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Winston träumte von seiner Mutter.

Er musste, überlegte er, zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter verschwand. Sie war eine große, stattliche, eher schweigsame Frau, die sich bedächtig bewegte und wundervolles blondes Haar hatte. Seinen Vater hatte er undeutlicher in Erinnerung, als dunkelhaarigen, dünnen Mann, der stets gepflegte dunkle Kleidung trug (Winston erinnerte sich besonders an die sehr dünnen Schuhsohlen seines Vaters) und eine Brille. Die beiden waren offenbar einer der ersten großen Säuberungswellen der 50er Jahre zum Opfer gefallen.

In diesem Moment saß seine Mutter an einer Stelle tief unter ihm, seine kleine Schwester in den Armen. Er hatte seine Schwester nur als kleines, schwächliches Baby in Erinnerung, das immer still war und große, wache Augen hatte. Beide schauten zu ihm hinauf. Sie hockten an irgendeinem unterirdischen Ort – auf dem Grund eines Brunnens womöglich oder in einem sehr tiefen Grab –, aber dieser Ort, der bereits tief unter ihm lag, bewegte sich immer tiefer hinab. Sie waren im Salon eines sinkenden Schiffes und blickten durch die dunkler werdenden Wasser zu ihm hinauf. Noch gab es Luft in dem Salon, sie konnten ihn immer noch sehen und er sie, doch die ganze Zeit sanken sie tiefer und tiefer hinab in die grünlichen Wasser, die sie jeden Moment seinem Blickfeld entziehen würden. Er war im Licht und an der Luft, während sie hinab in den Tod gezogen wurden, und sie waren dort unten, eben weil er hier oben war. Er wusste es, und sie wussten es auch, und er konnte dieses Wissen in ihren Gesichtern lesen. Da war kein Vorwurf, weder in ihren Gesichtern noch in ihren Herzen, nur die Gewissheit, dass sie sterben mussten, damit er am Leben bliebe, und dass dies der unvermeidliche Lauf der Dinge war.

Er konnte sich nicht erinnern, was passiert war, aber im Traum wusste er, dass das Leben seiner Mutter und das seiner Schwester in irgendeiner Weise für das seine geopfert worden waren. Es war einer jener Träume, die, während die charakteristischen Traumszenerien erhalten bleiben, eine Fortführung der eigenen bewussten Gedankenwelt darstellen und in denen einem die Tatsachen und Vorstellungen bewusst werden, die einem auch nach dem Erwachen noch neu und wertvoll erscheinen. Was Winston jetzt plötzlich auffiel, war, dass der Tod seiner Mutter vor fast dreißig Jahren auf eine Weise tragisch und traurig gewesen war, die so nicht mehr möglich war. Das Tragische, so begriff er, gehörte in eine längst vergangene Zeit, in eine Zeit, als es noch Privatsphäre, Liebe und Freundschaft gab und die Mitglieder einer Familie füreinander da waren, ohne nach einem Grund fragen zu müssen. Die Erinnerung an seine Mutter brach ihm das Herz, denn als sie starb, liebte sie ihn, er aber war zu jung und zu selbstsüchtig gewesen, um diese Liebe zu erwidern, und sie hatte sich irgendwie – er konnte sich nicht mehr erinnern, wie – einer starren Vorstellung von Loyalität geopfert, die privat und unabänderlich war. So etwas, das sah er nun, konnte heute nicht mehr passieren. Heute gab es Furcht, Hass und Schmerz, aber keine Erhabenheit der Gefühle mehr, keinen tief empfundenen Kummer. All dies glaubte er in den großen Augen seiner Mutter und seiner Schwester wahrzunehmen, die durch das grünliche Wasser zu ihm hinaufblickten, Hunderte Faden unter ihm und immer noch sinkend.

Plötzlich stand er auf kurzem, federndem Rasen, an einem Sommerabend, während die schräg einfallenden Strahlen der Sonne den Boden vergoldeten. Die Landschaft, die er um sich herum wahrnahm, tauchte immer wieder in seinen Träumen auf, so dass er sich nie richtig sicher war, ob er sie in der wirklichen Welt gesehen hatte oder nicht. In der wachen Welt seiner Vorstellungen nannte er diese Landschaft das Goldene Land. Es war eine alte, von Kaninchen bewohnte Wiese, mit einem quer verlaufenden Fußpfad und hier und da einem Maulwurfshügel. In der ungepflegten Hecke auf der gegenüberliegenden Seite der Weide bewegten sich die Zweige der Ulmen sanft in der leichten Brise, und ihre Blätter wogten wie die dichte Fülle von Frauenhaar. Irgendwo in der Nähe, aber nicht in Sichtweite, plätscherte ein klarer, träge fließender Bachlauf, wo sich Hasel in den Buchten unter den Weiden tummelten.

Die junge Frau mit dem dunklen Haar kam quer über die Wiese auf ihn zu. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung riss sie sich die Kleider vom Leib und warf sie verächtlich beiseite. Ihr Körper war weiß und glatt, weckte aber kein Verlangen in ihm, ja er schaute nicht einmal richtig hin. Was ihn in diesem Moment übermannte, war Bewunderung für die Geste, mit der sie ihre Kleider von sich geworfen hatte. Mit dieser Anmut und Unbekümmertheit schien sie eine ganze Kultur abzuschütteln, ein ganzes Gedankengebäude, als könnten der Große Bruder und die Partei und die Gedankenpolizei mit einer einzigen ausladenden Armbewegung ins Nichts gefegt werden. Auch dies war eine Geste, die einer längst vergangenen Zeit angehörte. Winston wachte mit dem Wort »Shakespeare« auf den Lippen auf.

Aus dem Telemonitor drang ein ohrenbetäubendes Pfeifen, das eine halbe Minute auf derselben Tonhöhe anhielt. Es war Punkt sieben Uhr fünfzehn, Zeit zum Aufstehen für alle Büroangestellten. Winston quälte sich aus dem Bett – nackt, denn als Mitglied der Äußeren Partei erhielt man nur dreitausend Kleidermarken pro Jahr, und ein Schlafanzug kostete sechshundert – und schnappte sich ein schmuddeliges Unterhemd und eine Shorts, die über einem Stuhl lagen. In drei Minuten begann der Frühsport. Im nächsten Moment wurde er von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, der ihn fast immer nach dem Aufwachen überfiel. Das zog ihm so stark die Luft aus den Lungen, dass er erst dann wieder zu Atem kam, wenn er sich flach auf den Rücken legte und mehrmals tief nach Luft rang. Seine Adern waren von der Anstrengung des Hustens geschwollen, das Krampfadergeschwür begann zu jucken.

»Gruppe Dreißig bis Vierzig!«, rief eine durchdringende Frauenstimme. »Gruppe Dreißig bis Vierzig! Bitte in Position. Die Dreißig- bis Vierzigjährigen!«

Winston stand vor dem Telemonitor stramm, auf dem inzwischen das Bild einer jüngeren Frau zu sehen war, die hager, aber muskulös aussah und Trikot und Sportschuhe trug.

»Arme beugen und strecken!«, stieß sie knapp hervor. »In meinem Takt. Eins, zwei, drei, vier! Kommt schon, Genossen, etwas schwungvoller! Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! …«

Der Schmerz des Hustenanfalls hatte aus Winstons Geist noch nicht ganz die Eindrücke vertrieben, die von dem Traum herrührten, und die rhythmischen Bewegungen der Leibesübung riefen diese Eindrücke nun erneut wach. Während er seine Arme mechanisch vor- und zurückschnellen ließ, eine Miene grimmigen Vergnügens zur Schau tragend, die beim Frühsport für angemessen erachtet wurde, versuchte er mühsam, sich in Gedanken in die undeutliche Zeit seiner frühen Kindheit zurückzuversetzen. Das war außerordentlich schwierig. In der Zeitspanne vor den späten 50er Jahren verblasste alles. Hatte man keine Aufzeichnungen zur Hand, die man zurate ziehen konnte, verloren sogar die Umrisse des eigenen Lebens ihre scharfen Konturen. Man erinnerte sich an große Ereignisse, die vermutlich gar nicht stattgefunden hatten, man erinnerte sich an Details einiger Vorfälle, ohne deren Atmosphäre greifen zu können, und dann waren da die langen, leeren Zeitabschnitte, denen man nichts zuordnen konnte. Alles war damals anders gewesen. Selbst die Namen von Ländern und deren Formen auf der Landkarte waren anders gewesen. Landefeld Eins zum Beispiel war früher nicht so bezeichnet worden: Es hatte England oder Großbritannien geheißen, London hingegen, da war er sich ziemlich sicher, hatte immer schon London geheißen.

Winston konnte sich nicht genau an eine Zeit erinnern, in der sich sein Land nicht im Krieg befunden hatte, aber offenbar hatte es während seiner Kindheit eine ziemlich lange Phase des Friedens gegeben, denn eine seiner frühesten Erinnerungen war ein Luftangriff, der alle und jeden zu überraschen schien. Vielleicht war es die Zeit, als die Atombombe auf Colchester gefallen war. An den Luftangriff selbst konnte er sich nicht mehr erinnern, er erinnerte sich aber an die Hand seines Vaters, die seine fest umschloss, als sie nach unten hasteten, immer weiter und weiter nach unten an einen Ort tief unter der Erde, Runde um Runde auf einer Wendeltreppe, die unter seinen Schritten metallisch klang und ihm schließlich die Beine so schwer machte, dass er zu jammern anfing und sie stehenbleiben und ausruhen mussten. Seine Mutter, in ihrer trägen, träumerischen Art, hing weit hinter ihnen zurück. Sie trug seine kleine Schwester – vielleicht hatte sie aber auch nur einen Stapel Decken auf dem Arm: Er war sich nicht sicher, ob seine Schwester damals schon geboren war. Schlussendlich gelangten sie an einen lauten, überfüllten Ort, der sich als eine U-Bahn-Station erwies.

Überall auf dem mit Steinplatten ausgelegten Boden kauerten Menschen, andere Leute hockten dicht gedrängt auf eisernen Stockbetten, eins über dem anderen. Winston, seine Mutter und sein Vater suchten sich einen Platz auf dem Boden, und neben ihnen saßen ein alter Mann und eine alte Frau nebeneinander auf einem Stockbett. Der alte Mann trug einen ordentlichen dunklen Anzug und hatte sich die schwarze Stoffmütze vom schlohweißen Haar geschoben: sein Gesicht war scharlachrot, seine Augen waren blau und voller Tränen. Er stank nach Gin. Seine Haut schien Gin statt Schweiß auszudünsten, und man hätte sich vorstellen können, dass die Tränen, die aus seinen Augen quollen, reiner Gin waren. Aber obwohl er leicht betrunken war, litt er auch an einem Kummer, der echt und unerträglich war. In seiner kindlichen Art begriff Winston, dass sich soeben etwas Furchtbares ereignet hatte, etwas, das jenseits aller Vergebung lag und nicht wiedergutgemacht werden konnte. Er schien auch zu wissen, was das war. Jemand, den der alte Mann liebte, vielleicht eine kleine Enkeltochter, war getötet worden. Alle paar Augenblicke wiederholte der alte Mann:

»Wir hätt’n denen nich trauen soll’n. Hab ich’s nich immer gesagt, Mutter? Das kommt davon, wenn man denen traut. Hab ich ja immer gesagt. Wir hätt’n den Halunken einfach nicht trau’n soll’n.«

Aber welchen Halunken sie nicht hätten trauen dürfen, daran konnte sich Winston nicht mehr erinnern.

Etwa seit jener Zeit hatte es praktisch dauernd Krieg gegeben, obwohl es sich strenggenommen nicht immer um denselben Krieg gehandelt hatte. In seiner Kindheit war es mehrere Monate lang in London selbst zu wirren Straßenkämpfen gekommen, von denen ihm einige noch lebhaft vor Augen standen. Aber dem historischen Verlauf der ganzen Epoche nachzuspüren und festzustellen, wer wann gegen wen gekämpft hatte, wäre absolut unmöglich gewesen, da weder ein schriftlicher Beleg noch eine mündliche Überlieferung je eine andere Konstellation erwähnt hätte als die gegenwärtig geltende. Im Augenblick zum Beispiel, im Jahr 1984 (wenn es wirklich 1984 war), befand sich Ozeanien im Krieg mit Eurasien und war mit Ostasien verbündet. In keiner öffentlichen oder privaten Äußerung wurde je eingeräumt, dass die drei Mächte irgendwann einmal anders zueinandergestanden hätten. Tatsächlich jedoch, und das wusste Winston genau, war es gerade einmal vier Jahre her, dass Ozeanien Krieg gegen Ostasien geführt hatte und ein Bündnis mit Eurasien eingegangen war. Doch das war ein geheimes Wissen, das er auch nur deshalb besaß, weil sein Erinnerungsvermögen keiner ausreichenden Kontrolle unterlag. Offiziell hatte dieser Wechsel der Bündnispartner nie stattgefunden. Ozeanien befand sich im Krieg mit Eurasien: Deshalb hatte sich Ozeanien immer schon mit Eurasien im Krieg befunden. Der gegenwärtige Feind stand immer für das absolut Böse, und daraus folgte, dass mit diesem Feind jede vergangene oder zukünftige Übereinkunft undenkbar war.

Das Beängstigende an der Sache war, überlegte er zum zehntausendsten Mal, während er seine Schultern schmerzhaft zurückzog (mit den Händen auf den Hüften versetzte er den Körper von der Taille aufwärts in kreisende Bewegungen, eine Übung, die angeblich gut für die Rückenmuskulatur sein sollte) – das Beängstigende daran war, dass all das wahr sein könnte. Wenn die Partei in die Vergangenheit eingreifen und von diesem oder jenem Ereignis behaupten konnte, es habe nie stattgefunden – war das dann nicht schrecklicher als Folter und Tod?

Die Partei sagte, Ozeanien sei nie ein Bündnis mit Eurasien eingegangen. Er, Winston Smith, wusste zwar, dass Ozeanien vor gerade einmal vier Jahren ein Bündnis mit Eurasien eingegangen war. Aber wo gab es dieses Wissen? Nur in seinem eigenen Bewusstsein, das gewiss bald ausgelöscht werden würde. Und wenn alle anderen die Lüge akzeptierten, die die Partei verbreitete – wenn sämtliche Aufzeichnungen dieselbe Geschichte erzählten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde zur Wahrheit. »Wer die Vergangenheit kontrolliert«, lautete die Parteiparole, »kontrolliert die Zukunft – wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.« Und doch war die Vergangenheit, die ihrer Natur nach wandelbar war, nie verändert worden. Was immer heute wahr war, blieb wahr bis in alle Ewigkeit. So einfach war das. Man brauchte lediglich eine nicht abreißende Serie von Siegen über das eigene Erinnerungsvermögen. »Realitätskontrolle« nannten sie es; auf Neusprech: »Doppeldenk.«

»Rührt euch!«, bellte die Übungsleiterin ein wenig freundlicher.

Winston ließ die Arme sinken und füllte seine Lungen langsam wieder mit Luft. Sein Geist glitt in die labyrinthisch verzweigte Welt des Doppeldenk. Zu wissen und nicht zu wissen, sich der absoluten Wahrhaftigkeit bewusst zu sein, während man sorgsam ausgeklügelte Lügen erzählt, gleichzeitig zwei Ansichten aufrechtzuerhalten, die einander ausschließen, wissend, dass sie einander widersprechen, und trotzdem an beide zu glauben; Logik gegen Logik auszuspielen, das Moralische zurückzuweisen, es aber gleichzeitig für sich in Anspruch zu nehmen; zu glauben, die Demokratie sei unmöglich, die Partei jedoch die Hüterin der Demokratie; zu vergessen, was vergessen werden sollte, um es sich dann wieder ins Gedächtnis zu rufen, wenn es benötigt wurde, und es dann prompt wieder zu vergessen – und vor allem, diesen Prozessablauf auf den Prozess selbst anzuwenden. Das war der Höhepunkt der Raffinesse: bewusst die Unbewusstheit herbeizuführen, um sich dann wiederum des gerade vollzogenen Aktes der Hypnose nicht mehr bewusst zu sein. Allein den Begriff »Doppeldenk« zu verstehen, bezog die Anwendung des Doppeldenk mit ein.

Inzwischen hatte die Übungsleiterin sie wieder zum Strammstehen aufgefordert. »Und jetzt wollen wir sehen, wer von uns seine Zehen berühren kann!«, sagte sie enthusiastisch. »Bitte aus der Hüfte heraus, Genossen. Eins-zwei! Eins-zwei! …«

Winston hasste diese Übung, die ihm einen stechenden Schmerz von den Fersen bis hinauf zu den Pobacken sandte und oft dazu führte, dass er wieder einen Hustenanfall bekam. Seinem Nachsinnen kam das halbwegs angenehme Gefühl abhanden. Die Vergangenheit, so überlegte er, war nicht einfach verändert, sondern schlichtweg zerstört worden. Denn wie sollte man die offensichtlichste Tatsache beweisen, wenn außerhalb der eigenen Erinnerung keine Aufzeichnungen existierten? Er versuchte sich zu erinnern, in welchem Jahr er zum ersten Mal vom Großen Bruder gehört hatte. Er glaubte, es musste irgendwann in den 60er Jahren gewesen sein, aber es war nicht möglich, sich festzulegen. In der Geschichtsschreibung der Partei fungierte der Große Bruder natürlich als Führer und Hüter der Revolution von ihren Anfängen an. Nach und nach waren seine Großtaten zeitlich immer weiter zurückdatiert worden, bis sie in die sagenumwobene Epoche der 40er und 30er Jahre reichten, in denen noch die Kapitalisten mit ihren seltsam zylindrischen Hüten in großen glänzenden Automobilen oder Pferdewagen mit seitlicher Verglasung durch die Straßen Londons gefahren waren. Man konnte nicht wissen, wie viel an dieser Legende der Wahrheit entsprach und wie viel dazu erfunden wurde. Winston konnte sich nicht einmal erinnern, wann die Partei selbst erstmals in Erscheinung getreten war. Er glaubte nicht, den Begriff Engsoz jemals vor dem Jahr 1960 gehört zu haben, aber womöglich war er in seiner Altsprechform – nämlich als »Englischer Sozialismus« – bereits früher geläufig gewesen. Alles verschwamm im Nebel. Manchmal konnte man zwar eine klare Lüge benennen. So stimmte es zum Beispiel nicht, wie in den Geschichtsbüchern der Partei behauptet wurde, dass die Partei Flugzeuge erfunden hatte. Von frühester Kindheit konnte er sich an Flugzeuge erinnern. Aber man konnte nichts beweisen. Nie gab es irgendwelche Beweise. Nur einmal in seinem ganzen Leben hatte er einen unwiderlegbaren dokumentarischen Beweis für die Verfälschung einer historischen Tatsache in Händen gehalten. Und bei dieser Gelegenheit –

»Smith!«, kreischte die bissige Stimme aus dem Telemonitor. »6079 Smith W.! Ja, Sie! Tiefer bücken, bitte! Das können Sie doch besser! Sie bemühen sich nicht richtig. Tiefer, bitte. So ist es schon besser, Genosse. Rühren, die ganze Einheit, und alle herschauen.«

Heißer Schweiß brach Winston plötzlich aus allen Poren. Seine Miene blieb vollkommen undurchdringlich. Nur keine Bestürzung zeigen! Nur keine Abneigung erkennen lassen! Ein einziges Zucken der Augen konnte einen verraten. Er stand da und sah zu, während die Übungsleiterin die Arme über den Kopf hob und sich dann – man konnte nicht gerade sagen anmutig, aber mit bemerkenswerter Beweglichkeit und Effizienz – nach vorn beugte und mit den Fingerspitzen unter ihre Zehen fasste.

»So, Genossen! So möchte ich es bei euch sehen. Schaut noch einmal her. Ich bin neununddreißig und habe vier Kinder. Aufpassen jetzt.« Sie beugte sich wieder nach vorn. »Seht ihr, meine Knie sind nicht gebeugt. Das schafft ihr auch alle, wenn ihr nur wollt«, fügte sie hinzu, als sie sich wieder aufrichtete. »Jeder unter fünfundvierzig ist durchaus in der Lage, seine Zehen zu berühren. Wir haben nicht alle das Privileg, an vorderster Front kämpfen zu dürfen, dafür können wir uns zumindest alle fit halten. Denkt an unsere Jungs an der Malabar-Front! Und an die Seeleute auf den Schwimmenden Festungen! Überlegt mal, was die aushalten müssen. Jetzt probiert es noch einmal. Schon besser, Genosse, das sieht schon viel besser aus«, fügte sie aufmunternd hinzu, als es Winston mit einer gewaltigen Abwärtsbewegung zum ersten Mal seit Jahren gelang, die Zehen zu berühren, die Knie durchgedrückt.

1984

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