbetrag zu ihren Gunsten herausgekommen waren. Aufgrund der fehlenden Beweise war aber keine Staatsanwaltschaft in Deutschland oder der Schweiz bereit gewesen, in diesem Vorgang weiter zu ermitteln.
»Diavolo!«, entfuhr es mir. Ich hatte mal wieder die Zeit vergessen. Weit nach Mitternacht sank ich endlich zu Bett. Vivien schlief seit ein paar Stunden, nachdem sie zweimal vergeblich versucht hatte, mich ins Bett zu holen.
An der Angel
Kurz vor 18 Uhr wartete ich gespannt im Café macchiato & more auf Fritz Maier. Das Wetter war wenig erbaulich und die Luft schwer und nebelfeucht. Selbst in der Stadt war heute die Sicht auf wenige Meter begrenzt. So genoss ich die warme und gemütliche Atmosphäre, die ein Feuer im Kamin verbreitete. Eine freundliche Bedienung brachte meinen bestellten Kaffee. Keine fünf Minuten vergingen, da kam er auf mich zu. Er legte seinen klammen Mantel über die Stuhllehne, sah kurz auf seine Armbanduhr, um dann noch einen prüfenden Blick auf die große Standuhr an der Wand zu werfen. Den fragenden Blick der Bedienung beantwortete er nur mit einem Kopfschütteln. Dann setzte er sich mir gegenüber. Ein kurzer Gruß sowie die Aufforderung, ihm einen Fünf-Minuten-Überblick zu geben. Aha, dachte ich, ein Management Summary. Nachdem ich mit meinen Ausführungen fertig war, sah ich wieder dieses kurze Lächeln in seinem Gesicht.
»Kommen Sie morgen um acht Uhr in mein Büro in der Konrad-Zuse-Straße in Böblingen. Dort besprechen wir alles Weitere.« Er stand auf, nickte kurz und verließ das Café. Ich kam noch nicht mal dazu, den Gruß zu erwidern, da war er schon verschwunden.
Nachdenklich trank ich meine Tasse Kaffee aus. Wer war der Kerl und was wollte er von mir? Einige Augenblicke später wurde ich durch die Bedienung mit der Frage »Möchten Sie noch was?« in meinen Gedanken gestört.
»Nein, danke, ich möchte bezahlen«, entgegnete ich und verließ kurz darauf grübelnd das Café. Warum hatte ich nicht einfach gesagt: kein Interesse!?
An meinem Heimatbahnhof angekommen, hatte ich bereits ein paar Ideen im Kopf, die mir während der Fahrt in der S-Bahn gekommen waren. Die frische Luft auf dem Weg nach Hause tat mir gut. Überraschend begann es ein wenig zu schneien. Ich fror ein bisschen und mir fiel ein, dass ich auch noch Holz für den Kamin kaufen wollte. Zu Hause angekommen, schüttelte ich die paar Schneeflocken vom Mantel und betrat unser Heim. Vivien erzählte ich am Abend, was ich erlebt hatte und dass ich am nächsten Tag die EA aufsuchen würde. Sie nahm es kommentarlos zur Kenntnis und ging kopfschüttelnd zu Bett. Braute sich da ein Gewitter zusammen?
Kurz danach, vor meinem Computer sitzend, suchte ich nach Fritz Maier aus der EA. Leider erfolglos. Neben der Geschäftsführung der EA, die als eine GmbH eingetragen war, gab es keine anderen Angaben. Das Internet nach dem Namen Maier und der passenden Person zu durchkämmen, wäre wie die berühmte Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.
Während des Frühstücks sprachen Vivien und ich nur wenig. Ich rührte die Milch in meiner Kaffeetasse wohl etwas zu lange um, denn Vivien sah mich fragend an. Konsterniert legte ich den Löffel zur Seite. Sie hatte ihre Sicht der Dinge seit dem Vorabend wohl nicht geändert. Wir verließen gleichzeitig das Haus und ich fuhr mit der S-Bahn nach Böblingen. Wenn mir das alles nicht gefiel, könnte ich auf der Stelle umdrehen und mit der nächsten Bahn wieder nach Hause fahren. Dieser Gedanke schoss mir noch mehrfach durch den Kopf.
Konrad-Zuse-Straße, ein unscheinbares Bürohaus mit zwei Schildern am Eingang, die EA und ein Wirtschaftsprüfer. Auf mein Klingeln hin ertönte eine Frauenstimme. »Ja?«
Ich nannte meinen Namen und gab an, einen Termin mit Herrn Maier zu haben. Ein Summer ertönte. Ich drückte die schwere Tür auf und betrat das Haus. Im zweiten Obergeschoss stand bereits eine junge Frau an der Treppe. Sie grüßte und bot mir an, mir meinen Mantel abzunehmen. Ich folgte ihr in einen kleinen Raum, der mit schweren ledernen Sitzmöbeln und einem Glastisch eingerichtet war. Mein Blick fiel aus dem Fenster auf die Konrad-Zuse-Straße, die um diese Zeit von einer nicht endenden Autoschlange durchzogen wurde. Da kommt der ganze Feinstaub her, dachte ich. Von der Straße selbst war allerdings kein Laut zu hören. Die Fenster waren dicht im wahrsten Sinne des Wortes.
»Herr Maier wird gleich zu Ihrer Verfügung stehen«, ertönte wieder die Stimme der Vorzimmerdame. Ich nickte nur. Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür. Fritz Maier stand lächelnd im Türrahmen.
»Einen schönen guten Morgen, Herr Vincente«, begrüßte er mich freundlich. »Seien Sie herzlich willkommen in unseren Räumen. Soll ich Sie ein wenig herumführen?«
Ich willigte ein und folgte ihm durch die Gänge, an Büros vorbei, während er die Aufgaben, die hier erledigt wurden, erklärte. Auf der Tour durch die Flure begegnete uns keine Menschenseele. Nur die Empfangsdame tauchte ab und zu auf. Deshalb fragte ich nach den üblichen Arbeitszeiten. Maier schaute mich fragend an und wollte erfahren, ob ich diesbezüglich irgendwelche Einschränkungen bei einer Anstellung hätte. Ich erklärte, dass ich keine Mitarbeiter sähe und mich fragte, ob die regulären Arbeitszeiten später begännen. Er lachte auf.
»Kommen Sie mit«, forderte er mich auf, ohne meine Frage zu beantworten. Wir betraten ein Büro, in dem die Empfangsdame auf uns wartete. Er bat mich, Platz zu nehmen. »Mögen Sie Ihren Kaffee mit Milch und Zucker oder lieber ein anderes Getränk?«
»Nein, nein, Kaffee und Milch. Besten Dank.«
Die Dame nickte Maier zu und verschwand.
Auf seinem Schreibtisch lag nichts, keine Mappe, kein Papier, kein Stift, einfach nichts. Der Tisch sah aus, als hätte man ihn eben poliert. Maier nahm dahinter Platz und legte seine Hände auf die makellose Oberfläche. Gepflegte Hände, sauber geschnittene Fingernägel, eine schlichte Uhr von einem Hersteller aus Glashütte, wie ich zufällig sehen konnte. Zwei goldfarbene Manschettenknöpfe und einen goldenen Ehering an der rechten Hand. Maier schien zu bemerken, dass ich ihn aufmerksam betrachtete, doch er beließ seine Haltung unverändert. Seine Vorzimmerdame hatte inzwischen den Kaffee und ein paar Kekse für uns gebracht und war, nach einem kurzen Blick zu Maier, wieder still verschwunden. Nach einem Schluck Kaffee, begann er zu reden.
»Ihre Ausarbeitung gestern hat mir sehr gut gefallen«, nach einer Gedankenpause fügte er an: »Allerdings fehlte mir noch etwas.«
Ich schluckte.
»Ich hätte Ihnen das erklären sollen, als ich Ihnen die Aufgabe gestellt habe.«
Er legte eine Pause ein. So fragte ich, was ihm denn fehlte.
»Nun ja«, erwiderte er gedehnt. »In Ihrer Ausarbeitung selbst nichts. Doch ich vermisste etwas Abschließendes, einen Vorschlag sozusagen.«
Mir dämmerte es. Er fuhr fort.
»Ich erwartete einen Vorschlag. Was man beispielsweise tun könnte, um diese Geschichte aufzuklären. Welche Strategie möglich oder nötig wäre, um einen vorsätzlichen Betrug der beteiligten Personen und Firmen nachzuweisen. Sie sind aus meiner Sicht auf halbem Weg stehen geblieben.«
Mir schoss das Blut in den Kopf. Ich unterbrach ihn und wiederholte, welchen Auftrag er mir erteilt hatte. Dieser habe keinen weitergehenden Lösungsvorschlag beinhaltet, versuchte ich mich zu verteidigen.
»Sie haben recht«, bestätigte Maier, »doch Mitarbeiter, die für uns arbeiten, müssen über den Tellerrand hinausdenken. Selbstständig und proaktiv, verstehen Sie, was ich meine?« Dabei sah er mich lächelnd, aber auch leicht provozierend an.
Die Bemerkung, die mir jetzt auf der Zunge lag, schluckte ich vorsichtshalber hinunter. Vermutlich hatte ich noch immer einen hochroten Kopf und ärgerte mich über mich selbst. Ich dachte, dass es das nun wohl war. Doch stattdessen bat er mich, ihm zu folgen. Wir betraten ein Nachbarzimmer. Er zeigte auf eine Regalwand, vollgestellt mit Ordnern, alle mit dem Kennzeichen »NC« versehen. Er lächelte und erklärte, dass dies nicht North Carolina bedeute, sondern »Not Closed«.
»Auch wir kommen nicht um Englisch herum«, erklärte er etwas belustigt, nachdem er mein fragendes Gesicht sah. »Wir suchen eine fähige Person, die uns helfen soll, diese Vorgänge einer Klärung zuzuführen.«
»Mein Gott!«, entfuhr es mir, »das sind ja Hunderte Vorgänge, das dauert sicher Jahre!«
Wieder lachte er.
»Nein, nicht jeder Ordner ist ein separater Vorgang. Sehen Sie …«, er zeigte auf die Wand, »da stehen etwa ein Dutzend Ordner zu dem einen Fall.« Dann fragte er unvermittelt, ob ich mir das zutraue, so eine Aufgabe zu übernehmen und sie in absehbarer Zeit einer Lösung zuzuführen. Wieder schluckte ich angesichts der Ordnerzahl. Dies schien mir eine Mammutaufgabe und selbst für einen Fachmann keinesfalls ein problemloser Job zu sein, wie in der Annonce angedeutet. Doch ich schwieg.
»Was meinen Sie, schaffen Sie das in zwölf Monaten? So viel Zeit würden Sie bekommen. Darüber hinaus unterstützt sie ein junger Mitarbeiter aus unserem Team. Sie beide erhalten ein Büro in diesem Haus. Über Ihr Gehalt müssen wir allerdings noch reden. Wäre das eine Aufgabe für Sie?« Wieder lächelte er mich an.
Was zum Teufel!
Ich hatte tatsächlich zugesagt. Warum zum Teufel hatte ich das getan? Ich weiß es nicht. Die Art von Maier war umgarnend. Er hatte mein Innerstes schon früh erkannt. Und ich, ich blendete aus, dass ich ab sofort die Entscheidung über mich selbst treffen und mehr Zeit mit Vivien verbringen wollte. Wir sprachen über das Honorar. Es war nicht unvergleichlich, aber deutlich besser als im vorhergehenden Job. Ciao Freiheit. Willkommen im Job. Der Ausstieg war gerade mal ein paar Tage her. Nun lag der erneute Einstieg mit meiner Unterschrift, in blauer Tinte auf weißem Papier, auf dem Tisch. Der Vertrag mit der EA für die nächsten zwölf Monate. Doch verdammt, ich fühlte mich wohl dabei. Noch!