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Prolog

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2006

Der Anruf erreichte Christoph Senz kurz vor 21:00 Uhr. Er hatte sich gerade hingelegt, würde noch ein wenig in eine Verfilmung eines Simmel-Romans sehen, bevor er das Licht löschte. Mitten in der Nacht, gegen 2:00 Uhr würde ihn der Wecker wieder hochscheuchen. Nicht, dass er seine Arbeit in der Bäckerei sonderlich liebte. Es war ein Knochenjob, der einem alles abverlangte. Ein schrilles Klingeln schreckte ihn hoch. Er brauchte einige Sekunden, bis er feststellte, dass es nicht der Wecker, sondern das Telefon war.

»Adam hier, Christoph …«

Adam Silarski. Christoph Senz hatte seit seiner plötzlichen Abreise aus der Beelitzer Hans-Joachim-von-Zieten-Kaserne nichts mehr von Silarski und den anderen Kumpels gehört. Seine Gedanken drehten sich in Sekunden. Er hatte versucht, die Jungs einschließlich aller unangenehmen Begebenheiten, die ihm in der verhassten Kaserne widerfahren waren, zu verdrängen. Zuerst hatte er im Schlaf von ihnen geträumt, war mehrfach schweißgebadet hochgefahren. Aber das flachte mit der Zeit ab, Gott sei Dank. Silarski war der knochige Typ, der über die Tatsache, dass Christoph unter Depressionen litt, lästerte, der ihm riet, bei der Vorstellung beim Militär-Psychiater zu behaupten, homophil zu sein, um ausgemustert zu werden.

»Adam … Adam Silarski?«, fragte Senz stockend.

»Da staunst du, was?«

»Wo bist du? In Dresden?«

Silarski lachte auf. »Mazar-e Sharif trifft es eher! Hörst du?«

Christoph Senz hörte im Hintergrund eine jaulende Stimme. »Was ist das für ein Geräusch?«

»Der Ruf des Muezzins vom Minarett der Blauen Moschee.«

»Und da rufst du mich an? Was ist passiert? Hast du beim Wecken den Mülleimer wieder laut polternd durch den Korridor geworfen?« Es sollte sarkastisch klingen. Senz verpasste aber den notwendigen ironischen Unterton. Stattdessen klang es eher kläglich in den Ohren des rund 4.500 Kilometer entfernten Adam Silarski.

»Ich wollte dir nur sagen, einer unserer gemeinsamen Kameraden aus Beelitz ist tot. Er wird, zusammen mit einem gefallenen Kameraden der Fallschirmspringer, in den nächsten Tagen nach Deutschland überführt werden. Vielleicht möchtest du sie bei der Ankunft begrüßen.«

Es war, als hätte Senz der Schlag getroffen. War es ihm gelungen, dieses Damoklesschwert stets drohender Gefahr auf seinen Leib, seine Psyche und sein Leben aus seinem Bewusstsein zu verdrängen, jetzt hatte es ihn wie mit einem Paukenschlag eingeholt.

»Du solltest damit keinen Scherz treiben, Adam. Woher hast du überhaupt meine Telefonnummer?«

»Jerôme hat sie mir gegeben. Er hat gesagt, ich solle dich verständigen, falls ihm etwas passiere.«

Jerôme Mohrs Gesicht tauchte in seinen Gedanken vor ihm auf, ein feiner Kerl, den sie anfänglich etwas abschätzend »den Jidd« nannten, obwohl ihm seine jüdische Herkunft nicht anzusehen war. Nicht mal beschnitten war er, wie bei gläubigen Juden üblich. Nur das Formular mit dem Namen seines Vaters hatte ihn verraten. Samuel Mohr. Wer in Gottes Namen hieß heute in Deutschland noch Samuel? Und dann hatte dieser Jidd erzählt, was seiner Familie im Namen des deutschen Volkes angetan wurde. Erst als er Kostproben der herrlichen Leckereien verteilte, die er aus der Schokoladenmanufaktur herumreichte, die sein Großvater Israel Mohr 1886 in Leipzig gegründet hatte, war es den Jungen egal, ob Jerôme jüdische Wurzeln hatte.

»Jerôme? Was ist ihm passiert?«

»Der Hubschrauber, der eine Gruppe von Kunduz nach Baghlan fliegen sollte, ist abgeschmiert. Alle sieben Insassen sind tot. Auch Jerôme.«

»Mein Gott!«, entfuhr es Senz. »Mein Gott!«

»Welcher? Der der Christen?«, fragte Adam Silarski spöttisch. »Jahwe, der Gott der Juden, oder vielleicht Allah? Welcher ist für diese Scheiße verantwortlich? Sag es mir!«

»Ich weiß es nicht, Adam. Es wird jener Gott sein, der sich immer hinter einer Wolke versteckt, wenn irgendjemand Hilfe benötigt.«

»Ist es doch angeblich ein Gott, der für alle gleichermaßen da sein sollte … Die Bundeswehr geht derweil weiter von einem technischen Problem im Getriebe des Hauptrotors des CH 53GS als Absturzursache aus. Zwischen Baghlan und Kunduz wurden die Wrackteile des Helikopters eingesammelt und für den Rücktransport vorbereitet.«

»Wo kommt denn das Flugzeug an, das Jerôme zurückbringt?«

»Das ist noch nicht sicher. Eine meiner Quellen sagt, es würde auf dem Flughafen Köln/Bonn landen. Dort gibt es ein Bundeswehrgelände mit Hallen, die man auch für die Trauerfeier von toten Soldaten nutzt. Ein anderer vermutete etwas ganz anderes. Derzeit landen offenbar immer mittwochs in Leipzig/Halle Flugzeuge der Bundeswehr, die aus Afghanistan kommen. Soldaten kehren zurück, Ausrüstung wird ab- und aufgeladen. Dafür nutzt die Bundeswehr auch eine eigens dafür angemietete Halle. Ich werde mich bemühen und dir schnellstens Bescheid sagen, wo die traurige Fracht hingeht.«

»Ja, tu das, Adam. Und … danke, dass du mich angerufen hast.«

»Es war Jerômes Wunsch.«

»Nochmals danke.«

Ich hätte Adam nach der Möglichkeit fragen sollen, ihn zu erreichen, dachte Christoph Senz, nachdem er aufgelegt hatte.

Jerôme tot? Der Psychiater in Leipzig war ein weiser Mann gewesen. Nur ein weiser Mann war in der Lage zu erkennen, in welchem Zustand ich mich befand. Wäre ich nicht ausgemustert worden, hätte die Möglichkeit bestanden, in diesem lausigen Hubschrauber mit den anderen Kameraden unterzugehen.

Er dachte an seine Großeltern. Sein Großvater, der als Chefarzt in einer Klinik gearbeitet hatte, die zu Zeiten der glorreichen DDR einem Bergbau in der Lausitz angeschlossen war, hatte ihn wie einen leiblichen Sohn aufgezogen, nachdem sich seine Mutter von seinem Erzeuger nach nur zweijähriger Gemeinsamkeit trennte.

Es heißt oft, wer eine solche Familie hat, braucht keine Feinde. Bei ihm war das anders. Die Familie war es, die ihn immer wieder auffing, wenn etwas schief lief. Und schief lief bei ihm dauernd etwas. Irgendwann hatte selbst sein ihm wirklich bisher alles verzeihender Großvater erkannt, dass da etwas zwischen Faulheit und mangelndem Selbstbewusstsein angesiedelt war, das seinen Enkel in immer ausweglosere Situationen brachte. Als Kardiologe konnte er sich anfangs keinen Reim darauf machen. Später vermutete er aber, dass Christoph unter psychischen Störungen litt. Und die Einschätzung von Christophs Onkel, der eine große Landpraxis für Allgemeinmedizin in Mecklenburg-Vorpommern betrieb, würde ihn später dazu bringen, sich in eine psychiatrische Behandlung zu begeben, die ihn weitgehend wieder auf die Reihe bringen würde. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg.

Dann kam ihm seine Mutter in den Sinn. Als Kind hatte er sie geradezu abgöttisch geliebt. Sie war ihm Mutter und Vater zugleich. Alles, was er besaß, hatte sie ihm geschenkt, vor allem aber Liebe. Wie, so fragte er sich, hätte sie reagiert, wenn Adam Silarski ihr seinen Tod hätte vermelden müssen?


*


Am Tag darauf meldete sich Silarski noch einmal. »Die gefallenen Kameraden, die nach Deutschland überführt werden sollen, stammen aus Thüringen, Brandenburg und, wie Jerôme, aus Sachsen. Neben der US-Armee nutzt auch die Bundeswehr den Flughafen Leipzig/Halle als Drehkreuz für regelmäßige Militärtransporte. Es gibt in Leipzig eine Aktionsgemeinschaft Flughafen – NATO-frei. Ruf dort an und frage, ob man weiß, dass diese Maschine in Leipzig abgefertigt wird.«

Silarski nannte ihm noch eine Telefonnummer, die Christoph Senz schnell notierte. Dann brach die Verbindung ab. Nur das Rauschen aus dem unendlichen Weltraum war noch vernehmbar.

Senz wählte die Leipziger Nummer.

»Aktionsgemeinschaft Flughafen – NATO-frei, guten Tag. Was können wir für Sie tun?«

Christoph Senz schilderte den Fall der Rückführung seiner toten Kameraden aus Afghanistan und den Verdacht, dass die Särge möglicherweise in Leipzig ausgeladen werden könnten.

»Wir beobachten diese Flüge bereits seit Jahren. Jeden Mittwoch gegen 19:00 Uhr landet ein Airbus der Luftwaffe mit Soldaten an Bord, die in Afghanistan im Einsatz waren. Meist folgt auch eine Transall-Maschine, die offenbar zum Transport von Ausrüstung genutzt wird. Da wir keine Auskunftszeiten von offizieller Seite bekommen, haben wir die Presse eingeschaltet. Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums bestätigte diese Flüge. Es hieß, sie dienten überwiegend dem Transport von Material und Soldaten sowie der Ausbildung von Flugzeug-Crews. Mehr war nicht zu erfahren. Aber uns reicht das schon, um dagegen zu protestieren.«

»Proteste?« Christoph Senz lachte heiser auf. »Bringt denn das überhaupt etwas?«

»Na ja, wir haben prominente Unterstützer. Der Luftfahrtrechtler Giemulla wertete in einem Bericht die auf Dauer ausgerichtete militärische Nutzung als eklatanten Verstoß gegen bestehendes Recht, wonach nur einzelne militärische Flüge möglich seien.«

»Aber die Flüge gehen weiter, oder?«

»Der FDP-Wirtschaftsminister sagte gegenüber dem Magazin, er habe keine Bedenken gegen die Praxis der Bundeswehr.«

»Wissen Sie etwas darüber, ob die Maschine mit den Kameraden in Leipzig ankommt?«, unterbrach Senz den Redefluss des Mannes.

»Nein. Das wissen wir nicht. Jedenfalls noch nicht. Ich könnte Sie aber verständigen, wenn wir eine solche Information bekommen.«

Jenseits von Deutschland

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