Читать книгу 1984 - George Orwell - Страница 8
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ОглавлениеIn der niedrigen Kantine, tief unter der Erde, bewegte sich die Schlange zur Mittagsstunde nur langsam vorwärts. Im Raum war es bereits sehr voll, und es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Aus dem Lüftungsgitter an der Ausgabetheke wallten Schwaden des Eintopfgerichts mit einem säuerlich-metallischen Geruch herüber, der die Ausdünstungen des Victory-Gins nicht ganz überdeckte. Am anderen Ende des Raums befand sich eine kleine Bar, eigentlich nicht mehr als eine Nische in der Wand, an der man einen großen Schluck Gin für zehn Cent kaufen konnte.
»Genau dich hab ich gesucht«, sagte jemand in Winstons Rücken.
Winston drehte sich um. Es war sein Freund Syme, der in der Forschungsabteilung arbeitete. »Freund« war vielleicht nicht die richtige Bezeichnung. Heutzutage hatte man keine Freunde mehr, man hatte Genossen: Es gab aber einige Genossen, deren Gesellschaft angenehmer war als die anderer. Syme war Philologe, ein Spezialist für Neusprech. Tatsächlich gehörte er zu dem riesigen Team von Experten, die im Augenblick damit beschäftigt waren, die elfte Auflage des Neusprechwörterbuchs zusammenzustellen. Er war ein kleiner Mann, kleiner als Winston, hatte dunkles Haar und große, hervortretende Augen, die traurig und spöttisch zugleich wirkten und einen genau zu mustern schienen, wenn er sich mit einem unterhielt.
»Ich wollte dich fragen, ob du noch ein paar Rasierklingen hast«, sagte er.
»Keine einzige!«, sagte Winston mit schuldbewusster Hast. »Ich habe überall versucht, welche zu bekommen. Es gibt einfach keine mehr.«
Dauernd wurde man von Leuten nach Rasierklingen gefragt. In Wahrheit hatte er noch zwei unbenutzte, die er zurückhielt. Seit Monaten waren sie Mangelware. Ständig gab es irgendwelche notwendigen Artikel, die die Parteiläden nicht liefern konnten. Manchmal waren es Knöpfe, manchmal Stopfwolle, dann wiederum Schnürsenkel; im Augenblick waren es Rasierklingen. Wenn überhaupt, kam man nur an welche heran, wenn man sich mehr oder weniger heimlich auf dem »freien« Markt etwas zusammenschnorrte.
»Ich benutze dieselbe Klinge seit sechs Wochen«, fügte er verlogen hinzu.
Die Schlange bewegte sich wieder ein Stück weiter vorwärts. Als sie zum Stehen kamen, drehte Winston sich wieder zu Syme um. Beide nahmen sich ein schmieriges Metalltablett von einem Stapel am Rande der Theke. »Hast du gestern zugeschaut, wie die Gefangenen gehängt wurden?«, wollte Syme wissen.
»Ich habe gearbeitet«, sagte Winston gleichgültig. »Ich werde es wohl im Kino sehen, denke ich.«
»Ein ziemlich ungenügender Ersatz«, sagte Syme.
Sein spöttischer Blick glitt über Winstons Gesicht. »Ich weiß, wer du bist«, schienen diese Augen ihm zu sagen, »ich durchschaue dich. Ich weiß genau, warum du dir nicht angesehen hast, wie die Gefangenen gehängt wurden.« Auf intellektuelle Weise war Syme boshaft linientreu. Mit unerträglich genießerischer Befriedigung konnte er von Hubschrauberangriffen auf feindliche Siedlungen, von Prozessen und Geständnissen von Gedankenverbrechern, von den Hinrichtungen in den Kellergewölben des Ministeriums für Liebe erzählen. Wenn man sich mit Syme auf ein Gespräch einlassen wollte, musste man ihn von solchen Themen abbringen und ihn, falls möglich, in die technischen Aspekte des Neusprech verwickeln, da er auf diesem Gebiet ein großes Wissen besaß und Interessantes wusste. Winston drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um dem forschenden Blick dieser großen, dunklen Augen zu entgehen.
»War gar nicht schlecht, das Hängen«, sagte Syme und schwelgte in Erinnerungen. »Ich finde, es verdirbt die Sache, wenn sie ihnen die Füße zusammenbinden. Ich mag es, wenn sie zappeln. Und vor allem am Ende, wenn die Zunge rausguckt, blau – so richtig leuchtendblau. Das gefällt mir immer ganz besonders.«
»Nächster, bitte!«, rief die Prole mit der weißen Schürze und der Schöpfkelle.
Winston und Syme schoben ihre Tabletts unter dem Gitter durch. Auf jedes wurde schnell die vorgeschriebene Mahlzeit ausgegeben – eine metallene Schale mit einem rötlich-grauen Eintopf, dazu ein Kanten Brot, ein gewürfeltes Stück Käse, ein Becher mit Victory-Kaffee ohne Milch und eine Tablette Süßstoff.
»Dort drüben ist ein Tisch frei, unter diesem Telemonitor«, sagte Syme. »Nehmen wir auf dem Weg noch einen Gin mit.«
Der Gin wurde in henkellosen Porzellanbechern ausgegeben. Sie bahnten sich einen Weg durch den vollen Saal und stellten Geschirr und Besteck auf die metallene Tischplatte, auf der jemand an einer Ecke einen Klecks Eintopf hinterlassen hatte, eine klebrige Flüssigkeit, die auf den ersten Blick wie Erbrochenes aussah. Winston nahm seinen Becher Gin, hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln und kippte das ölig schmeckende Zeug runter. Als er die Tränen fortgeblinzelt hatte, spürte er mit einem Mal, dass er hungrig war. Löffelweise schlang er den Eintopf hinunter, in dessen Brei Würfel aus schwammartigem, rötlichem Zeug trieben, die vermutlich aus Formfleisch bestanden. Keiner der beiden sagte etwas, bis sie ihre Schalen geleert hatten. Am Tisch linker Hand von Winston, ein Stück weit hinter seinem Rücken, redete jemand schnell und ununterbrochen, ein hastiges Geplapper, fast wie das Quaken einer Ente, das den allgemeinen Lärm im Saal durchdrang.
»Wie geht es mit dem Wörterbuch voran?«, fragte Winston, der die Stimme ein wenig erhob, um gegen den Lärm anzukommen.
»Nur langsam«, sagte Syme. »Ich bin gerade bei den Adjektiven. Das ist faszinierend.«
Seine Miene hatte sich sogleich aufgehellt, als vom Neusprech die Rede war. Er schob seine Schale beiseite, nahm sein Stück Brot in die eine und den Käse in die andere zierliche Hand und beugte sich über den Tisch, um normal sprechen zu können, ohne schreien zu müssen.
»Die elfte Auflage wird die endgültige Ausgabe sein«, sagte er. »Wir bringen die Sprache in ihre letztgültige Form – die Form, die sie beibehalten wird, wenn keiner mehr irgendetwas anderes spricht. Wenn wir damit fertig sind, werden Leute wie du sie ganz von vorn lernen müssen. Ich schätze, du denkst, dass unsere Hauptaufgabe darin besteht, neue Wörter zu erfinden. Weit gefehlt! Wir vernichten Wörter – massenhaft, zu Hunderten, jeden Tag. Wir stutzen die Sprache auf ein Mindestmaß zurecht. Die elfte Auflage wird kein einziges Wort enthalten, das vor dem Jahr 2050 obsolet sein wird.«
Er biss hungrig in sein Brot und schluckte einige Male, ehe er weitersprach, mit der Leidenschaft eines Pedanten. Sein schmales, eher dunkles Gesicht war lebhaft geworden, seine Augen hatten den spöttischen Ausdruck verloren, sein Blick war nun beinahe verträumt.
»Das ist wundervoll, die Vernichtung von Wörtern. Den meisten Schwund gibt es natürlich bei den Verben und Adjektiven, aber es gibt Hunderte von Substantiven, die man auch gleich mit entsorgen kann. Es geht mir nicht nur um die Synonyme; da wären auch die Antonyme. Denn welche Berechtigung hat schließlich ein Wort, das einfach nur das Gegenteil eines anderen Wortes ist? Ein Wort beinhaltet ja sein Gegenteil. Nehmen wir zum Beispiel ›gut‹. Wenn man ein Wort wie ›gut‹ hat, braucht man dann noch ein Wort wie ›schlecht‹? ›Ungut‹ tut es genauso gut – besser sogar, weil es das genaue Gegenteil ist, was man vom anderen nicht sagen kann. Oder ein anderes Beispiel: Möchte man eine kraftvollere Version von ›gut‹, was bringt es dann, eine ganze Reihe vager, nutzloser Wörter zu haben wie ›ausgezeichnet‹ und ›glänzend‹ und so weiter? ›Plusgut‹ deckt das Bedeutungsspektrum ab; oder ›doppelplusgut‹, sofern man etwas noch Kraftvolleres haben möchte. Natürlich benutzen wir diese Formen längst, aber in der letztgültigen Version von Neusprech wird es nichts anderes mehr geben. Letzten Endes wird die gesamte Begrifflichkeit von Gut und Schlecht von nur sechs Wörtern abgedeckt sein – in Wirklichkeit von nur einem Wort. Siehst du nicht, wie herrlich das ist, Winston? Ursprünglich war es die Idee des G. B.«, fügte er nachträglich hinzu.
Eine Art schale Begeisterung stahl sich über Winstons Züge bei der Erwähnung des Großen Bruders. Trotzdem entdeckte Syme sofort einen gewissen Mangel an Enthusiasmus.
»Du kannst dich einfach nicht richtig für Neusprech begeistern, Winston«, sagte er fast traurig. »Selbst wenn du es schreibst, denkst du noch in den Kategorien des Altsprech. Ich habe ein paar dieser Beiträge gelesen, die du gelegentlich für die Times schreibst. Die sind nicht schlecht, aber es sind bloß Übertragungen. In deinem Herzen hältst du dich lieber ans Altsprech, mit all seiner Ungenauigkeit und seinen nutzlosen Bedeutungsnuancen. Du erfasst einfach nicht die Schönheit, die in der Vernichtung von Wörtern liegt. Wusstest du, dass Neusprech die einzige Sprache auf der Welt ist, deren Wortschatz jedes Jahr kleiner wird?«
Das wusste Winston natürlich. Er lächelte, mitfühlend, wie er hoffte, und traute sich nicht, selbst das Wort zu ergreifen. Syme biss ein weiteres Stück von dem dunklen Brot ab, kaute kurz, und fuhr fort:
»Siehst du denn nicht, dass Neusprech kein anderes Ziel verfolgt, als die Reichweite des Denkens einzuschränken? Am Ende machen wir Gedankenverbrechen faktisch unmöglich, da es keine Wörter mehr geben wird, mit denen man Verbrechen ausdrücken könnte. Jeder Begriff, den man überhaupt noch bräuchte, wird von genau einem Wort ausgedrückt werden, und die Bedeutung wird klar festgelegt sein, all die Unterbedeutungen werden ausgelöscht und vergessen sein. In der elften Auflage sind wir schon nicht mehr weit von diesem Punkt entfernt. Aber der Prozess wird immer weitergehen, lange nachdem wir beide gestorben sind. Jedes Jahr weniger und weniger Wörter, und die Bandbreite des Bewusstseins wird immer ein wenig kleiner. Natürlich gibt es schon jetzt keinen Grund oder keine Entschuldigung, Gedankenverbrechen zu begehen. Es ist einfach eine Frage der Selbstdisziplin, der Wirklichkeitskontrolle. Aber schlussendlich wird es selbst dafür keinen Bedarf mehr geben. Die Revolution wird abgeschlossen sein, sobald die Sprache perfektioniert ist. Neusprech ist Engsoz, und Engsoz ist Neusprech«, fügte er mit einer gewissen mystischen Befriedigung hinzu. »Ist dir je in den Sinn gekommen, Winston, dass im Jahr 2050, allerspätestens, kein Mensch mehr leben wird, der eine Unterhaltung, wie wir sie gerade führen, verstehen könnte?«
»Außer –«, setzte Winston zweifelnd an, ehe er abbrach.
Es hatte ihm auf der Zunge gelegen, zu sagen »Außer die Proles«, aber er hielt sich zurück, da er nicht sicher sein konnte, ob diese Bemerkung nicht in irgendeiner Weise unorthodox war. Doch Syme hatte erahnt, was Winston hatte sagen wollen.
»Die Proles sind keine Menschen«, sagte er abfällig. »2050 oder schon früher wird das gesamte tatsächliche Wissen des Altsprech verschwunden sein. Die ganze Literatur der Vergangenheit wird vernichtet sein. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron – sie existieren dann nur noch in Neusprechfassungen, sie werden nicht nur in etwas anderes verwandelt, sondern vielmehr in etwas umgewandelt, das dem widerspricht, was sie einst waren. Selbst die Literatur der Partei wird sich verändern. Selbst die Parolen werden sich verändern. Wie sollte es noch eine Parole wie ›Freiheit ist Sklaverei‹ geben, wenn der Begriff von Freiheit längst abgeschafft worden ist? Die ganze Sphäre des Denkens wird anders sein. Tatsächlich wird es kein Denken mehr geben, wie wir es heute verstehen. Orthodoxie bedeutet nicht denken – nicht mehr denken zu müssen. Orthodoxie ist Unbewusstheit.«
Eines Tages, dachte Winston mit plötzlicher Überzeugung, wird Syme vaporisiert werden. Er ist zu intelligent. Er sieht viel zu klar und spricht zu offen. Die Partei mag solche Leute nicht. Eines Tages wird er verschwinden. Das steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Winston hatte sein Brot und den Käse aufgegessen. Er drehte sich auf seinem Platz ein wenig zur Seite, um seinen Kaffee zu trinken. An dem Tisch linker Hand sprach der Mann mit der schneidenden Stimme immer noch erbarmungslos weiter. Eine junge Frau, vielleicht seine Sekretärin, die mit dem Rücken zu Winston saß, hörte ihm zu und schien bei allem, was er sagte, eifrig zuzustimmen. Ab und zu schnappte Winston Bemerkungen auf wie »Sie haben ja so recht, ich stimme Ihnen absolut zu«, Bemerkungen, die von einer jugendlichen und eher dümmlichen weiblichen Stimme geäußert wurden. Aber die andere Stimme unterbrach sich nicht einmal einen Moment lang, auch dann nicht, wenn die junge Frau etwas einwarf. Winston kannte den Mann vom Sehen, aber er wusste über ihn nur, dass er irgendeinen wichtigen Posten in der Abteilung für Fiktion innehatte. Der Mann war um die Dreißig, hatte einen kräftigen Hals und einen großen, lebhaften Mund. Er hatte den Kopf ein wenig zurückgelegt, und aufgrund des Winkels, in dem er saß, fingen seine Brillengläser das Licht ein und zeigten Winston zwei leere Scheiben statt der Augen. Ein wenig beängstigend war, dass man aus dem Schwall von Lauten, die aus dem Mund hervorquollen, so gut wie keine einzelnen Wörter heraushören konnte. Nur einmal schnappte Winston eine Phrase auf – »die vollständige und endgültige Eliminierung des Goldsteinismus« –, die schnell hervorgestoßen wurde und, wie es schien, aus nur einem Stück zu bestehen schien, wie eine zusammengesetzte Satzzeile einer Druckform. Der Rest war nur Lärm, ein quack-quackartiges Schnattern. Und obwohl man nicht genau hören konnte, was der Mann sagte, gab es keinen Zweifel an der Art seiner Aussagen. Gut möglich, dass er Goldstein denunzierte und striktere Maßnahmen gegen Gedankenverbrecher und Saboteure einforderte, möglich auch, dass er gegen die Gräueltaten der eurasischen Armee wetterte, vielleicht lobte er aber auch den Großen Bruder oder die Helden an der Malabar-Front – es machte keinen Unterschied. Ganz gleich, was es war, man konnte sicher sein, dass jedes einzelne Wort pure Orthodoxie, purer Engsoz war. Während Winston das augenlose Gesicht und den auf- und zuklappenden Unterkiefer betrachtete, hatte er das eigenartige Gefühl, dass dies kein echter Mensch, sondern eine Art von Puppe war. Nicht das Gehirn des Mannes gab das Sprechen vor, es war der Kehlkopf. Das Zeug, das aus ihm hervorquoll, bestand zwar aus Wörtern, aber es handelte sich nicht um Gesprochenes im herkömmlichen Sinn: Es war ein in Unbewusstheit geäußertes Lärmen, wie das Quaken einer Ente.
Syme war für eine Weile in Schweigen verfallen und zeichnete mit dem Stiel seines Löffels Muster in den Klecks Eintopf. Derweil quakte die Stimme am anderen Tisch unvermindert weiter, nicht zu überhören in dem allgemeinen Lärm.
»Es gibt da ein Wort auf Neusprech«, sagte Syme, »ich weiß nicht, ob du es kennst: Quaksprech, quaken wie eine Ente. Das ist eines jener interessanten Wörter, die zwei einander widersprechende Bedeutungen haben. Angewendet auf einen Gegner, ist es ein Schimpfwort; angewendet auf jemanden, dessen Ansicht du teilst, bedeutet es Lob.«
Keine Frage, Syme wird vaporisiert werden, dachte Winston erneut. Er dachte dies mit einem gewissen Bedauern, obwohl er sehr genau wusste, dass Syme ihn verachtete und nicht recht mochte, darüber hinaus war er sehr wohl in der Lage, ihn als Gedankenverbrecher zu denunzieren, wenn er einen Anlass dafür sah. Da war etwas ganz unmerklich falsch an Syme. Ihm fehlte es an etwas: Taktgefühl, Zurückhaltung, einer Art von selbstbewahrender Naivität. Man konnte nicht behaupten, dass er unorthodox war. Er glaubte an die Prinzipien des Engsoz, er verehrte den Großen Bruder, er begeisterte sich für Siege, er hasste Abweichler, nicht nur aufrichtig, sondern mit einem rastlosen Eifer und einer Wohlinformiertheit, die das gewöhnliche Parteimitglied sonst nicht an den Tag legte. Dennoch haftete ihm eine gewisse Unehrenhaftigkeit an. Er sagte Dinge, die man besser für sich behielt, er hatte zu viele Bücher gelesen, er besuchte häufig das Chestnut Tree Café, den Lieblingsort der Maler und Musiker. Es gab kein Gesetz, nicht einmal ein ungeschriebenes, das den Besuch des Chestnut Tree Cafés verboten hätte, dennoch besaß der Ort eine unheilvolle Aura. Die alten, diskreditierten Führer der Partei hatten sich für gewöhnlich dort getroffen, bevor sie letzten Endes ausgemerzt wurden. Goldstein höchstpersönlich hatte sich dort, wie man hörte, öfter blicken lassen, vor Jahren und Jahrzehnten. Symes Schicksal war leicht vorhersagbar. Trotzdem war es eine Tatsache, dass Syme, wenn er auch nur für drei Sekunden die wahre Natur von Winstons geheimen Ansichten erfasste, ihn sofort an die Gedankenpolizei verraten würde. Das würde jeder andere auch tun – aber Syme noch vor allen anderen. Eifer genügte nicht. Orthodoxie war Unbewusstheit.
Syme schaute auf. »Da kommt Parsons«, sagte er.
Etwas in seinem Tonfall schien hinzuzufügen »dieser verfluchte Narr«. Parsons, Winstons Nachbar in den Victory-Wohnblocks, bahnte sich tatsächlich einen Weg durch den Saal – ein stämmiger Mann mittlerer Größe mit blondem Haar und einem froschähnlichen Gesicht. Mit fünfunddreißig Jahren setzte er bereits Fettwülste am Nacken und an den Hüften an, aber seine Bewegungen waren flink und jungenhaft. Seine ganze Erscheinung ähnelte der eines Jungen, der zu groß geraten war, und zwar in einem Maße, dass man nicht umhinkonnte, sich ihn in blauen Shorts, einem grauen Hemd und dem roten Halstuch der Spione vorzustellen, obwohl er die vorgegebenen Overalls trug. Stellte man sich Parsons vor, hatte man immer Bilder von zerschrammten Knien und hochgekrempelten Hemdsärmeln an speckigen Armen vor Augen. Und Parsons griff wirklich stets auf kurze Hosen zurück, wenn ein gemeinschaftlicher Ausflug oder andere körperliche Aktivitäten ihm einen Vorwand dafür lieferten. Er begrüßte beide mit einem fröhlichen »Hallo, hallo!« und setzte sich zu ihnen an den Tisch, wobei er eine Schweißwolke absonderte. Kleine Tropfen glänzten auf seinem geröteten Gesicht. Seine Fähigkeit zu schwitzen war außergewöhnlich. Im Kommunalen Zentrum wusste man immer anhand der feuchten Schlägergriffe, wann Parsons zuletzt Tischtennis gespielt hatte. Syme hatte unterdessen einen Streifen Papier hervorgeholt, auf dem eine lange Kolumne von Wörtern stand, und betrachtete ihn, einen Tintenstift zwischen den Fingern.
»Schau ihn dir an, arbeitet sogar in der Mittagszeit«, sagte Parsons und stupste Winston an. »Übereifer, was? Was haben Sie denn da, alter Junge? Ist bestimmt zu hoch für mich, denke ich. Smith, alter Junge, ich will Ihnen verraten, warum ich Sie suche. Es geht um die Spende, die Sie vergessen haben, mir zu geben.«
»Welche Spende soll das sein?«, fragte Winston und tastete automatisch nach seinem Geld. Etwa ein Viertel des Gehalts musste man für freiwillige Spenden einplanen, und es fielen so viele an, dass man manchmal gar nicht mehr den Überblick behielt.
»Für die Hasswoche. Wissen Sie – die Kollekte von Haus zu Haus. Ich bin der Kassenwart für unseren Block. Wir legen uns richtig ins Zeug – werden eine richtige Show abziehen. Ich sag Ihnen, es wird nicht meine Schuld sein, wenn die alten Victory-Wohnblocks nicht den meisten Fahnenschmuck in der ganzen Straße haben. Zwei Dollar haben Sie mir versprochen.«
Winston holte zwei abgegriffene, schmuddelige Banknoten hervor und reichte sie Parsons, der den Betrag in einem kleinen Buch vermerkte, in der ordentlichen Handschrift der Ungebildeten.
»Übrigens, alter Junge«, sagte er. »Hab gehört, der kleine Bengel von mir hat gestern mit der Schleuder auf Sie geschossen. Hab ihm ’ne ordentliche Standpauke gehalten. Tatsächlich hab ich ihm gesagt, dass ich ihm die Schleuder wegnehme, wenn er das nochmal macht.«
»Ich denke, er war ein bisschen enttäuscht, dass er nicht zu der Hinrichtung durfte«, sagte Winston.
»Ah, nun – was ich eigentlich sagen wollte, die legen schon den richtigen Eifer an den Tag, oder? Sind ja beide kleine durchtriebene Biester, aber an Eifer fehlt es denen nicht! Die denken die ganze Zeit an die Spione, und an den Krieg natürlich. Wissen Sie, was meine Kleine letzten Samstag gemacht hat, als ihre Gruppe eine Wanderung nach Berkhamsted unternommen hat? Hat zwei andere Mädchen überredet mitzukommen, hat sich von der Gruppe abgesetzt und ist den ganzen Nachmittag einem Fremden hinterher. Zwei Stunden waren sie dem auf den Fersen, durch den ganzen Wald, und dann, als sie in Amersham ankamen, haben sie ihn der Patrouille übergeben.«
»Warum haben sie das gemacht?«, fragte Winston ein wenig erschrocken. Parsons fuhr triumphierend fort:
»Die Kleine wollte sicherstellen, ob er nicht vielleicht ein feindlicher Agent war – hätte ja mit einem Fallschirm abgesprungen sein können. Aber jetzt kommt’s, alter Junge. Was, denken Sie, hat sie überhaupt auf diese Fährte gebracht? Sie hat gesehen, dass der Mann so merkwürdige Schuhe anhatte – sie meinte, sie hat noch bei keinem solche Schuhe gesehen. Also ziemlich wahrscheinlich, dass es ein Fremder war. Ziemlich clever für ’ne Göre von sieben, was?«
»Was wurde aus dem Mann?«, sagte Winston.
»Das weiß ich natürlich nicht. Aber mich würde es nicht wundern, wenn –«, Parsons tat so, als würde er mit einem Gewehr auf jemanden zielen, und schnalzte mit der Zunge, um den Schuss zu imitieren.
»Gut«, sagte Syme halb abwesend, ohne von seinem Streifen Papier aufzuschauen.
»Wir dürfen eben keine Risiken eingehen«, stimmte Winston ihm pflichtgetreu zu.
»Das will ich meinen, schließlich haben wir Krieg«, sagte Parsons.
Wie zur Bestätigung tönte ein Trompetenstoß aus dem Telemonitor unmittelbar über ihren Köpfen. Diesmal handelte es sich aber nicht um die Verkündung eines militärischen Sieges, sondern lediglich um eine Bekanntmachung des Ministeriums für Fülle.
»Genossen!«, rief eine eifrige, jugendliche Stimme. »Aufgepasst, Genossen! Wir haben ruhmreiche Neuigkeiten für euch. Wir haben den Produktionskampf gewonnen! Die jetzt vorliegende Aufstellung der Produktion sämtlicher Kategorien von Konsumgütern belegt, dass der Lebensstandard im Verlauf des letzten Jahres um nicht weniger als zwanzig Prozent gestiegen ist. In ganz Ozeanien kam es heute Morgen zu unkontrollierten, spontanen Demonstrationen, als Arbeiter aus Fabriken und Büros marschierten und mit Transparenten durch die Straßen zogen, um ihre Dankbarkeit gegenüber dem Großen Bruder zum Ausdruck zu bringen, für das neue, glückliche Leben, das seine weise Führerschaft uns beschert hat. Hier folgen einige der uns vorliegenden Zahlen. Nahrungsmittel –«
Die Phrase »unser neues, glückliches Leben« wiederholte sich mehrmals. In letzter Zeit war dies die Lieblingswendung des Ministeriums für Fülle gewesen. Parsons, dessen Aufmerksamkeit durch den Trompetenstoß geweckt worden war, saß da und lauschte mit einer Art feierlichem Glotzen, in einer gewissen erbaulichen Langeweile. Er konnte den Zahlen nicht folgen, war sich aber bewusst, dass sie in gewisser Weise Anlass zur Zufriedenheit boten. Er hatte eine große, schmutzige Pfeife hervorgekramt, die schon bis zur Hälfte mit verkohltem Tabak gefüllt war. Angesichts einer Tabakration von 100 Gramm pro Woche war es kaum je möglich, den Pfeifenkopf bis zum Rand zu stopfen. Winston rauchte eine Victory-Zigarette, die er sorgfältig waagerecht hielt. Die nächste Ration wurde erst morgen zugeteilt, und er hatte nur noch vier Zigaretten übrig. Im Moment blendete er die entfernteren Geräusche aus und lauschte dem Kram, der aus dem Telemonitor strömte. Offenkundig hatte es sogar Demonstrationen gegeben, um dem Großen Bruder für die Erhöhung der Schokoladenration auf zwanzig Gramm pro Woche zu danken. Dabei war erst gestern, sinnierte er, verkündet worden, die Ration werde auf zwanzig Gramm pro Woche herabgesetzt. War es möglich, dass die Leute das einfach so schluckten, nach nur vierundzwanzig Stunden? Ja, sie schluckten es. Parsons schluckte es mühelos, mit dem Stumpfsinn eines Tieres. Die augenlose Kreatur am anderen Tisch schluckte es fanatisch, leidenschaftlich, mit dem rasenden Verlangen, jeden zur Strecke zu bringen, zu denunzieren und zu vaporisieren, der auch nur andeutete, die Ration habe letzte Woche noch bei dreißig Gramm gelegen. Auch Syme schluckte es – aber auf komplexere Weise, mithilfe von Doppeldenk. War er demnach der Einzige, der ein Erinnerungsvermögen besaß?
Die fabelhaften Statistiken drangen weiterhin aus dem Telemonitor. Im Vergleich zum Vorjahr gab es mehr Lebensmittel, mehr Kleidung, mehr Wohnraum, mehr Einrichtungsgegenstände, mehr Kochtöpfe, mehr Treibstoff, mehr Schiffe, mehr Hubschrauber, mehr Bücher, mehr Neugeborene – es gab von allem mehr, ausgenommen Krankheiten, Verbrechen und Wahnsinn. Jahr für Jahr und Minute für Minute ging es mit jedem und allem rasant aufwärts. Wie zuvor Syme hatte auch Winston den Löffel genommen und stocherte damit in der blässlichen Soße, die auf dem Tisch zerlief, wobei er eine lange Schliere zu einem Muster formte. Verbittert sinnierte er über die physische Beschaffenheit des Lebens. War es immer schon so gewesen? Hatte das Essen immer so geschmeckt? Er blickte sich in der Kantine um. Ein überfüllter Saal mit niedrig hängender Decke, die Wände schmierig vom direkten Kontakt mit unzähligen Leibern; zerschrammte Metalltische und Stühle, die so dicht beieinander standen, dass die Leute beim Sitzen mit den Ellbogen zusammenstießen; verbogene Löffel, Tabletts mit Dellen, klobige weiße Tassen; sämtliche Oberflächen schmierig, Schmutz in jedem Spalt; dazu ein säuerlicher Geruch, ein Gemisch aus schlechtem Gin, schlechtem Kaffee, metallisch schmeckendem Eintopf und schmutziger Kleidung. Ständig rebellierten der Magen und die Haut, mit einem Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, auf das man eigentlich ein Anrecht hatte. Es stimmte, dass er keine Erinnerung daran hatte, dass es je groß anders gewesen wäre. In den Zeiten, an die er sich genau erinnern konnte, hatte es nie genug zu essen gegeben, man hatte nie Socken oder Unterwäsche ohne Löcher gehabt, die Möbel waren immer schon ramponiert und wackelig gewesen, die Zimmer schlecht geheizt, die U-Bahnen überfüllt, die Häuser fielen in sich zusammen, das Brot hatte eine dunkle Farbe, Tee war eine Seltenheit, der Kaffee schmeckte scheußlich, Zigaretten waren Mangelware – nichts war billig und im Überfluss zu bekommen außer dem synthetischen Gin. Und obwohl es natürlich schlimmer wurde, wenn der Körper alterte, war es nicht ein Anzeichen dafür, dass dies nicht die natürliche Ordnung der Dinge war, wenn es einem schwer ums Herz wurde angesichts der Unbehaglichkeit und des Drecks und des Mangels, der endlosen Winter, der eigenen klammen Socken, der Aufzüge, die nie funktionierten, des kalten Wassers, der körnigen Seife, der zerbröselnden Zigaretten und des Essens mit dem seltsamen, üblen Geschmack? Warum sollte man das für unerträglich halten, sofern man nicht eine Art vererbte Erinnerung besaß, dass die Dinge einmal anders gewesen waren?
Er blickte sich erneut in der Kantine um. Fast alle sahen hässlich aus und wären auch dann noch hässlich gewesen, wenn sie etwas anderes getragen hätten als die eintönigen blauen Overalls. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals saß ein kleiner, sonderbarer Mann, der etwas Käferartiges an sich hatte, allein an einem Tisch und trank eine Tasse Kaffee, seine kleinen Augen huschten argwöhnisch von rechts nach links. Wenn man sich nicht mit wachen Augen umschaute, dachte Winston, wie einfach war es dann, daran zu glauben, dass die körperliche Erscheinungsform, die von der Partei zum Ideal stilisiert worden war – große, muskulöse Jungen und vollbusige Mädchen, blond, strotzend vor Leben, sonnengebräunt, sorglos – tatsächlich existierte und sogar vorherrschend war. In Wirklichkeit aber, zumindest soweit er das beurteilen konnte, war die Mehrzahl der Leute in Landefeld Eins eher klein, dunkelhaarig und nicht gerade von der Natur begünstigt. Seltsam, dass sich der käferartige Typus in den Ministerien ausbreitete: kleine untersetzte Männer, die schon früh im Leben korpulent wurden, mit kurzen Beinen, raschen, huschenden Bewegungen und teigigen, unergründlichen Gesichtern mit sehr kleinen Augen. Dieser Typus schien am besten unter der Herrschaft der Partei zu gedeihen.
Die Bekanntmachung des Ministeriums für Fülle endete mit einem weiteren Trompetenstoß und ging über in blechern klingende Musik. Parsons, von dem Zahlenbombardement zu einer vagen Begeisterung angeregt, nahm die Pfeife aus dem Mund.
»Das Ministerium für Fülle hat dieses Jahr wirklich gute Arbeit geleistet«, sagte er mit wissendem Kopfnicken. »Übrigens, Smith, alter Junge, Sie haben wohl keine Rasierklingen, die Sie mir geben könnten?«
»Keine einzige«, sagte Winston. »Ich benutze dieselbe Klinge schon seit sechs Wochen.«
»Ah, nun gut – dachte, ich frag Sie einfach mal, alter Junge.«
»Tut mir leid«, meinte Winston.
Die quakende Stimme vom Nachbartisch, die während der Bekanntmachung des Ministeriums zwischenzeitlich verstummt war, war von Neuem zu hören, genauso laut wie zuvor. Aus einem unerfindlichen Grund musste Winston plötzlich an Mrs Parsons denken, an ihr strähniges Haar und den Staub in den Falten ihres Gesichts. In spätestens zwei Jahren würden diese Kinder sie bei der Gedankenpolizei denunzieren. Mrs Parsons würde vaporisiert werden. Syme würde vaporisiert werden. O’Brien würde vaporisiert werden. Parsons hingegen würde nie vaporisiert werden. Auch das augenlose Wesen mit der quakenden Stimme würde nie vaporisiert werden. Die kleinen käferartigen Männer, die so flink durch die labyrinthischen Gänge der Ministerien huschten – auch sie würden nie vaporisiert werden. Und die junge Frau mit dem dunklen Haar, die Frau aus der Abteilung für Fiktion – sie würde ebenfalls nie vaporisiert werden. Er hatte das Gefühl, instinktiv zu wissen, wer überleben und wer untergehen würde: Dabei ließ sich gar nicht ohne Weiteres sagen, was genau den Ausschlag für das Überleben gab.
In diesem Moment wurde er ruckartig aus seinem Tagtraum gerissen. Die junge Frau am Nachbartisch hatte sich halb zu ihm umgedreht und sah ihn nun an. Es war die junge Frau mit dem dunklen Haar. Sie musterte ihn auf eine verstohlene Weise, aber mit merkwürdiger Eindringlichkeit. Kaum, dass sie seinen Blick eingefangen hatte, schaute sie wieder zur Seite.
Der Schweiß lief Winston den Rücken hinab. Eine schreckliche Angst durchzuckte ihn. Sie verflüchtigte sich gleich wieder, ließ aber ein nagendes Unbehagen zurück. Wieso sah diese Frau ihn so an? Warum folgte sie ihm überallhin? Leider konnte er sich nicht entsinnen, ob sie schon an diesem Tisch gesessen hatte, als er gekommen war, oder erst danach aufgetaucht war. Gestern jedenfalls, während des Zwei-Minuten-Hasses, hatte sie unmittelbar hinter ihm gesessen, obwohl es keinen ersichtlichen Grund dafür gab. Wahrscheinlich hatte sie die Absicht verfolgt, ihn zu belauschen und festzustellen, ob er auch laut genug schrie.
Sein voriger Gedanke kehrte zurück: Wahrscheinlich war sie gar kein Mitglied der Gedankenpolizei, aber andererseits waren es ja gerade die Amateurspione, von denen die größte Gefahr ausging. Er wusste nicht, wie lange sie ihn schon beobachtet hatte, vielleicht aber schon fünf Minuten, und es war durchaus denkbar, dass er sein Mienenspiel in dieser Zeit nicht ganz unter Kontrolle gehabt hatte. Es war furchtbar gefährlich, den Gedanken freien Lauf zu lassen, wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegte oder in Reichweite eines Telemonitors befand. Man konnte sich schon durch eine Kleinigkeit verraten. Eine nervöse Zuckung, ein unbewusster ängstlicher Blick, die Angewohnheit, leise vor sich hin zu murmeln – alles, was nur die Andeutung des Anormalen besaß oder vermuten ließ, man habe etwas zu verbergen. Wie dem auch sei, allein eine unangemessene Miene zur Schau zu stellen (zum Beispiel ungläubig dreinzublicken, wenn ein Sieg verkündet wurde), galt schon als Vergehen, das geahndet wurde. In Neusprech gab es sogar einen Begriff dafür: Gesichtsverbrechen nannte man es.
Die junge Frau hatte ihm wieder den Rücken zugekehrt. Vielleicht war sie ihm ja doch nicht gefolgt; vielleicht war es Zufall, dass sie an zwei aufeinanderfolgenden Tagen so dicht bei ihm gesessen hatte. Seine Zigarette war ausgegangen, und er legte sie vorsichtig auf die Tischkante. Er würde sie nach der Arbeit zu Ende rauchen, falls es ihm gelang, den Tabak nicht herausrieseln zu lassen. Gut möglich, dass die Person am Nachbartisch eine Spionin der Gedankenpolizei war, und gut möglich, dass er sich binnen drei Tagen in den Kellern des Ministeriums für Liebe wiederfinden würde, aber eine halb gerauchte Zigarette durfte man nicht vergeuden. Syme hatte seinen Papierstreifen zusammengerollt und steckte ihn wieder in die Tasche. Parsons hatte wieder zu reden begonnen.
»Hab ich Ihnen je erzählt, alter Junge«, gluckste er, das Mundstück der Pfeife zwischen den Zähnen, »dass meine beiden Knirpse mal den Rock der Marktfrau in Brand gesetzt haben, weil sie mitkriegten, wie die Alte ein paar Würstchen in ein Plakat des G. B. wickelte? Haben sich von hinten angeschlichen und ihr den Rock angezündet, mit Streichhölzern. Hat sich ganz schön verbrannt, glaub ich. Kleine Unholde, was? Aber immer auf Zack! Heutzutage kriegen die ein erstklassiges Training bei den Spionen – besser noch als zu meiner Zeit. Wissen Sie, was sie denen erst kürzlich gegeben haben? Hörrohre, damit man besser an Schlüssellöchern lauschen kann! Erst vor kurzem hat meine Kleine eins davon mitgebracht – hat sie an unserer Wohnzimmertür ausprobiert und meinte, sie hat doppelt so viel gehört wie nur mit dem Ohr am Schlüsselloch. Ist natürlich nur ein Spielzeug, das ist klar. Trotzdem bringt’s die Kleinen auf die richtigen Ideen, wie?«
In diesem Moment kam ein hohes Pfeifen aus dem Telemonitor. Es war das Signal, wieder an die Arbeit zu gehen. Die drei Männer sprangen auf und begaben sich in das Gedränge vor den Aufzügen, und der Rest des Tabaks rieselte aus Winstons Zigarette.