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Achtes Kapitel
ОглавлениеDieser Gedanke, dass Sylvinet Lust gehabt haben könne, sich umzubringen, übertrug sich so leicht, wie eine Fliege sich in einem Spinngewebe verfängt, aus dem Vorstellungsvermögen der Mutter auf dasjenige Landrys hinüber. Er rannte hastig davon, um seinen Bruder aufzusuchen, und während er so dahin eilte, empfand er schweren Kummer und sprach zu sich selbst: »Vielleicht hatte die Mutter früher doch recht, wenn sie mir vorwarf, dass ich hartherzig sei. In dieser Stunde aber muss Sylvinet wohl ein schwer erkranktes Gemüt haben, dass er unserer armen Mutter und mir all diesen Schmerz bereiten kann.
Er lief nach allen Richtungen hin, ohne ihn zu finden; abwechselnd rief er laut seinen Namen, aber keine Antwort erfolgte; er befragte alle, die ihm begegneten, aber niemand konnte ihm eine Auskunft geben. Endlich kam er an den Ort, wo die Wiese mit dem Schilfgrund lag; er ging hinein, weil er sich hier einer Stelle erinnerte, die Sylvinet ganz besonders bevorzugte. Diese befand sich da, wo der Fluss einen großen Einschnitt in das Erdreich hineingerissen, und dabei zwei oder drei Erlen entwurzelt hatte, die noch mit emporgestreckten Wurzeln quer über dem Wasser lagen. Der Vater Barbeau hatte sie nicht fortschaffen wollen; er gab sie preis; weil sie in der Art, wie sie gestürzt waren, das Erdreich noch mit ihren Wurzeln zurückhielten, und das kam ihm sehr gelegen, denn nicht ein einziger Winter verging, ohne dass das Wasser nicht einen großen Schaden in dieser Wiese angerichtet hätte; jedes Jahr wurde ein Stück vom Ufer mit fortgeschwemmt.
Landry näherte sich also jenem Einschnitt, wie er und sein Bruder diese Stelle ihrer Schilfwiese zu benennen pflegten. Er nahm sich nicht die Zeit bis zu dem Winkel zu gehen, wo sie beide miteinander aus Rasenstücken, auf Steinen und Wurzelwerk gestützt, eine Treppe angelegt hatten. Er sprang gleich von oben hinunter, um so schnell wie möglich auf den Boden des Einschnittes zu gelangen, weil hier rechts vom Ufer so viel hohes Gesträuch und Kräuter wuchsen, dass sie über seinen Kopf hinaus ragten. Wenn sein Bruder auch hier gewesen wäre, so hätte er ihn, ohne hinein zu gehen, doch nicht entdecken können.
In großer Aufregung betrat er jetzt diese Stelle, denn es kam ihm nicht mehr aus dem Sinn, was seine Mutter ihm gesagt hatte: dass Sylvinet mit dem Gedanken umgehe seinem Leben ein Ende zu machen. Er durchsuchte wiederholt das Dickicht, schlug gegen die hohen Binsen, rief laut Sylvinets Namen und pfiff dem Hund, der dem Bruder jedenfalls gefolgt war, denn man hatte ihn den ganzen Tag über im Hause nicht gesehen, so wenig wie seinen jungen Gebieter.
Allein Landry mochte suchen und rufen, so viel er wollte, er war und blieb ganz allein an dieser Stelle. Da er ein Bursche war, der alles, was er tat, gründlich zu tun pflegte, und dabei auf alles bedacht war, was zweckdienlich sein konnte, untersuchte er die beiden Ufer, ob nicht irgendeine Spur von Fußstapfen zu entdecken sei, oder ob nicht das Erdreich an einer Stelle etwas mehr abgebröckelt war, als es sonst gewesen. Diese Untersuchung war ebenso traurig wie schwierig, denn es war etwa einen Monat her, dass Landry nicht mehr an diesem Ort gewesen war, und wenn er ihn auch so genau kannte, wie die eigne Hand, so vermochte er doch nicht herauszubringen, ob nicht irgendeine kleine Veränderung damit vorgegangen sei. Das ganze rechte Ufer war mit Gras bewachsen, und sogar auf dem Boden des Einschnittes waren überall aus dem Sand die Binsen und das Schilf so dicht emporgewuchert, dass auch nicht eine einzige Stelle von nur eines Fußes Breite aufzufinden war, wo man nach einer eingedrückten Spur hätte suchen können. Durch das viele Hin- und Hersuchen fand Landry indessen auf dem Boden die Fährte eines Hundes, und an einer anderen Stelle sogar das Gras so verdrückt, als ob Finot, oder irgendein Hund von derselben Größe sich dort niedergekauert hätte.
Dies war ein Umstand, der Landry viel zu denken gab, und noch einmal machte er sich daran, das abschüssige Ufer des Flusses zu untersuchen. Er glaubte im Erdreich einen ganz frischen Riss entdeckt zu haben, als ob jemand ihn bei einem Sprung mit dem Fuß verursacht hätte, oder indem er sich hinuntergleiten ließ. Die Sache war durchaus nicht klar, denn ebensogut konnte der Riss von einer der großen Wasserratten herrühren, die an solchen Stellen, nach Nahrung suchend, wühlen und nagen. Landry aber geriet dadurch in so große Angst, dass er sich nicht mehr auf den Füßen zu erhalten vermochte. Er warf sich auf die Knie, wie um sich Gott zu empfehlen.
Eine Zeit lang verblieb er in dieser Stellung, denn er hatte weder Kraft noch Mut sich aufzumachen, um es irgendeinem Menschen sagen zu können, was ihn in solche Todesangst versetzte. Die Augen von Tränen geschwollen, betrachtete er den Fluss, als hätte er Rechenschaft von ihm fordern wollen, was er aus seinem Bruder gemacht habe.
Der Fluss rauschte indessen ruhig fort, über die Zweige schäumend, welche längs der Ufer nieder hingen und ins Wasser tauchten, bis er sich mit leisem Gemurmel zwischen Wiesen und Feldern verlor, wie jemand, der heimlicher Weise andere verspottend, kichert und lacht.
Der arme Landry gab sich den düstersten Gedanken an ein Unglück hin, und ließ sich davon überwältigen, bis sie ihm den Kopf verwirrten, dass er sich nach dem geringfügigsten Anschein, der ebensogut nichts bedeuten konnte, einen Zusammenhang ausmalte, um darüber an Gott zu verzweifeln.
»Dieser tückische Fluss! der mich im Schmerz vergehen sieht, ohne mir eine Auskunft zu geben!« dachte er; »und der ein ganzes Jahr lang meine Tränen ansehen würde, ohne mir meinen Bruder zurückzugeben! Gerade hier ist er am tiefsten und seitdem er die Wiese unterwühlt, ist so viel Gesträuch von den Bäumen in ihn hineingefallen, dass man sich nie wieder herausarbeiten könnte, wenn man sich da hinein wagen wollte. Mein Gott! könnte es möglich sein, dass mein Bruder tief unten da im Wasser läge, nur zwei Schritte weit von mir, und dass ich ihn doch nicht sehen und nicht wieder auffinden könnte zwischen alle dem Gezweig und dem Röhricht von Binsen und Schilf, wenn ich auch versuchen wollte da hinunter zu steigen?!«
Und nun begann er über seinen Bruder zu weinen und machte ihm sogar Vorwürfe, denn noch nie in seinem ganzen Leben hatte er einen so großen Schmerz empfunden.
Endlich kam er auf den Gedanken, sich Rat zu holen bei einer Frau, die eine alte Witwe war und ›Mutter Fadet‹ genannt wurde. Sie wohnte ganz am Ende der Schilfwiese, dicht an einem Weg, der an die Furt hinunter führte. Diese Frau besaß weder ein Feldstück noch irgendetwas anderes, als ihren kleinen Garten und ihr kleines Häuschen. Trotzdem ging sie nicht darauf aus sich ihr Brot bei anderen zu suchen, denn sie besaß große Kenntnisse, was die Schäden und Gebrechen der Menschen betrifft, und von allen Seiten kam man herbei, um sich ihren Rat zu holen. Sie war im Besitz geheimnisvoller Mittel, mit denen sie Wunden, Verrenkungen und andere Verstümmelungen zu heilen verstand. Sie tat wohl etwas zu groß damit, denn manchmal geschah es, dass sie jemanden von den seltsamsten Krankheiten befreit haben wollte, die er nie gehabt hatte. Ich, für meinen Teil, habe an alle diese Zauberkünste nicht recht geglaubt; ebensowenig an das, was man sich alles von ihr erzählte. Dass sie z. B. bewirken könne, dass die Milch von einer guten Kuh in den Körper einer schlechten übergehe, mochte diese auch noch so alt und ungenügend ernährt sein.
Aber sie verstand sich auch auf gute und wirksame Heilmittel, die sie gegen Erkältungen anwandte. Dann hatte sie unfehlbare Pflaster für Schnitt- und Brandwunden und selbstbereitete Tränke gegen das Fieber. So konnte es gar nicht zweifelhaft sein, dass sie sich ein schönes Stück Geld verdiente und auch eine Menge von Kranken wieder herstellte, welche durch die Ärzte umgebracht sein würden, wenn sie sich deren Heilmethode unterzogen hätten. Wenigstens sagte sie dies, und Personen, denen sie einmal geholfen hatte, zogen es auch für die Zukunft vor, lieber ihr zu glauben, als dass sie es mit den Ärzten gewagt hätten.
Da man auf dem Lande nie in den Ruf der Weisheit kommen kann, wenn man sich nicht auch etwas auf Zauberei versteht, waren viele der Meinung, die Mutter Fadet verstehe noch mehr davon, als sie es Wort haben wolle. So schrieb man ihr auch die Macht zu, verlorene Sachen, ja sogar verlorene Personen wieder auffinden zu können. Kurz, da sie vielen Verstand und ein tüchtiges Urteil besaß, um in manchen Fällen, wo es nicht gegen die Möglichkeit stritt, jemanden aus einer Verlegenheit herauszuhelfen, folgerte man des Weiteren daraus, dass sie auch das Unmögliche bewirken könne.
Wie die Kinder gern allerlei Arten von Erzählungen anhören, so hatte Landry in la Priche, wo die Leute bekanntlich leichtgläubiger und einfältiger sind, als in la Cosse, davon reden hören, dass die Mutter Fadet, vermittelst eines gewissen Samenkornes, welches sie, einige Worte dabei murmelnd, ins Wasser werfe, den Leichnam eines Ertrunkenen wieder auffinden könne. Das Samenkorn schwamm dann obenauf und glitt mit dem Wasser fort, und an der Stelle, wo man es endlich liegen bleiben sah, konnte man sicher sein, den Körper des Verunglückten zu finden. Es gibt viele, die da glauben, dass geweihtes Brot dieselbe Eigenschaft habe, und es wird kaum eine Mühle geben, wo man nicht stets ein solches zu diesem Zwecke aufbewahrte. Landry indessen hatte keins, aber die Mutter Fadet wohnte ja ganz nahe bei der Wiese, und die Macht des Kummers schließt lange Überlegungen aus.
Wir sehen also Landry auf die Behausung der Mutter Fadet zu eilen. Er klagte ihr seine Not und bat sie mit ihm zu gehen, bis zu dem verhängnisvollen Einschnitt am Ufer des Flusses, um zu versuchen, ob sie ihm durch ihr Geheimmittel nicht dazu verhelfen könne, seinen Bruder wieder aufzufinden, sei es nun tot oder lebendig.
Mutter Fadet, der es durchaus nicht angenehm war, wenn ihr Ruhm übertrieben wurde, und die ihre Künste auch nicht gern umsonst benutzen ließ, lachte ihn aus und hieß ihn mit ziemlich barschen Worten weiter gehen. Es war ihr nicht recht gewesen, dass man auf dem Zwillingshof, wenn die Frau der Entbindung nahe war, nicht sie, sondern die Sagette hatte kommen lassen.
Landry, der eine etwas stolze Natur war, würde zu jeder anderen Zeit vielleicht eine entsprechende Antwort gegeben haben, oder böse geworden sein. Jetzt aber war er so gebeugt, dass er ohne ein Wort der Erwiderung sich umwandte und nach dem Einschnitt zurückkehrte. Er war fest entschlossen auf dem Grund des Flusses nachzusehen, obgleich er weder schwimmen noch untertauchen konnte. Wie er so mit gesenktem Kopf und zu Boden gerichteten Blicken dahinschritt, fühlte er plötzlich, dass ihn jemand auf die Schultern schlug; als er sich umwandte, erblickte er die Enkelin der Mutter Fadet, welche in der Gegend die kleine Fadette genannt wurde, teils weil dies ihr Familienname war, und teils, weil man meinte, dass sie auch etwas von der Zauberei verstehe. Es wird allen bekannt sein, dass Fadet oder der Farfadetto, an anderen Orten auch Poltergeist genannt, ein sehr niedlicher, aber etwas boshafter Kobold ist. Man nennt auch die Feen so, an die man aber bei uns zu Lande nicht recht mehr glauben will. Aber, was eine Fee, oder ein weiblicher Kobold sei, würde jeder beim Anblick der kleinen Fadette leicht begriffen haben. Sie war so klein, so mager, war so keck und hatte ein so zerzaustes Haar, dass jeder, der sie sah, einen Poltergeist vor sich zu haben glaubte. Sie war ein redseliges Kind von spöttischem Wesen, leicht beweglich wie ein Schmetterling, neugierig wie ein Rotkehlchen und sonnenverbrannt wie eine Grille.
Wenn ich die kleine Fadette mit einer Grille vergleiche, so will ich damit sagen, dass sie nichts weniger als schön war, denn diese arme kleine zirpende Sängerin der Felder ist noch hässlicher als die Heimchen an unserem Herde. Und doch, wer sich noch aus seiner Kinderzeit daran erinnert, mit einer Grille gespielt zu haben, sie in seinem Holzpantoffel herum rasen und schreien ließ, der wird es wissen, dass ihr Gesichtchen nicht eben dumm aussieht, und dass sie eher Lachlust als Zorn erregt. So kam es, dass die Kinder von la Cosse, die nicht einfältiger sind als andere, und auch eben so rasch damit bei der Hand sind, Ähnlichkeiten aufzufinden und Vergleiche anzustellen, die kleine Fadette, wenn sie diese in Zorn bringen wollten, die Grille nannten. Sie taten dies sogar manchmal aus Zuneigung; denn, obgleich sie dieselbe wegen ihrer Schelmerei ein wenig fürchteten, so waren sie ihr doch durchaus nicht abgeneigt, weil sie ihnen allerlei hübsche Geschichten zu erzählen, und immer wieder neue Spiele zu zeigen wusste, denn sie hatte einen erfinderischen Geist.
Aber über allen diesen Namen und Spitznamen hätte ich beinah vergessen ihren wirklichen Namen zu nennen, den sie in der Taufe erhalten hatte, und den meine verehrten Leser später vielleicht doch gern wissen möchten. Sie hieß also Franziska, und ihre Großmutter, die es nicht leiden konnte, die Namen zu verdrehen, nannte sie deshalb immer Fränzchen.
Da schon seit langer Zeit zwischen den Leuten auf dem Zwillingshof und der Mutter Fadet eine gewisse Spannung herrschte, redeten die Zwillinge nicht viel mit der kleinen Fadette, ja, sie legten sogar ihr gegenüber eine gewisse Entfremdung an den Tag. Sie hatten nie sehr gern mit ihr gespielt; ebensowenig mit ihrem Bruder, dem Grashüpfer, der noch magerer und boshafter war als sie, und der ihr überall am Rock hing; wenn sie fortlief, ohne auf ihn zu warten, wurde er böse, und wenn sie sich über ihn lustig machte, geriet er in einen solchen Zorn, wie man ihn einem so kleinen Bengel nicht hätte zutrauen sollen, und versuchte es, mit Steinen nach ihr zu werfen. Sie ärgerte sich oft mehr über ihn, als sie selbst es wollte, denn sie war von heiterer Gemütsart und mochte gern über alles hinweglachen. In Bezug auf die Mutter Fadet machte man sich in der Gegend solche Vorstellungen, dass es gewisse Leute gab, und ganz besonders im Hause des Vaters Barbeau, die sich einbildeten, dass es ihnen Unglück bringen würde, wenn sie mit der Grille und dem Grashüpfer, oder wenn man es lieber hört, mit dem Heimchen und dem Heupferd, zu vielen Verkehr hielten. Dies verhinderte jedoch die Zwillinge nicht mit den beiden zu reden, denn sie ließen sich nicht so leicht in Schrecken jagen. Auch verfehlte die kleine Fadette nicht, sobald sie die beiden Brüder vom Zwillingshof herankommen sah, sich ihnen schon von Weitem mit allerlei Possen und Neckereien zu nähern.