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Mit einem tiefen, unbewussten Seufzer, der ihm zu Beginn der Arbeit trotz der Nähe des Telemonitors entfuhr, zog Winston den Sprechschreiber zu sich heran, pustete den Staub von dem Mundstück und setzte die Brille auf. Dann entrollte er vier kleine Papierzylinder, die bereits auf der rechten Seite seines Schreibtischs aus der mit Druckluft betriebenen Rohrpost gepurzelt waren, und klemmte sie aneinander.

In den Wänden der Arbeitsnische gab es drei Öffnungen. Rechts von dem Sprechschreiber eine kleine Rohrpost für schriftliche Nachrichten; links eine größere Röhre für Zeitungen; und in der Seitenwand, in Reichweite von Winstons Arm, einen breiten länglichen Schlitz, geschützt von einem Drahtgitter. Dieser Schlitz diente dazu, Papierabfälle zu entsorgen. Schlitze dieser Art gab es zu Tausenden und Zehntausenden im gesamten Gebäude, nicht nur in jedem Raum, sondern auch in kurzen Abständen auf den Fluren. Aus irgendeinem Grund hatte man ihnen den Spitznamen »Gedächtnislöcher« gegeben. Sobald man wusste, dass irgendein Dokument vernichtet werden sollte, oder wenn man nur einen Fitzel Papier herumliegen sah, hob man unweigerlich die Drahtklappe des nächstbesten Gedächtnisloches an und warf das Papier hinein, woraufhin es in einem Strudel warmer Luft zu den riesigen Brennöfen fortgewirbelt wurde, die irgendwo in den Tiefen des Gebäudes verborgen standen.

Winston betrachtete die vier Papierstreifen, die er entrollt hatte. Jeder enthielt eine Mitteilung von nur einer bis zwei Zeilen, und zwar in dem verkürzten Jargon – kein wirkliches Neusprech, aber weitestgehend aus Neusprechwörtern bestehend –, der im Ministerium für interne Zwecke benutzt wurde. Sie lauteten:

times 17. 3. 84 gb rede missberichtet afrika richtigstellen

times 19. 12. 83 vorschau 3 jp 4. quartal 83 druckfehler laufende ausgabe verifizieren

times 14. 2. 84 minifülle misszitiert schokolade richtigstellen

times 3. 12. 83 bericht gb tagesbefehl doppelplusungut nennt unpersonen vollkommen umschreiben obenvor präarchiv

Mit einem leisen Gefühl der Befriedigung legte Winston die vierte Mitteilung beiseite. Es handelte sich um eine delikate und verantwortungsvolle Aufgabe, die man am besten zum Schluss erledigte. Die anderen drei waren Routineangelegenheiten, auch wenn die zweite Mitteilung wahrscheinlich ein mühsames Durchforsten von Zahlenauflistungen bedeutete.

Winston wählte auf dem Telemonitor »Frühere Nummern« an und bestellte die entsprechenden Ausgaben der Times, die kurz darauf aus der Öffnung der Rohrpost glitten. Die Mitteilungen, die er erhalten hatte, bezogen sich auf Artikel oder Meldungen, bei denen es aus diesem oder jenem Grund für nötig befunden wurde, den Wortlaut zu ändern oder, wie die offizielle Wendung lautete, richtigzustellen. So ging zum Beispiel aus der Times vom 17. März hervor, der Große Bruder habe in seiner Rede vom Vortag vorausgesagt, an der Südindien-Front werde es ruhig bleiben, in Nordafrika werde hingegen bald eine eurasische Offensive eingeleitet. Wie sich dann herausstellte, hatte die eurasische Höhere Kommandoebene ihre Offensive in Südindien eingeleitet und Nordafrika in Ruhe gelassen. Daher war es notwendig, einen Absatz aus der Rede des Großen Bruders so umzuschreiben, dass er das Ereignis voraussagte, das tatsächlich eingetreten war. Die Times vom 19. Dezember wiederum hatte die offiziellen Prognosen für die Produktion von unterschiedlichen Konsumgütern im vierten Quartal von 1983 veröffentlicht, das gleichzeitig das sechste Quartal des Neunten Dreijahresplans ausmachte. Die heutige Ausgabe enthielt eine Angabe zur tatsächlichen Produktion, der zu entnehmen war, dass die Prognosen in allen Belangen in erheblichem Maße falsch waren. Winstons Aufgabe bestand darin, die ursprünglichen Zahlen richtigzustellen, damit sie mit den späteren übereinstimmten. Was die dritte Mitteilung anbelangte, so bezog sie sich auf einen kleineren Fehler, der sich in ein paar Minuten beheben ließ. Kurz zuvor, im Februar, hatte das Ministerium für Fülle ein Versprechen verlautbaren lassen (eine »kategorische Zusicherung«, so der offizielle Wortlaut), es werde im Laufe des Jahres 1984 zu keiner Kürzung der Schokoladenration kommen. Tatsächlich sollte aber die Schokoladenration, wie Winston wusste, gegen Ende der laufenden Woche von dreißig auf zwanzig Gramm herabgesetzt werden. Man brauchte aber lediglich das ursprüngliche Versprechen durch den Warnhinweis zu ersetzen, es werde womöglich nötig sein, die Ration irgendwann im April herabzusetzen.

Sowie Winston jede der Mitteilungen bearbeitet hatte, heftete er seine sprechgeschriebenen Korrekturen an die jeweilige Ausgabe der Times und steckte sie in die Rohrpost. Dann, mit einer Bewegung, die nahezu unbewusst ablief, knüllte er die ursprüngliche Mitteilung und alle Notizen, die er selbst gemacht hatte, zusammen und warf sie in das Gedächtnisloch, damit sie von den Flammen verzehrt wurden.

Was in dem unsichtbaren Labyrinth geschah, in das die mit Druckluft betriebenen Röhren führten, wusste er nicht im Detail, aber in groben Zügen. Sobald alle in einer bestimmten Nummer der Times als notwendig erachteten Korrekturen zusammengetragen und kritisch verglichen worden waren, würde diese Nummer neu gedruckt, die ursprüngliche Ausgabe vernichtet und an ihrer Stelle die korrigierte Ausgabe ins Archiv übernommen werden. Dieser Prozess fortlaufender Änderungen wurde nicht nur auf Zeitungen angewendet, sondern auch auf Bücher, Zeitschriften, Prospekte, Plakate, Flugblätter, Filme, Tondokumente, Cartoons, Fotografien – auf jede Art von Literatur oder Dokumentation, die in jeder nur denkbaren Weise von politischer oder ideologischer Bedeutung sein konnte. Tag für Tag und fast von einer Minute zur anderen wurde die Vergangenheit auf den aktuellen Stand gebracht. Auf diese Weise konnte man bei jeder von der Partei gemachten Voraussage anhand des dokumentierten Nachweises belegen, dass sie korrekt gewesen war; ebenso durfte keine Nachricht oder Meinungsäußerung je aktenkundig bleiben, die zu den Anforderungen des Augenblicks in Widerspruch standen. Die Geschichte an sich war ein Palimpsest, das genauso oft, wie es nötig war, saubergeschabt und neu beschrieben wurde. Sobald die Tat vollbracht war, wäre es in keinem einzelnen Fall möglich gewesen, nachzuweisen, dass eine Fälschung stattgefunden hatte. Der größte Bereich der Dokumentationsabteilung, weitaus größer als der Bereich, in dem Winston arbeitete, setzte sich aus Leuten zusammen, deren Aufgabe darin bestand, sämtliche Ausgaben von Büchern, Zeitungen und anderen Dokumenten aufzuspüren und zu sammeln, die für ungültig erklärt worden waren und vernichtet werden mussten. Selbst wenn eine Nummer der Times aufgrund von Veränderungen der politischen Ausrichtung oder aufgrund der vom Großen Bruder irrtümlich gemachten Voraussagen womöglich bereits ein Dutzend Mal neu geschrieben worden war, wurde sie immer noch unter dem ursprünglichen Datum im Archiv aufbewahrt, und es gab kein Exemplar, das dieser hätte widersprechen können. Auch Bücher wurden zurückgerufen, immer wieder umgeschrieben und ausnahmslos neu aufgelegt, ohne ein Eingeständnis, dass Veränderungen vorgenommen worden waren. Selbst die geschriebenen Anweisungen, die Winston erhielt und immer entsorgte, sobald er sie bearbeitet hatte, besagten nie oder deuteten nie auch nur an, dass ein Akt der Verfälschung vorgenommen werden sollte: Verwiesen wurde immer nur auf Versehen, Irrtümer, Druckfehler oder falsche Zitate, die im Interesse der Genauigkeit unbedingt richtiggestellt werden mussten.

Tatsächlich, dachte er, als er die Zahlen des Ministeriums für Fülle anglich, war es ja auch gar keine Fälschung. Ein Unsinn wurde bloß durch einen anderen ersetzt. Der Großteil des Materials, mit dem man zu tun hatte, stand in keinem Zusammenhang zur realen Welt, nicht einmal in der Art von Zusammenhang, den eine offenkundige Lüge aufweist. Statistiken waren in ihrer ursprünglichen Version ebenso eine Ausgeburt der Fantasie wie die richtiggestellten Versionen. Sehr häufig wurde erwartet, dass man sie sich einfach ausdachte. So hatte zum Beispiel das Ministerium für Fülle in seinen Voraussagen die Produktion von Stiefeln für das Quartal auf 145 Millionen Paar geschätzt. Die tatsächliche Produktion wurde mit 62 Millionen angegeben. Doch Winston, als er die Voraussage umschrieb, setzte die Zahl auf 57 Millionen herab, um auf diese Weise die übliche Behauptung zu ermöglichen, die Quote sei übererfüllt worden. 62 Millionen kamen der Wahrheit jedenfalls nicht näher als 57 oder 145 Millionen. Sehr wahrscheinlich waren überhaupt keine Stiefel hergestellt worden. Noch wahrscheinlicher war, dass niemand wusste, wie viele hergestellt worden waren, und dass es kaum einen interessierte. Man wusste lediglich, dass in jedem Quartal auf dem Papier astronomische Zahlen von Stiefeln hergestellt wurden, während vielleicht die Hälfte der Bevölkerung von Ozeanien barfuß ging. Und so verhielt es sich mit jeder Kategorie aufgezeichneter Tatsachen, seien sie bedeutend oder unbedeutend. Alles verblasste in einer Schattenwelt, in der letzten Endes sogar die Jahreszahl ungewiss geworden war.

Winston warf einen Blick durch den Saal. In der gleich gestalteten Nische auf der anderen Seite arbeitete Tillotson, ein kleiner, akribisch wirkender Mann mit bärtigem Kinn, emsig vor sich hin, eine gefaltete Zeitung auf den Knien, den Mund ganz dicht an der Muschel des Sprechschreibers. Es sah so aus, als sollte das, was er sagte, ein Geheimnis zwischen ihm und dem Telemonitor bleiben. Er schaute auf, und seine Brillengläser warfen ein feindseliges Aufblitzen in Winstons Richtung.

Winston kannte Tillotson kaum und wusste nicht, für welche Arbeit er eingeteilt war. Die Leute in der Dokumentationsabteilung sprachen nicht gern über ihre Aufgaben. In dem langen, fensterlosen Saal mit der Doppelreihe der Nischen, dem endlosen Rascheln von Papier und dem Gemurmel der Stimmen, die in den Sprechschreiber sprachen, gab es ein gutes Dutzend Leute, die Winston nicht einmal dem Namen nach kannte, auch wenn er sie täglich durch die Gänge hasten oder während des Zwei-Minuten-Hasses gestikulieren sah. Er wusste, dass sich die kleine Frau mit dem hellblonden Haar in der Nische unmittelbar neben seiner tagein, tagaus damit abmühte, aus der Presse die Namen der Leute herauszusuchen und zu löschen, die vaporisiert worden waren und fortan so betrachtet wurden, als hätte es sie nie gegeben. In gewisser Weise passte das, da ihr eigener Mann ein paar Jahre zuvor vaporisiert worden war. Und ein paar Nischen weiter war ein freundlicher, ungeschickter, verträumter Mensch namens Ampleforth, der sehr haarige Ohren hatte und die erstaunliche Gabe besaß, mit Reimen und Versmaßen zu jonglieren, damit beschäftigt, verstümmelte Versionen von Gedichten herzustellen – »endgültige Texte«, wie sie genannt wurden –, die ideologisch anstößig geworden waren, aber aus diesem oder jenem Grund in den Anthologien bleiben sollten. Und dieser Saal mit seinen etwa fünfzig Angestellten war nur eine Unterabteilung, eine einzelne Zelle sozusagen, in der riesigen Struktur der Dokumentationsabteilung. Neben, über und unter ihnen waren andere Scharen von Arbeitern mit einer unvorstellbaren Vielfalt von Aufgaben beschäftigt. Es gab die riesigen Druckereien mit ihren Redakteuren, ihren Experten für Typografie und ihren üppig ausgestatteten Studios für das Fälschen von Fotografien. Da gab es die Teleprogrammabteilung mit ihren Technikern, ihren Produzenten und ihren Teams von Schauspielern, die aufgrund ihrer Fähigkeit, Stimmen zu imitieren, ausgewählt worden waren. Da gab es die Heerscharen von Referenzschreibern, deren Aufgabe einfach nur darin bestand, Listen von Büchern und Zeitschriften zu erstellen, die zurückgerufen werden sollten. Da gab es die weitläufigen Magazine, in denen die korrigierten Dokumente gelagert wurden, und die verborgenen Brennöfen, in denen die ursprünglichen Ausgaben vernichtet wurden. Und irgendwo saßen, vollkommen anonym, die leitenden Denker, die die ganzen Tätigkeiten koordinierten und die Richtlinien der Politik festlegten, die es überhaupt erst erforderlich machten, dass dieses Bruchstück der Vergangenheit aufbewahrt, jenes verfälscht und wiederum ein anderes gänzlich ausgelöscht wurde.

Und schließlich war die Dokumentationsabteilung nur ein einzelner Zweig des Ministeriums für Wahrheit, dessen Hauptaufgabe nicht darin bestand, die Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern darin, die Bürger Ozeaniens mit Zeitungen, Filmen, Fachbüchern, Telemonitorprogrammen, Theaterstücken und Romanen zu versorgen – also mit jeder nur erdenklichen Art von Informationen, Anweisungen und Unterhaltung, vom Denkmal bis zur Parole, vom lyrischen Gedicht bis zur biologischen Abhandlung, von der Fibel bis zum Neusprechwörterbuch. Und das Ministerium musste nicht nur die facettenreichen Bedürfnisse der Partei befriedigen, sondern die ganzen Maßnahmen auch noch einmal auf einem niedrigeren Niveau zugunsten des Proletariats wiederholen. Es gab eine ganze Reihe von Sonderabteilungen, die sich mit proletarischer Literatur, Musik, Theater und generell mit Unterhaltung beschäftigten. Hier wurden wertlose Zeitungen produziert, die fast nichts anderes enthielten als Sportberichte, Verbrechen und Horoskope, reißerische Schundhefte für fünf Cent, vor Sex triefende Filme und kitschige, rührselige Lieder, die ausnahmslos mit technischen Mitteln in einer speziellen Art Kaleidoskop komponiert wurden, dem so genannten Versifikator. Es gab sogar eine ganze Unterabteilung – Pornoab in Neusprech –, die damit befasst war, die niedrigste Art von Pornografie herzustellen, die dann in versiegelten Päckchen versandt wurde und die kein Parteimitglied je zu Gesicht bekommen durfte, abgesehen von denjenigen, die mit der Herstellung betraut waren.

Drei weitere Mitteilungen waren aus der mit Druckluft betriebenen Röhre geglitten, während Winston seiner Arbeit nachkam; aber es handelte sich um simple Angelegenheiten, die er erledigt hatte, noch bevor er vom Zwei-Minuten-Hass unterbrochen wurde. Als das Ritual zu Ende war, kehrte er in seine Nische zurück, nahm das Neusprechwörterbuch aus dem Regal, schob den Sprechschreiber zur Seite, putzte seine Brillengläser und widmete sich der Hauptaufgabe dieses Morgens.

Winstons größte Freude im Leben war seine Arbeit. Vieles davon war ermüdende Routine, aber mitunter gab es Aufgaben, die so schwierig und verzwickt waren, dass man sich darin wie in den Tiefen eines mathematischen Problems verlieren konnte – delikate Fälschungen, bei denen man sich an nichts anderem orientieren konnte als an seinen Kenntnissen der Prinzipien des Engsoz und seiner Einschätzung dessen, was die Partei von einem verlangte. Mit diesen Dingen kannte Winston sich aus. Gelegentlich war er sogar mit der Richtigstellung von Leitartikeln aus der Times betraut worden, die ausnahmslos auf Neusprech verfasst waren. Nun entrollte er die Mitteilung, die er zuvor zur Seite gelegt hatte. Sie lautete:

times 3.12.83 bericht gb tagesbefehl doppelplusungut nennt unpersonen vollkommen umschreiben obenvor präarchiv.

Auf Altsprech (oder standardisiertem Englisch) bedeutete das so viel wie:

Der Bericht über den Tagesbefehl des Großen Bruders in der Times vom 3. Dezember 1983 ist zutiefst unbefriedigend und nimmt Bezug auf nicht existierende Personen. Schreiben Sie ihn vollständig um und reichen Sie Ihren Entwurf an höherer Stelle ein, ehe er im Archiv aufbewahrt wird.

Winston las den beanstandeten Artikel durch. Der Tagesbefehl des Großen Bruders hatte sich offenbar hauptsächlich dem Lob der Arbeit einer Organisation gewidmet, die unter der Bezeichnung SFZZ bekannt war und die die Matrosen auf den Schwimmenden Festungen mit Zigaretten und anderen Zuwendungen versorgte. Ein gewisser Genosse Withers, ein prominentes Mitglied der Inneren Partei, war lobend erwähnt worden und hatte einen Orden erhalten, den Orden für besondere Verdienste Zweiter Klasse.

Drei Monate später war die SFZZ plötzlich ohne Angabe von Gründen aufgelöst worden. Man konnte vermuten, Withers und seine Kollegen seien inzwischen in Ungnade gefallen, aber weder in der Presse noch im Telemonitor hatte es zu dieser Angelegenheit Berichte gegeben. Das war zu erwarten gewesen, da politische Straftäter für gewöhnlich nicht vor Gericht gestellt, geschweige denn öffentlich angeprangert wurden. Die großen Säuberungen, die Tausende von Menschen betrafen, und die öffentlich abgehaltenen Verhandlungen gegen Verräter und Gedankenverbrecher, die für ihre Verbrechen unterwürfig Geständnisse ablegten und danach hingerichtet wurden, waren spezielle Schauprozesse, die nur einmal alle paar Jahre stattfanden. Gewöhnlich lief es so ab, dass Leute, die das Missfallen der Partei erregt hatten, einfach verschwanden und man nie wieder etwas von ihnen hörte. Man hatte nicht den kleinsten Anhaltspunkt, was mit ihnen geschehen war. In manchen Fällen waren sie womöglich nicht einmal tot. Etwa dreißig Leute, die Winston persönlich gekannt hatte, seine Eltern nicht mitgezählt, waren im Laufe der Zeit verschwunden.

Winston strich sich mit einer Büroklammer sanft über den Nasenrücken. In der Nische auf der anderen Seite des Gangs kauerte Genosse Tillotson noch immer heimlichtuerisch über seinem Sprechschreiber. Einen kurzen Moment hob er den Kopf: wieder das feindselige Aufblitzen der Brillengläser. Winston fragte sich, ob Genosse Tillotson mit derselben Aufgabe wie er beschäftigt war. Das war durchaus denkbar. Eine derart komplizierte Aufgabe würde man niemals einer einzigen Person anvertrauen; andererseits würde man, wenn man sie einem Komitee übertrug, öffentlich zugeben, dass eine Fälschung im Gange war. Sehr wahrscheinlich erarbeitete im Augenblick ein Dutzend Leute konkurrierende Versionen dessen, was der Große Bruder tatsächlich gesagt hatte. Und bald würde ein Superhirn der Inneren Partei diese oder jene Version auswählen, würde sie neu herausgeben und den komplexen Prozess der Querverweise in Gang setzen, der dafür erforderlich wäre, und erst dann würde die ausgewählte Lüge in die immerwährenden Aufzeichnungen gelangen und zur Wahrheit werden.

Winston wusste nicht, warum Withers in Ungnade gefallen war. Vielleicht wegen Korruption oder Unfähigkeit. Womöglich wollte der Große Bruder bloß einen allzu beliebten Untergebenen loswerden. Vielleicht war Withers oder jemand aus seinem näheren Umfeld abweichlerischer Tendenzen verdächtigt worden. Oder aber – und das war am wahrscheinlichsten – das Ganze war nur deshalb passiert, weil Säuberungen und Vaporisationen notwendiger Bestandteil der Regierungsmaschinerie waren. Der einzig brauchbare Hinweis fand sich in den Worten »nennt unpersonen«, die darauf hindeuteten, dass Withers bereits tot war. Man konnte nicht immer davon ausgehen, dass dies der Fall war, wenn Leute verhaftet wurden. Manchmal wurden sie wieder freigelassen und durften ein oder zwei Jahre in Freiheit verbringen, bevor sie hingerichtet wurden. Ganz selten kam es vor, dass jemand, den man schon lange für tot gehalten hatte, plötzlich wie ein Geist bei einer öffentlichen Verhandlung erschien, wo er dann aufgrund seiner Aussagen Hunderte anderer belastete, ehe er von der Bildfläche verschwand, diesmal für immer. Withers jedoch war bereits eine Unperson. Er existierte nicht: Er hatte nie existiert. Winston kam zu dem Schluss, dass es nicht ausreichte, einfach die Zielrichtung der Rede des Großen Bruders ins Gegenteil zu verkehren. Besser wäre es, wenn die Rede von etwas handelte, das in keinem Zusammenhang zu dem ursprünglichen Thema stand.

Er könnte die Rede in die gängige Beschuldigung von Verrätern und Gedankenverbrechern umwandeln, aber das wäre ein bisschen zu offensichtlich; einen Sieg an der Front zu erfinden oder einen Erfolg bei der Überproduktion im Neunten Dreijahresplan könnte die Aufzeichnungen wiederum verkomplizieren. Was man brauchte, war ein reines Fantasieprodukt. Plötzlich kam ihm, wie gerufen sozusagen, das Bild eines gewissen Genossen Ogilvy in den Sinn, der kürzlich unter heldenhaften Umständen in der Schlacht gefallen war. Gelegentlich widmete der Große Bruder seinen Tagesbefehl dem Gedenken eines gewöhnlichen, einfachen Parteimitglieds, dessen Leben und Sterben er als nachahmenswertes Beispiel hochhielt. An diesem Tag sollte er des Genossen Ogilvy gedenken. Es gab zwar gar keinen Genossen Ogilvy, aber ein paar gedruckte Zeilen und einige gefälschte Fotografien würden diese Person flugs ins Leben rufen.

Winston dachte einen Moment nach, zog dann den Sprechschreiber zu sich und begann, im üblichen Stil des Großen Bruders zu diktieren: einem Stil, der gleichermaßen militärisch wie pedantisch und leicht nachzuahmen war, weil der Große Bruder gern Fragen stellte, um sie dann prompt selbst zu beantworten (»Welche Lehren ziehen wir aus diesem Sachverhalt, Genossen? Die Lehre – die auch ein Grundprinzip des Engsoz darstellt –, nämlich dass« usw. usw.).

Im Alter von drei Jahren hatte der Genosse Ogilvy sämtliches Spielzeug abgelehnt außer einer Trommel, einer Maschinenpistole und einem Modell eines Hubschraubers. Mit sechs – aufgrund einer Lockerung der Regeln ein Jahr früher als sonst üblich – war er den Spionen beigetreten; mit neun Jahren war er Zugführer geworden. Mit elf hatte er seinen Onkel bei der Gedankenpolizei denunziert, nachdem er ein Gespräch belauscht hatte, das seiner Ansicht nach kriminelle Absichten erkennen ließ. Mit siebzehn war er Bezirksleiter des Junioren-Anti-Sex-Bunds geworden. Mit neunzehn hatte er eine Handgranate entworfen, die daraufhin vom Ministerium für Frieden übernommen worden war und gleich beim ersten Testeinsatz einunddreißig eurasische Gefangene mit nur einem Schlag getötet hatte. Mit dreiundzwanzig war er im Kampf gefallen. Während eines Fluges über dem Indischen Ozean, im Gepäck wichtige Nachrichten, verfolgt von feindlichen Düsenjets, hatte er sich das Maschinengewehr umgehängt und war mitsamt den Nachrichten aus dem Hubschrauber ins Meer gesprungen – ein Ende, sagte der Große Bruder, über das man nicht nachdenken könne, ohne Neidgefühle zu hegen. Der Große Bruder fügte noch ein paar Worte hinzu, wie anständig und zielstrebig Genosse Ogilvy im Leben gewesen sei. Er war überzeugter Abstinenzler und Nichtraucher gewesen, hatte keine andere Erholung gekannt als täglich eine Stunde in der Sporthalle und hatte gelobt, zölibatär zu leben, war er doch überzeugt davon, dass die Ehe und die Versorgung einer Familie mit der Pflichterfüllung rund um die Uhr unvereinbar seien. Für ihn gab es keine anderen Gesprächsthemen als die Grundprinzipien des Engsoz und kein anderes Ziel im Leben als die Niederwerfung des eurasischen Feindes und die Jagd auf Spitzel, Saboteure, Gedankenverbrecher und Verräter aller Art.

Winston überlegte ernsthaft, ob er dem Genossen Ogilvy den Orden für besondere Dienste verleihen sollte: Letzten Endes entschied er sich dagegen, da dieser Schritt unnötige Querverweise nach sich ziehen würde.

Erneut schaute er zu seinem Konkurrenten in der gegenüberliegenden Nische hinüber. Etwas schien ihm mit Gewissheit zu sagen, dass Tillotson mit derselben Aufgabe beschäftigt war wie er. Man konnte unmöglich wissen, wessen Version schlussendlich übernommen werden würde, aber er war zutiefst davon überzeugt, dass es die seine sein würde. Genosse Ogilvy, der noch vor einer Stunde nicht einmal in der Vorstellung existiert hatte, war jetzt eine Tatsache. Es kam ihm eigenartig vor, dass man tote Menschen erschaffen konnte, nicht aber lebende. Genosse Ogilvy, der nie in der Gegenwart existiert hatte, existierte nun in der Vergangenheit, und sobald der Akt der Fälschung vergessen wäre, würde er genauso echt und nachweislich existieren wie Karl der Große und Julius Cäsar.

1984

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