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Siebenzehntes Kapitel
ОглавлениеLandry ging mit seinem Bruder nach Hause, um zu Abend zu essen; da dieser sehr besorgt war wegen der Vorfälle des heutigen Tages, erzählte ihm Landry von den Neckereien, die er gestern Abend mit dem Irrlicht zu bestehen gehabt hatte, und wie die kleine Fadette ihn aus seiner Not erlöst habe, sei's nun durch ihren Mut oder durch Zauberei. Schließlich fügte er hinzu, daß sie als Belohnung von ihm verlangt habe, er solle auf dem Fest des heiligen Andoche siebenmal mit ihr tanzen. Von allem übrigen sprach er nicht, denn sein Bruder sollte es nie erfahren, welche Angst er im vorigen Jahre um ihn ausgestanden hatte, als er glaubte Sylvinet könne ertrunken sein, und er werde ihn nur als Leiche im Wasser wieder finden. Er that sehr klug daran dies zu verschweigen, denn haben die Kinder sich einmal derartig schlimme Gedanken in den Kopf gesetzt, so kommen sie leicht darauf zurück, wenn man sie merken läßt, daß man denselben irgend einen Ernst beilegt.
Sylvinet billigte es, daß sein Bruder der Fadette gegenüber Wort gehalten hatte, und er sagte ihm auch, daß die Verdrießlichkeiten, die er sich dadurch zugezogen, die ihm gebührende Achtung nur vermehren könnten. Aber so sehr er auch in Schrecken geriet, als Landry ihm die Gefahr schilderte, der er im Flusse ausgesetzt gewesen war, so fehlte es ihm doch an der gebührenden Erkenntlichkeit für die kleine Fadette. Seine Abneigung gegen sie war so groß, daß es ihm unmöglich war zu glauben, sie habe seinen Bruder nur zufällig dort gefunden, und daß sie ihm wirklich aus gutem Herzen zu Hilfe gekommen sei:
»Sie wird es gewesen sein,« sagte er zu Landry, »die das Irrlicht heraufbeschworen hatte, um dir den Geist zu verwirren, damit du ertrinken solltest. Aber Gott hat es nicht zugegeben, da du dich weder in der Vergangenheit noch jetzt, im Stande der Todsünde befunden hast. Dabei hat diese böse Grille, dein gutes Herz und deine Erkenntlichkeit mißbrauchend, sich ein Versprechen von dir geben lassen, von dem sie wußte, daß es für dich sehr unangenehme und nachteilige Folgen haben mußte. Sie ist also ein böses Geschöpf. Alle Zauberschwestern sind dem Bösen ergeben, und es giebt gar keine gute unter ihnen. Sie wußte recht gut, daß sie dich mit der Madelon und mit deinen angesehenen Bekanntschaften auseinander bringen würde. Sie wollte es auch so anzetteln, daß es zu einer Prügelei kommen sollte, und wenn der liebe Gott dich nicht zum zweitenmale gegen sie in Schutz genommen hätte, hättest du sehr leicht in böse Händel verwickelt werden können, die noch weiteres Unglück über dich gebracht hätten.«
Landry, der geneigt war durch die Augen seines Bruders zu sehen, machte kaum einen Versuch die kleine Fadette gegen ihn zu verteidigen. Sie plauderten miteinander über das Irrlicht, welches Sylvinet noch nie gesehen hatte, und er war sehr begierig etwas darüber zu erfahren, ohne jedoch den Wunsch zu haben es selbst zu sehen. Mit ihrer Mutter wagten sie aber nicht davon zu reden, denn diese fürchtete sich schon, wenn sie nur an ein Irrlicht dachte. Auch ihrem Vater erzählten sie nichts davon, weil er nur darüber lachen würde, denn er hatte schon mehr als zwanzig Irrlichter gesehen, ohne darauf zu achten.
Es sollte auf dem Fest noch bis in die Nacht hinein getanzt werden. Aber Landry, dem das Herz schwer war, weil er alle Ursache hatte auf die Madelon böse zu sein, wollte von der Freiheit, welche ihm die kleine Fadette zurückgegeben hatte, keinen Gebrauch machen. Er half lieber seinem Bruder das Vieh von der Weide holen; und da ihn dies schon auf die Hälfte des Weges nach la Priche führte, und ihn ohnehin der Kopf schmerzte, wünschte er seinem Bruder am Ende der Schilfwiese für heute eine gute Nacht. Sylvinet wollte es durchaus nicht leiden, daß Landry seinen Weg durch die Strudelfurt nehmen sollte, aus Furcht das Irrlicht oder die Grille könnten ihm wiederum irgend einen bösen Streich spielen. Er mußte also Sylvinet das Versprechen geben, daß er einen Umweg machen, und über den Steg bei der großen Mühle gehen wolle.
Landry that dies seinem Bruder zu Gefallen, und statt quer über die Schilfwiese zu gehen, stieg er den Abhang hinunter, der sich am Hügel von Chaumois hinzieht. Er empfand nichts von Furcht, weil noch immer das Geräusch des Festes in der Luft erklang. Er hörte, wenn auch noch so schwach, die Töne des Dudelsackes und den Jubel der Tanzenden. Auch war es ihm wohl bekannt, daß die Geister ihr Wesen erst dann zu treiben beginnen, wenn alles in der Gegend im Schlafe liegt.
Als er den Fuß des Hügels erreicht hatte, rechts vom Steinbruch, hörte er eine Stimme jammern und weinen. Anfangs glaubte er, es könnten die Töne des Brachvogels sein. Aber je näher er kam, je mehr glaubte er in ihnen menschliche Klagen zu erkennen. Da es ihm nie an Herz und Mut gebrach, besonders, wenn es galt einem Wesen seiner Art zu Hilfe zu kommen, stieg er kühn in die tiefste Höhlung des Steinbruches hinab.
Aber das Geschöpf, von dem die Jammertöne ausgingen, verstummte, sobald es ihn nahen hörte.
»Wer weint hier denn so?« fragte er mit fester Stimme.
Es erfolgte nicht ein Laut der Antwort.
»Ist hier vielleicht jemand plötzlich von einer Krankheit befallen,« fragte er weiter.
Da wieder keine Antwort erfolgte, dachte er daran fort zu gehen; aber zuvor wollte er doch noch nachsehen unter den Steinen und zwischen den großen Disteln, welche den Ort überwucherten. Es dauerte nicht lange, so entdeckte er beim Schein des aufsteigenden Mondes eine menschliche Gestalt, der ganzen Länge nach auf dem Boden hingestreckt. Mit dem Gesicht nach unten gekehrt, lag sie regungslos da, als ob sie bereits tot gewesen wäre. Sei es nun, daß sie es wirklich beinah schon war, oder hatte sie sich vielleicht in überwältigendem Schmerz nur so dahingeworfen, und daß sie, um nicht erkannt zu werden, sich jetzt nicht mehr bewegen wollte.
Landry hatte noch niemals einen Toten gesehen und ebenso wenig berührt. Die Vorstellung, daß dies vielleicht eine Leiche sei, machte ihm einen furchtbaren Eindruck; aber er überwand sich mit dem Gedanken, daß er seinem Nächsten beistehen müsse; entschlossen tastete er nach der Hand der dahingestreckten Gestalt, welche sich, als ob sie sich entdeckt sehe, sobald er dicht an sie herangetreten war, halb aufrichtete; und als Landry ihr ins Gesicht sah, erkannte er die kleine Fadette.
Anfangs war er ärgerlich, überall auf seinem Wege die Fadette zu finden; aber da sie in großer Betrübnis zu sein schien, that sie ihm doch leid. So kam es, daß sich folgendes Gespräch unter ihnen entspann:
»Wie, Grille, du bist es, die hier so weinte? Hat dich jemand geschlagen, oder haben sie dich gar noch verfolgt, daß du so klagst und dich verbirgst?«
»Nein, Landry, seitdem du mich so mutig beschützt hast, hat es niemand mehr gewagt, mir etwas zu Leide zu thun. Ich versteckte mich hier, um zu weinen, das ist alles; denn man kann nichts dümmeres thun, als seinen Schmerz vor anderen zur Schau zu tragen.«
»Aber was bekümmert dich denn so sehr? Ist's noch wegen der Bosheiten, mit denen sie dich heute gequält haben? Ein wenig bist du freilich selbst Schuld daran gewesen; aber du mußt dich darüber trösten, und dich dem nicht wieder aussetzen.«
»Warum sagst du denn Landry, daß ich selbst schuld daran gewesen sei? War es etwa ein Schimpf für dich, daß ich wünschte mit dir zu tanzen, und bin ich es denn allein unter den Mädchen, das kein Vergnügen haben darf wie die anderen?«
»Das meine ich nicht, Fadette; ich will dir gar keinen Vorwurf daraus machen, daß du mit mir tanzen wolltest. Ich habe gethan, was du wünschtest, und ich habe mich dir gegenüber benommen, wie es recht war. Dein Unrecht ist nicht erst von heute, und du hast es nicht gegen mich begangen, sondern gegen dich selbst, das wirst du recht gut wissen.«
»Nein, Landry; so wahr ich Gott liebe! ich weiß nichts von einem solchen Unrecht; ich habe nie an mich selbst gedacht, und wenn ich mir etwas vorzuwerfen habe, so wäre es nur, daß ich dir wider meinen Willen Unannehmlichkeiten bereitet habe.«
»Wir wollen nicht von mir reden, Fadette; ich beklage mich nicht über dich; aber reden wir von dir. Und, da du dir keines Fehlers bewußt bist, willst du mir gestatten, daß ich dir offen und in aller Freundschaft sage, worin du gefehlt hast?«
»Ja, Landry, ich bitte dich, thue dies, und ich werde es als die beste Belohnung schätzen, oder als die beste Strafe betrachten, die du mir erteilen kannst für das Gute, oder das Böse, was ich dir gethan habe.«
»Nun, so höre, Fränzchen Fadet, da du so vernünftig sprichst, und da ich dich zum erstenmale in deinem Leben so sanft und so fügsam sehe, werde ich dir sagen, warum man dich nicht achtet, wie dies einem Mädchen von sechzehn Jahren zusteht. Das kommt also, weil du in deinen Mienen und in deinem Benehmen nichts von einem Mädchen an dir hast, und dich ganz und gar so gebärdest als ob du ein Knabe wärst; und dann bekümmerst du dich auch gar nicht darum, wie du aussiehst. Um damit anzufangen: du achtest nicht einmal darauf, daß deine Kleider reinlich und ordentlich sind; durch deinen Anzug und durch deine Art zu reden machst du dich wirklich häßlich. Du weißt recht gut, daß die Kinder dich oft mit einem noch viel unangenehmeren Namen rufen, als die Grille ist. Sie nennen dich oft die Schlange. Glaubst du denn, daß es schicklich ist, wenn man im Alter von sechzehn Jahren steht, und noch gar nicht aussieht, wie dies einem jungen Mädchen zukommt. Du kletterst wie ein Eichhörnchen auf die Bäume, und wenn du auf ein ungesatteltes Pferd springst, zwingst du es zum Galopp, als ob der leibhaftige Teufel darauf säße. Es ist sehr schön, wenn man stark und gewandt ist; es ist auch sehr gut, sich vor nichts zu fürchten, aber das alles sind die natürlichen Vorzüge für einen Mann. Für eine Frau sind sie überflüssig, und du giebst dir dadurch nur den Anschein, als ob du dich bemerkbar machen wolltest. Und du erregst auch Aufsehen; man neckt dich und ruft hinter dir her, wie man es bei den Wölfen thut. Du bist klug und verstehst dich darauf boshafte Antworten zu geben, die belacht werden, aber nur von solchen, auf die sie nicht gemünzt sind. Es ist gewiß auch etwas recht Schönes, den anderen an Verstand überlegen zu sein, aber, wenn man dies zuviel merken läßt, macht man sich Feinde. Du bist neugierig, und wenn es dir gelungen ist, die Geheimnisse anderer zu erspähen, wirfst du sie ihnen rücksichtslos an den Kopf, sobald du dich über sie zu beklagen hast. Aus diesen Gründen bist du gefürchtet, und wen man fürchtet, den verabscheut man. Man giebt es ihm schließlich schlimmer zurück, als er es selbst getrieben hat. Ob du nun schließlich eine Hexe bist oder nicht: ich will glauben, daß du Kenntnisse besitzest, aber hoffentlich hast du dich nicht den bösen Geistern verschrieben. Du trachtest darnach, dich mit einem Schein zu umgeben, als ob es so wäre, um diejenigen zu erschrecken, die dich ärgern, und dich selbst bringst du dadurch in einen recht bösen Ruf. Da habe ich dir nun alle deine Fehler genannt, Fränzchen Fadet, und da kann es dir klar werden, warum die Leute dir Unrecht thun und dich kränken. Denke ein wenig über die Sache nach, und du wirst sehen, wenn du dich etwas mehr nach den anderen richten wolltest, würden sie deinen Verstand, der dem ihrigen überlegen ist, mehr zu schätzen wissen.«
»Ich danke dir, Landry,« sagte die Fadette mit sehr ernster Miene, nachdem sie den Zwilling mit der größten Aufmerksamkeit angehört hatte. »Du hast mir beinah alles gesagt, was die Leute mir vorwerfen, und du hast es mit großer Aufrichtigkeit und Schonung gethan, wie es die anderen nicht thun; aber darf ich dir jetzt auch sagen, was ich darauf zu erwidern habe, und willst du dich, um mich anzuhören, einen Augenblick hier neben mich setzen?«
»Der Ort ist grade nicht besonders angenehm,« sagte Landry, der sich keineswegs gern lange mit ihr aufhalten mochte, und dem es auch gar nicht aus dem Sinne kam, daß sie im Verdacht stand denen, die nicht vor ihr auf der Hut waren, irgend ein böses Geschick anzuzaubern.
»Du findest den Ort nicht angenehm?« hob sie wieder an; »das kommt, weil ihr reichen Leute so verwöhnt seid. Ihr müßt einen schönen Rasen haben, wenn ihr euch draußen niedersetzen wollt, und in eueren Wiesen und in eueren Gärten könnt ihr euch ja die schönsten und schattigsten Stellen dazu aussuchen. Aber wer nichts hat, der macht nicht so viele Ansprüche an den lieben Gott, der begnügt sich mit dem ersten besten Stein, um sein Haupt darauf niederzulegen. Die Füße der Armen wissen nichts von den Dornen, und wo sie sich auch aufhalten mögen, da haben sie einen offenen Blick für alles, was es Schönes und Liebliches giebt am Himmel und auf Erden. Für solche, Landry, welche die nützlichen und angenehmen Eigenschaften aller von Gott erschaffenen Dinge kennen, giebt es keinen häßlichen Ort. Ich, ich weiß es, ohne eine Hexe zu sein, wozu die geringsten Kräuter, die du unter deinen Füßen zertrittst, gut sind. Und, wenn ich ihren Wert kenne, dann betrachte ich sie, ohne mich durch ihren Geruch, oder ihre Form abschrecken zu lassen. Ich sage dir dies, Landry, um dich gleich noch über etwas anderes zu belehren, das sich ebenso gut auf die Gemütsart christlicher Seelen anwenden läßt, als auf die Blumen in den Gärten und auf das Dornengestrüpp in den Steinbrüchen. Also höre: Gar oft verachtet man, was dem Anschein nach weder schön noch gut ist, und beraubt sich dadurch des Heilsamen und Nützlichen.«
»Ich verstehe nicht recht, was du eigentlich sagen willst,« sagte Landry, indem er sich neben sie setzte.
Einen Augenblick verweilten sie so, ohne zu sprechen, denn der Geist der kleinen Fadette hatte sich zu Ideen verstiegen, welche Landry durchaus fremd waren. Aber obgleich es ihm etwas wirr davon im Kopfe wurde, konnte er sich doch nicht erwehren, den Reden dieses Mädchens mit Vergnügen zuzuhören. Noch nie hatte er eine so sanfte Stimme und so wohlgeordnete Reden gehört, wie die kleine Fadette sie in diesem Augenblick an ihn richtete.
»Höre, Landry,« sprach sie weiter, »ich bin mehr zu beklagen als zu tadeln; und wenn ich ein Unrecht gegen mich selbst begangen habe, so habe ich wenigstens anderen niemals ein ernstliches zugefügt, und wenn die Leute gerecht und vernünftig wären, dann würden sie mehr auf mein gutes Herz, als auf mein häßliches Gesicht und auf meine schlechten Kleider sehen. Bedenke einmal, oder höre jetzt, wenn du es noch nicht weißt, welch ein Los mir zugefallen ist, seitdem ich in der Welt bin. Ich werde dir nichts Böses sagen von meiner armen Mutter, die von jedermann getadelt und geschimpft wird, obgleich sie nicht da ist, um sich verteidigen zu können. Ich kann es auch nicht, da ich nicht einmal recht weiß, was sie Böses gethan haben soll, und was sie dazu getrieben haben mag. Von meiner armen Mutter also werde ich dir nichts Böses sagen. Die Leute sind aber so schlecht, daß damals, als meine Mutter mich kaum verlassen hatte, und ich noch bitterlich darüber weinte, die anderen Kinder, wenn sie das geringste gegen mich hatten, mir das Vergehen meiner Mutter vorwarfen. Mochte es beim Spiel oder sonst wegen irgend einer Kleinigkeit sein, die sie sich untereinander rasch verziehen hätten, gleich wollten sie mich zwingen, daß ich mich meiner Mutter schämen sollte. Ein vernünftiges Mädchen, wie du es nennst, würde sich vielleicht so weit erniedrigt haben zu schweigen, und sich mit dem Gedanken getröstet haben, daß es klüger sei, die Sache ihrer Mutter aufzugeben und sie beschimpfen zu lassen, um sich selbst vor weiteren Unannehmlichkeiten zu bewahren. Aber sieh, mir war das unmöglich. Das wäre mehr gewesen, als ich hätte ertragen können. Meine Mutter ist und bleibt immer meine Mutter, und was man ihr auch vorwerfen mag, ob ich sie je wieder finde, oder ob ich niemals mehr etwas von ihr höre noch sehe, ich werde nicht aufhören, sie stets mit der ganzen Kraft meines Herzens zu lieben. Wenn man mich das Kind einer Landstreicherin oder einer Marketenderin schimpft, dann gerate ich in Zorn, aber nicht meinetwegen, sondern wegen jener armen, teuren Frau, die es meine Pflicht ist zu verteidigen. Ich weiß ja, daß ich nichts Böses gethan habe, und so können die schnöden Reden mich selbst auch nicht beleidigen. Und wenn ich meine Mutter nicht verteidigen kann, oder es nicht verstehe, dann räche ich sie, indem ich den anderen die Wahrheit sage, wie sie es verdienen, und ihnen beweise, daß sie nicht mehr wert sind als solche, auf die sie den Stein werfen. Da weißt du nun, warum sie mich neugierig und unverschämt nennen, und warum ich ihre Geheimnisse belauere und sie ausplaudere. Es ist wahr, der liebe Gott hat mich neugierig erschaffen, wenn es Neugierde ist, das Verlangen zu haben, die verborgenen Dinge kennen zu lernen. Aber hätte man mich gut und menschlich behandelt, dann würde ich nicht daran gedacht haben, meine Neugierde auf Kosten meiner Nebenmenschen zu befriedigen. Ich würde meine Wißbegierde darauf beschränkt haben, die Geheimnisse zur Heilung des menschlichen Körpers kennen zu lernen, worin meine Großmutter mich unterrichtet. Die Blumen, die Kräuter, die Insekten, alle die verschiedenen Geheimnisse der Natur, daran würde ich schon genug gehabt haben, um mich zu beschäftigen und zu vergnügen, besonders, da ich ja so gern überall spähend umherschweife. Ich hätte immer allein sein können, ohne zu erfahren, was Langeweile sei, denn es ist mein größtes Vergnügen, einsame Orte aufzusuchen, um dort über tausenderlei Dinge nachzugrübeln, von denen ich niemals reden hörte, selbst nicht von Personen, die sich dünken sehr weise und vielwissend zu sein. Wenn ich mich auf den Verkehr mit den Menschen einließ, so geschah dies, weil ich mich ihnen gern hätte nützlich erzeigen mögen mit den kleinen Kenntnissen, die ich von meiner Großmutter habe, und aus denen diese selbst oft ihren Gewinn zieht, ohne etwas davon zu sagen. Aber statt mir einfach und aufrichtig dafür zu danken, wenn ich bei den Kindern meines Alters Wunden und Krankheiten heilte, und sie über die Heilmittel belehrte, ohne je eine Belohnung dafür zu verlangen, that man als ob ich eine Hexe sei, und diejenigen, die ganz harmlos, sanft und demütig bittend herankamen, wenn sie mich brauchen konnten, warfen mir später bei der ersten besten Gelegenheit nichts als Schmähungen an den Kopf.
»Das brachte mich in Zorn, und ich hätte ihnen schaden können, denn so gut wie mir Mittel bekannt sind, mit denen ich Gutes bewirken kann, kenne ich auch solche, die das Übel schaffen und Schaden anrichten können, und dennoch habe ich niemals einen Gebrauch davon gemacht. Ich weiß nichts von heimtückischem Nachtragen, und wenn ich mich durch Worte räche, so geschieht dies, weil es mir Erleichterung verschafft, wenn ich alles gleich heraussage, wie es mir auf die Zunge kommt, und darnach denke ich nicht mehr daran und verzeihe, wie es uns von Gott geboten wird. Wenn ich wenig Sorgfalt auf meine Person und auf mein Benehmen verwende, so sollte man darin einen Beweis erkennen, daß ich nicht so thöricht bin, mich für schön zu halten, sondern, daß ich weiß, wie häßlich ich bin, und daß mich niemand ansehen mag. Man hat es mir oft genug gesagt, daß ich es also wohl wissen kann; und da ich sehe, wie hart und geringschätzig die Leute gegen solche sind, die vom lieben Gott, was das Äußere anbetrifft, nicht gut ausgestattet sind, habe ich mir ein Vergnügen daraus gemacht, ihnen zu mißfallen. Im übrigen tröste ich mich damit, daß mein Gesicht für den lieben Gott und meinen Schutzengel nichts Abstoßendes haben wird, die mir aus meiner Häßlichkeit keinen Vorwurf machen werden, so wenig, wie ich mich selbst darüber beklage. Auch bin ich keine von denen, die da sagen: ›Seht da, eine Raupe; welch ein garstiges Tier sie ist! Man muß sie töten.‹ Mir fällt es nicht ein, so ein armes Geschöpf des lieben Gottes zu zertreten; und wenn eine Raupe ins Wasser fällt, reiche ich ihr ein Blatt hin, damit sie sich wieder heraushelfen kann. Deshalb sagt man nun von mir, daß ich die schädlichen Tiere liebe, und daß ich eine Hexe sei, weil ich einen Frosch nicht quälen mag, weil ich einer Wespe die Beine nicht ausreißen und eine lebendige Fledermaus nicht an einen Baumstamm nageln mag! ›Armes Tier,‹ sage ich ihr, ›wenn alles getötet werden müßte, was häßlich ist, dann habe ich so wenig ein Recht zu leben, wie du.‹«